Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.04.2005. Die Zeit interviewt Orhan Pamuk zu einem unaussprechlichen Verbrechen. In der Welt spricht Ian Buruma über Chinas Hass auf Japan. Die NZZ berichtet über die Manipulation von Literaturpreisen in der spanischsprachigen Welt. Die FAZ notiert eine trockene Reaktion der Republik Genf auf den Tod des Papstes.

Zeit, 14.04.2005

Der Schriftsteller Orhan Pamuk wird von türkischen Nationalisten massiv bedroht, seit er in einem Interview mit dem Schweizer Tages-Anzeiger über den Völkermord an den Armeniern gesprochen hat. Im Gespräch mit Jörg Lau äußert sich Pamuk - meist sehr vorsichtig - zur Freiheit in der Türkei und der nachlassenden Europa-Begeisterung: "Es gibt ganz offensichtlich einen Aufschwung nationalistischer Gefühle. Jeder spricht darüber, auch in der Türkei. Dieses Phänomen ist noch schwer zu beurteilen. Macht da eine marginale Gruppe viel Lärm, oder kommt ein breites Unbehagen zum Vorschein? Und hat man ähnliche Entwicklungen nicht auch anderswo beobachten können? Wo sich Länder mit großer Anstrengung an die EU angenähert haben, erblüht auch der Nationalismus. Die Gegner ergreifen ihre letzte Chance und verbreiten Angst: Ihr werdet eure Identität verlieren. Soll man dieses Phänomen nun auf das kollektive Unterbewusste zurückführen oder auf die praktische Cleverness populistischer Politiker? Wie dem auch sei, die Wut über meine Kommentierung der Ereignisse in unserer Vergangenheit zeigt, dass es eine nationalistische Aufwallung gibt."

Weiteres: Nachgedruckt ist Jorge Sempruns Rede von der Gedenkfeier zur Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald, die mit Sempruns Hoffnung schließt, dass neben die Bücher von Primo Levi, Imre Kertesz und David Rousset auch die "Erzählungen aus Kolyma" von Warlam Schalamow gerückt würden: "Das würde bedeuten, dass wir nicht länger halbseitig gelähmt wären." Zu lesen ist außerdem ein Auszug aus dem Kriegstagebuch des Schriftstellers Carl Friedrich Wilhelm Behl, in dem der Schriftsteller scharf mit Hitler und seinem "knechtsseligen" Volk abrechnet.

Thomas Groß rühmt den Dichter Rolf Dieter Brinkmann, dessen akustischer Nachlass nun herausgegeben wird: "kein Mensch, dem man ein politisches Amt anvertrauen möchte. Ein furioser, seiner Zeit weit vorauseilender Wortartist aber, das war er." Der Leiter der nächsten Documenta in Kassel, Roger M. Buergel, kann mit der Ausstellung "Über Schönheit" im Haus der Kulturen der Welt gar nichts anfangen: zu getrimmt der Akademismus, zu konventionell die Assoziation von Schönheit mit weiblicher Nacktkeit und zu "kunstmarktweichgespült" die "Leni-Riefenstahl-Ästhetik" von Shirin Neshat. Thomas E. Schmidt graust es vor der neuen Papstbegeisterung und der "kuschelweichen Spiritualität". Claus Spahn vermutet, dass das "Tollhaus" Scala über den Verlust von Riccardo Muti hinwegkommen wird. Und Hanno Rauterberg schlichtet im Streit zwischen Daniel Libeskind und Peter Eisenman um die geistige Vaterschaft der Gedenkstelen: Die Ehre gebühre keinem von beiden, sondern allein dem italienischen Zeichentrickfilm "Allegro non troppo".

Besprochen werden Stefan Schwieterts Dokumentarfilm "Accordeon Tribe", Lutz Hachmeisters Film "Das Goebbels Experiment", die neue Platte "Deja Voodoo" der Gov't Mules, Claude Chabrols Klassiker "Die untreue Frau", Helen Hessels Version von "Jules und Jim" als Hörbuch und die CD "I am a Bird" von Antony And The Johnsons.

Für den Aufmacher des Literaturteils haben sich die Lyrikerin Sarah Kirsch und die junge Dichterin Marion Poschmann zu einem Gipfelgespräch getroffen. Sehr hübsch, was Kirsch auf die Frage antwortet, wie man eigentlich Dichterin wird: "Ich hatte als Kind im Krieg wenig Spielzeug. Aber meine Mutter hatte eine riesige Knopfsammlung. Da gab es die schönsten Perlmuttknöpfe, ach, das waren Wahnsinnsknöpfe, damit habe ich gespielt. In dieser Sammlung gab es einen Dichterknopf, die Löcher waren die Augen. So hat das angefangen."

Welt, 14.04.2005

Nachdem Ian Buruma uns gestern in der taz den Unterschied zwischen Schuld- und Schamkultur erklärt hat, erzählt er heute in der Welt, warum der chinesische Hass auf Japan Ausdruck einer verpassten Liberalisierung Chinas ist, das noch immer europäischen Nationalismusideen aus dem 19. Jahrhundert und "germanisch-russischem Autoritarismus" verhaftet ist. Die Chinesen definieren ihre nationale Identität heutzutage vor allem in Bezug auf die japanische Aggression, meint Buruma. "Patriotismus dieser Art, der auf einem Gefühl kollektiven Opferseins und der Entschlossenheit basiert, ein herausragender Überlebender unter den Nationen zu sein, hat mittlerweile den Marxismus-Leninismus und das Denken Mao Tse-tungs als offizielle Ideologie der Volksrepublik China abgelöst. Wir werden ohne Zweifel in diesem Gedenkjahr noch mehr davon hören. Chinesische Regierungsvertreter sind äußerst geschickt darin geworden, die japanische Kriegsschuld als Druckmittel in der sino-japanischen Diplomatie zu nutzen."

NZZ, 14.04.2005

Markus Jacob schildert am Beispiel des argentinischen Romanciers Ricardo Piglia, wie in der spanischsprachigen Welt die Vergabe hochdotierter Literaturpreise manipuliert wird. Piglia ist gerade zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er 1997 den Premio Planeta - "mit 600 000 Euro heute wohl die weltweit lukrativste Auszeichnung für ein einzelnes Werk" - auf illegitime Absprache hin gewonnen habe. Kein Einzelfall, meint Jacob, denn "die bekanntesten spanischen Preise werden von Verlagen für unveröffentlichte Manuskripte ausgerichtet, deren Vermarktung sie sich selbst vorbehalten." Der Roman von Piglia hatte übrigens den schönen Titel "Brennender Zaster".

Weitere Artikel: Hubertus Adam beschreibt Rem Koolhaas' Casa da Musica in Porto. Christian Gasser stellt die Blab-Comics vor, denen gerade beim im Rahmen des Comics-Festivals Fumetto eine Ausstellung gewidmet ist. Besprochen werden eine Compilation des britischen Hit-Produzenten Trevor Horn und Bücher, darunter Neil Bissoondaths Roman "Willkommen, Mr. Mackenzie" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).
Stichwörter: Koolhaas, Rem, Porto

FAZ, 14.04.2005

Obwohl selbst inzwischen mehrheitlich katholisch bevölkert, bleibt die Republik Genf, die des Papstes in trockenen zwölf Zeilen gedachte, calvinistisch geprägt, berichtet Jürg Altwegg: "Keine andere Religion ist so sehr von der Aufklärung geprägt worden wie der Calvinismus, in dem auch die sehr laizistischen Vorstellungen von Freiheit und Toleranz, wie sie Rousseau und Voltaire entwickelten, ihren Niederschlag gefunden haben. 'Post Tenebras Lux' lautet die Inschrift auf der 'Mauer der Reformatoren' in Genf." Nun wird in Genf ein Museum der Reformation eröffnet, dessen Leiterin Isabelle Graessle zugleich die erste weibliche Vorsitzende der noch von Calvin begündeten Compagnie des pasteurs ist. Altwegg zitiert sie mit den Worten: "Der westeuropäische Protestantismus wird dem Untergang geweiht sein, wenn sich nicht bald eine Bewegung bemerkbar macht, die mit der Reformation des 16. Jahrhunderts vergleichbar ist."

Weitere Artikel: Gleich zwei FAZ-Kritikerinnen haben sich nach Paris begeben - Verena Lueken besucht die Fassbinder-Ausstellung im Centre Pompidou, Eleonore Büning hat sich in der Pariser Oper das "Tristan-Project" nach Wagner unter Peter Sellars, Bill Viola und Esa-Pekka Salonen vor Augen und Ohren geführt. Richard Kämmerlings berichtet in der Leitglosse über globalisierungskritische Äußerungen Robert Menasses in seiner ersten Frankfurter Poetikvorlesung. Jürgen Kaube unterstellt dem Präsidenten der Humboldt-Universität Jürgen Mlynek, er habe bereits gewusst, dass er zum Chef der Helmholtz-Gemeinschaft gewählt werde, als er sich im Februar zum Präsidenten der Humboldt-Universität wiederwählen ließ. Dieter Bartetzko gratuliert dem Architekturbuch-Verleger Gerd Hatje zum Neunzigsten. Alexander Kosenina resümiert eine Berliner Tagung über Elias Canetti. Edo Reents gratuliert der Country-Sängerin Loretta Lynn zum Siebzigsten.

Auf der Kinoseite berichtet Bert Rebhandl von einer Film-Noir-Retrospektive in Wien, und Hans-Jörg Rother vom Wiesbadener Filmfestival "goEast". Und Peter Körte meldet, dass die Nummer 600 der ehrwürdigen Filmzeitschrift Cahiers du Cinema von Takeshi Kitano gestaltet wurde.

Auf der Medienseite begrüßt Michael Hanfeld einen Tarifabschluss in der ARD, der die künftigen Rentenzahlungen der Öffentlich-Rechtlichen reduziert, so dass ein gewisser Anteil der Gebühren dauerhaft fürs Programm bleibt. Außerdem berichtet Hanfeld über den umstrittenen Sendeplatz am Dienstag nach den Tagesthemen, den Harald Schmidt seiner Kollegin Sandra Maischberger gern abnehmen würde. Stefan Niggemeier schreibt über den Klau von Sendeformaten. Und Nina Rehfeld findet die neue Kojak-Serie mit Ving Rhames zu cool, um wirklich cool zu sein und empfiehlt statt dessen die ABC-Serie "Eyes" (kurz für "privat eyes", Privatdetektve).

Auf der letzten Seite schreibt Helmut Klemm über die abnehmende symbolische Aufladung des Rauchens und belegt es mit dem Plakat zur Pariser Sartre-Ausstellung, auf dem dem Philosophen die Zigarette wegretuschiert wurde. Oliver Tolmein liest Frankreichs neues Gesetz zur Sterbehilfe. Und Katharina Iskandar würdigt den Suhrkamp-Lektor Volker Michels, der die 20-bändige Hermann-Hesse-Ausgabe abgeschlossen hat.

Besprochen werden eine Ausstellung über den historischen Wien-Besuch der Kennedys und der Chruschtschows im Jahre 1961 in Wien und eine Ausstellung mit Goethes Sammlung französischer Meisterzeichnungen in Weimar.

FR, 14.04.2005

Der Journalist Robin Detje ist so unzufrieden mit den Qualitätszeitungen, dass er einen eigenen Verlag gründen will (mehr hier). Erstes Produkt wird die Zeitschrift Abstand sein. Auf der Medienseite erklärt er im Interview, was ihn so wütend macht: "Was ist eigentlich aus dem Gedanken geworden, dass man sein Geld auch ehrlich verdienen könnte? Focus setzt das eBay-Logo aufs Cover. Wieviel Geld ist da geflossen? Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hat kürzlich auf der ersten Seite auf eine Riesenrezension eines sicher ganz interessanten Buchs über Hitlers Bombe hingewiesen. Auf der ersten Seite! Auf ein Buch! Da stand, das Buch sei ernstzunehmen. Erschienen im hauseigenen Verlag, DVA. Neulich auf der ersten Seite des Tagesspiegel in einem großen, bunten Kasten, ich zitiere aus dem Kopf: 'Wie die Fernsehserie Berlin, Berlin das Bild der Hauptstadt prägt.' Eine starke redaktionelle Behauptung: Fernsehserie prägt Hauptstadtbild! Das erwies sich dann als Zitat aus einem Interview mit dem Drehbuchautor, der seine Arbeit vermarktet. Das ist kostenloser Werbeplatz auf Seite Eins, als Journalismus verkleidet. Diese Blätter wollten alle mal seriös sein. Aber die redaktionelle Arbeit findet nicht mehr in Strukturen statt, in denen sie ihre Integrität behaupten könnte. Das wird nicht mehr gewollt."

Kultur: In der Pariser Bastille-Oper hatte Wagners "Tristan und Isolde" Premiere. Inszeniert wurde sie von Peter Sellars, dirigiert von Eka-Pekka Salonen, das Bühnenbild stammt von Bill Viola - klingt vielsprechend, doch die Sache scheiterte "auf fade Weise", schreibt Hans-Klaus Jungheinrich. Salonen lieferte einen "gekonnten, aber suppigen Musikstrom", kein Drama nirgends. Und dann erst das Bühnenbild! Ein Video, für das Viola ein "zusätzliches Filmpaar" erfand. "Am schlimmsten - und da lässt sich das Wort Kitschorgie nicht mehr vermeiden - die Illustration des finalen Isolde-Liebestodes. Der rückwärts (also nach oben) schießende Wasserfall schien hier zunächst ein glücklicher Metaphernfund. Gründlich verdorben wurde das durch eine sich geisterhaft von ihrem Lager erhebende und aufflatternde Leiche, schließlich noch in einer 'schwerelosen' Beschaffenheit, die eher an das Hochgezogenwerden einer gehenkten Gestalt gemahnte. Brrr."

"Das einzig experimentelle daran ist das Kalkül", schimpft Daniel Kothenschulte über Lutz Hachmeisters Film "Das Goebbels-Experiment". "Wo ein Markt für einen fiktionalisierten Hitler besteht, darf ein noch so flüchtig gemachtes Goebbels-Porträt auf etwas Zulauf hoffen. Wie viel Brosamen abfallen, das allein ist das Goebbels-Experiment."

Weitere Artikel: Ralf-Rainer Rygulla erzählt in einem langen Interview von seinen Freund, dem Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann (mehr hier), der am Samstag sechzig Jahre alt geworden wäre. Ina Hartwig schreibt einen Nachruf auf die Radikalfeministin Andrea Dworkin. In der Kolumne Times Mager beschäftigt sich Harry Nutt mit der Mode der Veröffentlichung von "Mixed Tapes" unter besonderer Berücksichtigung der I-Pod-Mischung von George W. Bush, deren Playlist die New York Times jetzt veröffentlicht hat.

Besprochen werden Konstanze Lauterbachs Inszenierung von Paul Dukas' einziger Oper "Ariane et Barbe-Bleue" in Bremen, eine Ausstellung mit Bildern des afrikanischen Malers Cheri Samba im Kunstverein Braunschweig, Todd Solondzs Film "Palindrome" und Marcel Schwierins Filmessay über die Ästhetik des Nazifilms "Ewige Schönheit" (den Daniel Kothenschulte fatal und mythenzementierend findet).

TAZ, 14.04.2005

"Ich glaube, dass es Risikopotenziale gibt, die sehr viel mit der Vergangenheit zu tun haben", sagt Jan Philipp Reemtsma in einem Interview auf den Tagesthemenseiten über die deutsche Erinnerungskultur und nationalsozialistische Mentalitätsreste. "Das ist das, was Adorno mit sekundärem Antisemitismus meint. Einen Antisemitismus, der darauf beruht, dass die Juden uns zwingen, uns immer mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Der Applaus, den Martin Walser für seine Paulskirchenrede bekommen hat, beruht auf genau diesem Effekt. Dass es neben dem in Europa nach wie vor virulenten Antisemitismus einen spezifisch deutschen reaktiven Antisemitismus als Potenzial, als Code gibt. Das ist in dem Sinne ein Erbe, wenn Sie so wollen - besser vielleicht: die fatale Aneignung eines Erbes."

Hrant Dink, Chefredakteur von Agos, dem einzigen armenisch- und türkischsprachigen Magazin in der Türkei, hält nicht viel von dem Antrag der CDU, im Bundestag den Völkermord an den Armeniern zu verurteilen. "Es ist wichtiger, wenn ein einziger Türke die Geschichte versteht, als dass das deutsche Parlament Beschlüsse fasst. Für mich ist Frau Merkels Antrag zudem nicht glaubwürdig. Vor zehn oder zwanzig Jahren hätte ich ihn vielleicht als eine Aktion für Menschenrechte oder Demokratie verstanden. Heute kann ich das nicht mehr. Denn die CDU-Vorsitzende bedient sich dieser Frage, um die Mitgliedschaft der Türkei in der EU zu verhindern. Das kann ich als Armenier nicht akzeptieren. Darunter leide ich heute am meisten: Die Katastrophe des Jahres 1915 wird zu einem politischen Triumph gemacht", erklärt er im Interview auf der Meinungsseite.

Im Kulturteil berichtet Sebastian Moll von einer Kontroverse über das "Institut für nahöstliche Sprachen und Kulturen" an der New Yorker Columbia-Universität. Gestritten wird über die Frage, ob dessen israel-kritische Haltung antisemitische Züge hat oder eine dagegen gerichtete Kampagne nur das Ziel hat, die Lehrfreiheit zu beschneiden.

Besprochen werden Todd Solondz' neuer Film "Palindrome", das Langfilmdebüt des in israelischen Palästinensers Tawfik Abu Wael "Atash" ("Staub"), Floria Schwarz' Debütfilm "Katze im Sack" und Adam Shankmans Film "Der Babynator".

Schließlich Tom.

Tagesspiegel, 14.04.2005

Christiane Peitz denkt anhand dreier neuer Dokumentarfilme zu Nazithemen über die neue Welle der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland nach: "Die Nation, so möchte man meinen, liegt auf der Couch, fördert Verschüttetes zutage wie nie zuvor. Was auch daran liegt, dass die dritte Generation und die in die Jahre gekommene zweite weniger Hemmungen vor solchen Nachforschungen hat."

SZ, 14.04.2005

Tobias Kniebe stellt ein "erstaunliches" Debüt vor: Florian Schwarz' Film "Katze im Sack": "Der größte Moment dieses Films ist kurz, nur ein paar Sekunden lang, und wer an der falschen Stelle blinzelt hat ihn schon verpasst. Ein junger Drifter mit mysteriöser Vergangenheit (Christoph Bach) schließt eine Wette mit einer eher spröden Barfrau (Jule Böwe) ab - sie hinter dem Tresen ihrer Karaokebar, er davor. Eigentlich sind diese beiden füreinander bestimmt, das ahnt man in diesem Moment schon längst, aber sie reden noch wortkarg darum herum. Auch die Wette ist eigentlich großer Unsinn: Sie handelt davon, dass der Drifter ein beliebiges anderes Mädchen aus der Bar abschleppen muss, damit die Barfrau am nächsten Morgen mit ihm frühstücken geht. Christoph Bach macht sich also auf, dieses andere Mädchen zu finden, aber bevor er sich abwendet, tauschen die beiden noch einen Blick und eine Geste aus, und dieser Blick und diese Geste gehören zum Spannendsten, was man zur Zeit im deutschen Kino sehen kann."

Weitere Artikel: Holger Liebs feiert im Aufmacher die "grandioseste Wahlkabine der Welt", Michelangelos Sixtinische Kapelle gefeiert, in der sich ab kommenden Montag die Kurienkardinäle zum Konklave versammeln, um einen neuen Papst zu wählen. Lothar Müller würdigt die Institution Archiv als passiven Schauplatz der Erinnerung, philosophiert über Archivstaub und Schriftstellernachlässe und präsentiert schließlich einen Beweis, dass Ingeborg Bachmann eine Affäre mit dem Philosophen Jacob Taubes hatte. Franz Dobler gratuliert der Countrysängerin Loretta Lynn zum siebzigsten Geburtstag. Alexander Kissler macht sich Sorgen, dass die Kirche wegen Überregulierung ihren Aufbruch versäumt. Susan Vahabzadeh übermittelt wie jeden Donnerstag neueste Nachrichten aus der Welt der Filmproduktion - zum Beispiel, dass Mel Gibson aktuell an einem Papstfilm arbeitet. Auf der Medienseite schreibt Hans-Jürgen Jakobs, warum Rolf Schmidt-Holtz beste Chancen hat, neuer Bertelsmann-Vorstand zu werden.

Besprochen werden Peter Sellars Inszenierung von "Tristan und Isolde" an der Pariser Bastille-Oper ("Die soghaft verzaubernde Kraft dieser Inszenierung geht von Dirigent Esa-Pekka Salonen aus", schreibt Reinhard J. Brembeck im Begeisterungstaumel), George C. Wolfs Inszenierung von Neil LaButes neuem Stück "This Is How It Goes" in New York, Lutz Hachmeisters Film "Das Goebbels-Experiment", Todd Solondzs Film "Palindrome" ("Was für ein waghalsiger Mix aus Naivität, bizarrem Witz, spielerischem Raffinement", staunt Rainer Gansera), Thomas Carters Basketball-Film "Coach Carter" und Bücher, darunter Alberto Savinos "Mein Privates Lexikon" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages)