Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.04.2005. In der Welt beschreibt Zafer Senocak einen neu erwachenden Nationalismus in der Türkei. In der Berliner Zeitung kritisiert die Autorin Tanja Dückers den Opferdiskurs der Kriegskindergeneration. Die taz freut sich über die Wiederentdeckung des Fotografen Martin Munkacsi. Die FAZ beklagt Europas "geteilte Erinnerung". Die SZ möchte den Jungkonservativen Uwe Tellkamp und Christian Kracht die Krawatten lockern.

TAZ, 19.04.2005

Als "fotohistorische Tat mit internationaler Gültigkeit" lobt Brigitte Werneburg die Auftaktausstellung im neugegründeten Haus der Photographie in den Hamburger Deichtorhallen. Gezeigt werden Arbeiten von Martin Munkacsi, der einmal "Vorbild für Henri Cartier-Bresson" gewesen sei, danach aber "rätselhafterweise" in Vergessenheit geraten war. Munkacsi hatte in den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts in deutschen und ungarischen Zeitungen veröffentlicht und danach in Amerika Erfolge gefeiert. "Als Martin Munkacsi 1930 für die Berliner Illustrirte Zeitung nach Liberia reiste, brachte er aus Afrika ein Aufsehen erregendes Bild mit, das als Ikone gelten kann. Es zeigt in der Rückenansicht drei Jungs, die in die Gischt der Wellen des Tanganjikasees springen: 'Ich muss es sagen: Es war diese Fotografie, die für mich der Funke war, der das Feuerwerk abbrennen ließ ? Plötzlich begriff ich, dass es der Fotografie möglich ist, die Ewigkeit zu erreichen - durch den Moment. Es ist die einzige Fotografie, die mich beeinflusst hat. In diesem Bild ist eine solche Intensität, eine solche Lebensfreude, ein solches Wunder, dass ich noch heute von ihm fasziniert bin', mit diesen Worten bekannte Henri Cartier-Bresson, wie sehr er in der Schuld von Munkacsi stand."

Weiteres: In einem luziden Beitrag zur Kolumne Sozialkunde erklärt Dirk Baecker, inwiefern der Soziologe eigentlich immer schon ein Ökologe sei: "Er beobachtet Menschen und Institutionen, Systeme und Netzwerke in ihren Nischen, bewundert, wie sie sich ihre Welt konstruieren, und weist darauf hin, wie prekär die Balance ist, die jeder Beobachter für sich findet."

Tobias Rapp porträtiert die Sängerin M.I.A., die als neue britische "Diskurspopsensation" gefeiert wird. Jan-Hendrik Wulf resümiert eine Tagung über die "Offenen Wunden" von Nazismus und Kommunismus im Potsdamer Einstein-Forum.

Schließlich Tom.

FAZ, 19.04.2005

Regina Mönch greift eine Debatte auf, die trotz des sechzigsten Jahrestags des Kriegsendes bisher nur untergründig rumort: "Europas geteilte Erinnerung": "Es geht nicht um Vergleiche oder Gleichsetzungen. Es geht darum, dass wir zuwenig voneinander wissen. Wobei das 'Wir' so nicht stimmt, denn nur die westliche, zumal die deutsche (hier die ostdeutsche eingeschlosse) Öffentlichkeit weiß entschieden zuwenig über die Vorgänge in Ost- und Mitteleuropa, als dort der 'Eiserne Vorhang' niederging. Der hohe Preis des Friedens, der den Osten dem Einfluss einer barbarischen Diktatur zuschlug, auf dass der verwüstete Westen in Freiheit und Demokratie wiederauferstehe, ist keinesfalls Gemeingut." Wir verweisen hier noch mal auf den Essay "So viele Kriege wie Nationen", den Adam Krzeminski auf Deutsch im Perlentaucher veröffentlichte.

Weitere Artikel: Im Aufmacher mokiert sich der "Glückliche Arbeitslose" Guillaume Paoli milde über die stets fehlgehenden Prognosen von Wirtschaftsinstituten und die Ansicht, Arbeitsplätze seien das höchste moralische Gut. Rose-Maria Gropp meldet, dass die Familie der Welfen das Familiensilber versteigern wird, um den Ertrag in eine Familienstiftung einzubringen. Jürgen Kaube kommentiert die Verurteilung Manfred Kanthers wegen Untreue. Paul Ingendaay macht sich nach den Regionalwahlen im Baskenland Gedanken über die Frage, wie die demokratische Mehrheit mit dem Drittel des Basken umgehen soll, die immer noch eine Abspaltung wünschen. Klaus Ungerer hat Redakteure der Titanic beobachtet, die sich in Kreuzberg als satirische "Partei" für den Wahlkampf rüsteten. Martin Mulsow schreibt zum Tod des Ideenhistorikers Richard H. Popkin.

Auf der Medienseite schreibt Michael Hanfeld über den Prozess gegen den Regierungssprecher Anda, unter dessen Ägide unliebsame Fotos vom Bundeskanzler verschwanden. Jürg Altwegg berichtet, wie Bertelsmann sein Medienimperium in Frankreich durch den Kauf einer Buchhandelskette vergrößert. Und Robert von Lucius beschreibt die aggressive Internetstrategie der Gratiszeitungsgruppe Metro.

Auf der letzten Seite liefert Zhou Derong historischen Hintergrund zu den aktuellen Auseinandersetzungen zwischen China und Japan. Christian Welzbacher zitiert den internationalen Schadensbericht der Denkmalschutzorganisation Icomos, aus dem hervorgeht, dass auch in Europa immer mehr Denkmale verfallen. Und Wolfgang Sandner schildert den Medienrummel um die Sopranistin Anna Netrebko.

Besprochen werden eine Ausstellung über das Werk des Architekten Dominikus Böhm in Frankfurt, die Ausstellung zum Thema Schönheit im Berliner Haus der Kulturen der Welt, ein Auftritt der Gruppe Fettes Brot, Anna Badoras Inszenierung von Tschechows "Kirschgarten" in Düsseldorf und Hans-Werner Henzes Oper "Die Bassariden" in Paris.

FR, 19.04.2005

Im Aufmacher stellt Christian Thomes die Ausstellung "Raum ist Sehnsucht" über den Kirchenbaumeister Dominikus Böhm (1880-1955) im Deutschen Architektur Museum Frankfurt vor. Darin werde gezeigt, wie ein "Katholik das Licht lenkt": "Er streute es , ließ es versickern oder schüttete es aus."

In der Kolumne "Kapitalismus und Kritik" beatmet Harry Nutt noch einmal den Kapitalismusbegriff und analysiert Franz Münteferings Metapher von den "Heuschreckenschwärmen". Und in Times mager bekrittelt Gunnar Lützow Fragen der Sauberkeit per staatlicher Lufthoheit.

Besprochen werden die Inszenierung von Gogols "Revisor" durch Volker Lösch im Staatsschauspiel Stuttgart und Schillers "Don Carlos" (hier) als "überzeugende Erzählung von der Deformation durch Politik" von Wilfried Minks in Hannover, eine Schau mit Arbeiten von Martha Rosler im Sprengel Museum Hannover, mehrere CDs, auf denen ausdrücklich "junge" Musiker Jazz spielen, und die Napoleon-Biografie von Johannes Willms (siehe dazu unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

NZZ, 19.04.2005

Sehr anregend fand Sieglinde Geisel die Konferenz "Offene Wunden" des Potsdamer Einstein-Forums, die mit Tony Judt, Eric Hobsbawm, Timothy Snyder und Karl Schlögel hochkarätig besetzt war. Drei Tage lang wurden Nationalsozialismus und Stalinismus verglichen, auch wenn alle ihre Bedenken bekundeten: "Eric Hobsbawm sah in der Vergleichsdiskussion ein 'Relikt des Schwarzweißdenkens des 20. Jahrhunderts'. Er habe kein Problem damit, die beiden Systeme zu vergleichen, ließ der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel wissen, doch lasse sich mit Vergleichen die Geschichte nicht erklären. Viel ergiebiger sei es, die Geschichte der Ostblockländer 'vom Kopf auf die Füße' zu stellen und etwa endlich die Biografien jener Menschen zu erforschen, die den Machtapparat geschaffen und betrieben hätten."

Für ein nicht ganz geglücktes, aber trotzdem "mitreißendes stilistisches Bravourstück aus Selbstironie und Sprachwitz" hält Beatrix Langner Gila Lustigers jüdischen Familienroman "So sind wir". Außerdem besprochen werden Antje Ravic Strubels Roman "Tupolew 134", Werner Fritschs Legendenerzählung "Nico" und Studien zum Verhältnis von Krieg und Menschenrechten (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Welt, 19.04.2005

Die türkischen Nationalisten, die ihr Land nicht der EU überlassen wollen, sammeln sich zu einem letzten Gefecht, berichtet der Autor Zafer Senocak (hier ein ergiebiges Interview), und sie könnten es sogar gewinnen. Denn die Liberalen sind schlecht organisiert. Wer sich wie der Kollege Orhan Pamuk, der den Völkermord an den Armeniern Völkermord genannt hat, zu weit aus dem Fenster lehnt, kämpft allein. "Der Türkei fehlt eine geistige Elite, die ein Gegengewicht gegenüber der demagogischen Aufwiegelung der Massen darstellen könnte. Es gibt nichts, was man vergleichen könnte mit dem Widerstand der Intellektuellen in Osteuropa, der sich seinerzeit unter der kommunistischen Herrschaft gebildet hatte. Es sind vor allem einzelne Stimmen, die sich kritisch äußern, ungebündelt und somit auch ohne spürbare Wirkung. Wenn die Türkei wirklich europäisch werden will, müsste sich aber eine solche geistige Elite bilden, die sich Gehör verschaffen kann. Doch nicht wenige Autoren scheinen selbst vom Bazillus des Nationalismus infiziert zu sein."

Berliner Zeitung, 19.04.2005

In Frankfurt trafen sich Angehörige der "Kriegskindergeneration", um sich über ihre Erlebnisse auszutauschen. Der Kongress wurde organisiert vom Sigmund-Freud-Institut, dem Fritz-Bauer-Institut und dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen. Die Schriftstellerin Tanja Dückers (mehr hier) folgte der Veranstaltung mit Skepsis: "Der neue Opferdiskurs scheint hier wirklich eine individual- und familientherapeutische und somit verdienstvolle Note zu haben. Aber als Politikum ist dieser Diskurs 'nicht ohne', denn nolens volens liefert er antidemokratisch Gesinnten Argumente und - das Lieblingswort auf diesem Kongress: Gefühle."

SZ, 19.04.2005

In einem Essay analysiert Julia Encke unter der Überschrift "Es herrenmenschelt" amüsiert-besorgt die "Beschwörung des Konservativen" durch junge deutsche Autoren. Bei Alexander von Schönburg, Christian Kracht, Ulf Poschardt oder Bachmann-Preisträger Uwe Tellkamp sieht sie "die Wiedergeburt des Dandys aus der ökonomischen Krise", Distinktionsbemühungen gegenüber der verhassten Masse des Kleinbürgertums oder pures Ressentiment. "Der Schnösel ist also zurück. Sein Rettungsanker: die Krawatte. Zum Lachen ist das schon, dass in Krisenzeiten der deutschen Halbjugend der Sinn recht grundsätzlich nach Stehkragen und Reaktion steht. Aber die Bübchen, die vom großen Aufräumen träumen und die verlotterte Mittelmaßrepublik von rechts aufrollen wollen, werden sicher keine neokonservative Revolution anzetteln. Macht euch lieber mal wieder locker, Jungs!"

Laura Weissmüller untersucht die Anziehungskraft von Berlin für junge "Arbeitsnomaden" vor allem aus Skandinavien. In Berlin sind die Mieten - im Vergleich mit anderen Hauptstädten - billig. Arbeit und Aufträge kommen aus dem Ausland. Allerdings kann die Stadt nach einer Weile auch zum Problem werden: "Die große Konkurrenz und die wenigen Jobs, die sich die etablierten Agenturen teilen, fordern einen langen Atem und viel Geduld, wenn die Reiselust abnimmt und die Pendler sich endgültig niederlassen wollen. 'Einerseits bringt das fehlende Geld all die Möglichkeiten und Initiativen hervor, andererseits entsteht dadurch auch eine depressive Seite. Die Wirtschaft nimmt kreative Ergebnisse nicht auf'", klagt der norwegische Grafikdesigner Anders Hofgaard.

Weitere Artikel: Stefan Koldehoff weiß vom Verkauf zweier Gemälde von Monet und Sisley aus der Sammlung Schäfer in Schweinfurt. Andrian Kreye freut sich über die Erhaltung einiger historischer Räume im New Yorker Plaza Hotel, darunter die legendäre Oak Bar, die dank Protesten auch nach dem Umbau erhalten bleiben sollen. Roswitha Budeus-Budde berichtet von der Kinderbuchmesse in Bologna. zri kommentiert die Abrissmanie in Moskau, die historische Denkmäler zuerst schleift, um sie danach möglichst originalgetreu, aber modernisiert wieder aufzubauen. Und in der Zwischenzeit gilt Hermann Unterstögers Sprachkritik heute unter anderem dem "Plastikwort offensiv" ("Rein defensiv hätte man ihm eine reinsemmeln mögen"). Gemeldet wird schließlich, dass es Oxforder Wissenschaftlern gelungen ist, Papyrusdokumente mit verloren geglaubten antiken Schriften von Euripides, Hesiod oder Sophokles zu entschlüsseln.

Johan Schloemann erzählt mit einer beinahe die ganze Literaturseite füllenden Begeisterung von seinem Besuch in der Heidelberger Melanchthon-Forschungsstelle, deren Mitarbeiter gerade den sechsten Textband der Brief-Edition mit der Korrespondenz Philipp Melanchthons veröffentlicht haben.

Besprochen werden eine große Ausstellung über die Nazarener in der Frankfurter Schirn Kunsthalle, Stephan Rottkamps Inszenierung von Kleists "Käthchen von Heilbronn" in Bochum, eine Münchner Ausstellung zur "weiblichen Avantgarde" in der Architektur der zwanziger Jahre in der Pinakothek der Moderne, vier Choreografien des Balletttheaters München, Douglas Wolfspergers Dokumentarfilm "Die Blutritter", der chilenische Kinderfilm "Machuca" und ein Sonderkonzert der Münchner musica viva mit Werken von Furrer, Hirsch, Barret und Schnebel sowie ein Buch, nämlich der neue Roman von Karen Duve "Die entführte Prinzessin" (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).