Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.04.2005. Die NZZ feiert den neuen Arthouse-Popstar Apichatpong Weerasethakul. Für die taz besuchte Gabriele Goettle das "Weglauf-Haus" in Berlin. Ansonsten alles Theater: Die FR bewundert Lars-Ole Walburgs boulevardesk gutgeölten "Hamlet", für die SZ kommt die Inszenierung allerdings zwei Jahre zu spät. Die FAZ staunt über das kleine Wunder der Saison: Michael Thalheimers Inszenierung von Eugene O'Neills "Eines langen Tages Reise in die Nacht".

NZZ, 25.04.2005

Andreas Maurer berichtet begeistert vom Dokumentarfilmfestival visions du reel in Nyon: "Die wunderlichste Vision von Nyon 2005 war das Oeuvre des Thailänders Apichatpong Weerasethakul, dessen schillernde, sich extrem langsam entwickelnde Filme das Publikum nicht in die Flucht schlugen, sondern in ihren Bann. Weeraseth . . . - dieses unaussprechliche Talent ist der erstrahlende Arthouse-Popstar. Kann etwa Tarantinos Filmografie einen mit der Handy- Kamera gedrehten Experimentalfilm, einen Titel wie '0116643225059' und obendrein einen sprechenden (untertitelten) Affen vorweisen?"

Mit Skepsis blickt Udo Steinbach, Direktor des Deutschen Orient-Instituts in Hamburg, auf die unterschiedlichen Konzepte des Euro-Islams, wie sie etwa Bassam Tibi oder Tariq Ramadan formuliert haben: "Wenn Tibi in einem breiten nichtmuslimischen gesellschaftlichen Umfeld Zustimmung erfährt, dann ist dies genau der Grund für eine verbreitete Skepsis unter zahlreichen Muslimen. Ein verdünnter Islam, dessen vornehmste Anforderung die Unterordnung unter ein westliches Wertesystem ist, erscheint als religiös belanglos; Ramadans dynamische Selbstvergewisserung als europäischer Muslim hinwiederum erscheint eher als Aktionsprogramm denn als theologische Lösung für religiöse Herausforderungen. So ruft das Stichwort 'Euro-Islam' bei einer Mehrheit unter den Muslimen irritierte Assoziationen herauf. Sie bevorzugen eine pragmatische 'Anpassung an die europäische Lebensweise, ohne die Grundsätze des Islam aufgeben zu müssen'."

In einem interessanten Hintergrund-Text geht Indien-Korrespondent Bernhard Imhasly der Frage nach, wie sich die Gewalt im Land der Gewaltlosigkeit erklären lässt. "Politische Morde, Bandenkriege zwischen Landbesitzern und Landlosen, Lynchjustiz von Dorfgemeinschaften gegen junge Leute, die sich über Kastengrenzen hinweg liieren, religionspolitische Unruhen wie die Pogrome von Gujarat im Jahr 2002 - all dies gehört zum Alltag in Indien, von der strukturellen Gewalt des Hungers nicht zu reden. Dennoch ist die Auffassung, dass Inder einen angeborenen Zug zur Gewaltlosigkeit haben, einer der dauerhaftesten Mythen über das Land."

Einen zähen Abend hat Barbara Villiger Heilig mit Robert Hunger-Bühlers Inszenierung von Iwan Gontscharows "Oblomow" im Schauspielhaus Zürich erlebt, woran offenbar auch Peter Zumthors Bühnenbild nichts ändern konnte. Und Paul Jandl rekapituliert eine Wiener Tagung zur Bildwissenschaft.

SZ, 25.04.2005

Einen Hamlet im Geiste von Attac hat Christine Dössel an den Kammerspielen in München gesehen. Lars-Ole Walburg mangelt es zwar nicht an zündenden Einfällen, doch die ganze Bilderflut kommt ein bißchen spät, findet sie. "Als Reaktion auf den 11. September wäre Walburgs Inszenierung vor zwei Jahren vielleicht noch radikal gewesen, jetzt läuft sie der allgemeinen Bush-Kritik samt den vielfach zitierten Verschwörungstheorien nur hechelnd hinterher. Walburg rennt so viele offene Türen ein, dass er nirgends mehr aneckt und sich statt einer blutigen Nase nur den Beifall für einen Don Quijote holt, der gegen Windmühlen kämpft."

Henning Klüver beobachtet, wie die italienische Rechte in der Auseinandersetzung um den 25. April, als Tag der Befreiung vom Faschismus gefeiert, das historische Selbstverständnis des Landes nach 1945 verändern will. "Der Versuch der Berlusconi-Regierung, in großer Hast eine neue Verfassung zu schaffen, in der Italiens Selbstbewusstsein nicht mehr auf dem Geist des Widerstandes gründet, wird mit einer Propagandakampagne begleitet, in der Faschismus und Antifaschismus auf eine Ebene gehoben werden." Aus anderer Perspektive hat Gabriela Vitiello darüber in einer Post aus Neapel an den Perlentaucher berichtet.

Weitere Artikel: Die antiliberalen Klischees, denen Franz Müntefering zu Aufmerksamkeit verholfen hat, sind keine Antwort auf die Herausforderungen des schrankenlosen Marktes, tadelt Wirtschaftsredakteur Nikolaus Piper im Leitartikel des Feuilletons. Niemand regt sich in Israel über den bald anlaufenden Hitler-Streifen "Der Untergang" auf, informiert Moshe Zimmermann. In den vergangenen Jahren sei der Holocaust weitgehend enttabuisiert worden. Ingo Petz porträtiert den weißrusssichen Oppositionellen Andrej Klimow, der für Weissrussland ungewöhnlich laut gegen Lukaschenko polemisiert. Seit Freitag ist er in Haft. Till Briegleb schildert, wie sich Hamburg mit riesigen, riskanten Bauprojekten als Weltstadt positionieren will - als typisches Beispiel nennt er die Elbphilharmonie von Herzog & de Meuron sowie die Living Bridge von Bothe Richter Teherani. Fritz Göttler schreibt zum Tod von John Mills, "dem britischsten aller Schauspieler".

Im Medienteil resümiert Hans Leyendecker knapp, wie zwei Regionalzeitungen die Visa-Affäre ins Rollen brachten. Klaus Ott weiß von Plänen des DSF, selbst ins Wettgeschäft der Fußball-Bundesliga einzusteigen, mit Konzessionen aus der DDR.

Auf der Literaturseite druckt die SZ Teile der Dankesrede (hier gibt es alles) der Schriftstellerin Slavenka Drakulic beim Empfang des Leipziger Buchpreises zur europäischen Verständigung 2005 ab. Die Kroatin erzählt, warum sie trotz des frühen Interesses für die Deutschen die Sprache nie gelernt hat. "Um ehrlich zu sein, weder die Lesebücher, in denen 'unbewaffnete Partisanen' Panzer 'des zahlenmäßig um ein Vielfaches überlegenen Feindes' stürmten, noch die Filme, in denen ausländische Schauspieler - meist Curd Jürgens und Hardy Krüger - deutsche Offiziere spielten, ließen die Möglichkeit zu, diese Sprache zu wählen. Nur wenige Schüler in meiner Klasse wollten Deutsch lernen. Englisch war damals nicht nur die Sprache der Alliierten und der Sieger, sondern auch die Sprache der UNRWA-Pakete, an die wir uns gut erinnern konnten: Konserven mit Margarine, mit gelbem Käse, Eipulver und Milchpulver. Aber auch die russische und die französische Sprache hatten keinen besseren Stand, obwohl beide Völker gegen die Deutschen gekämpft hatten. Unsere Klassenlehrerin sah keinen anderen Ausweg, als die Klasse in vier Gruppen aufzuteilen. Diejenigen, die links vom Pult saßen, mussten Deutsch und Französisch lernen, und jene rechts Englisch und Russisch. Ich hatte Glück, ich saß rechts."

Besprochen werden eine Ausstellung über den Namenspatron im Schiller-Nationalmuseum in Marbach, Robert Hunger-Bühlers "Oblomow"-Inszenierung am Schauspielhaus Zürich ("Nostalgischer Realismus ohne Ironie oder Zitate geht heute wirklich nur noch in sehr konservativen Opernhäusern", kommentiert fast bewundernd Simone Meier.), eine Aufführung von Richard Strauss' "Salome" unter der musikalischen Leitung von Gabriele Ferro im Teatro Massimo in Palermo, der von Kurt Bayertz herausgegebene Sammelband über die "Die menschliche Natur" und ihre Veränderlichkeit (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 25.04.2005

Diesmal besucht Gabriele Goettle das Weglauf-Haus in Berlin, in dem Patienten Zuflucht vor der Psychatrie finden. Die Villa am Stadtrand ist die einzige Einrichtung dieser Art in Deutschland, die Stimmung ist leger. "Die Mitarbeiterin hat Probleme mit dem Computer, gibt das Vorhaben auf und geht unverrichteter Dinge. Durch die offene Tür kommt kurz darauf eine Bewohnerin, sie ist barfuß und gut gelaunt, sucht die Mitarbeiterin und hat zwei Kannen Kaffee bei sich. 'Habt ihr überhaupt noch Kaffee?!', fragt sie, und als wir in unsere leeren Tassen blicken, schenkt sie energisch ein. Olivia kommt zurück. Die Bewohnerin füllt auch Olivias Tasse und sagt: 'Sie hat ein bisschen Angst vor euch, hat sie oben gesagt, ihr seid ein bisschen rigoros mit euren Fragen!' Olivia protestiert: 'Ich habe das so nicht gesagt, ich habe gesagt 'anstrengend' ?' Die Bewohnerin lächelt fein, empfiehlt, das Fenster zu öffnen, die Luft sei verbraucht, und geht."

Robin Alexander kommentiert Friedrich Christian Flicks verspätete 5-Millionen-Spende an die Zwangsarbeiter-Stiftung. Rene Martens glaubt an eine Renaissance der Vinyl-Single. Stefan Kuzmany beschreibt stellvertretend, wie ein Porsche die ganze taz-Redaktion korrumpieren konnte. Andrej Reisin verrät, dass das Berliner HipHop-Label Aggro mit sexistischen und nationalistischen Tönen noch einmal Kasse zu machen versucht. Und in den Tagesthemen unterhält sich Georg Löwisch voller Bewunderung mit dem Cellisten Thomas Beckmann, der sich in Düsseldorf für Obdachlose engagiert.

Und Tom.

FR, 25.04.2005

Was Hamlet nun mit Bush/WTC/Irak/Ruanda zu tun hat, weiß Michael Skasa auch nach Lars-Ole Walburgs Inszenierung an den Münchner Kammerspielen nicht. Aber "vom verqueren Unterfutter abgesehen, war dieser Hamlet ein vorzüglich funktionierendes Stück Theater mit glänzenden Schauspielern. Ein Gesellschaftsdrama, bei dem die Funken stoben und die spielerischen Witze knallten. Radikal und trefflich eingestrichen und dafür in vielen Winkeln um Seitenbemerkungen ergänzt, frisch neu in Verse übersetzt von Wolfgang Swaczynna, die freilich Walburg nach Belieben entbeinte und mit Plauderanfällen ins boulevardesk Gutgeölte beschleunigte."

Dieter Rulff sinniert über den sinkenden Stern Joschka Fischers und den rot-grünen Regierungsstil zwischen "Vollmundigkeit und Askese". Harry nutt nutzt Times mager, um Jürgen Rüttgers für dessen katholische Überlegenheitsfantasien zu rügen. Auf der Medienseite berichtet Nina Schulz von der kanadischen Medienguerilla Adbusters, die in der kommenden "Turnoff-Week" mit Universalfernbedienungen möglichst viele TV-Geräte ausschalten wollen. Dietmar Ostermann wundert sich angesichts "Revelations" (mehr), wie groß das Interesse der Amerikaner für endzeitliche Fernsehserien doch ist. Peter Michalzik verspottet schließlich Anselm Webers Fassung von Ibsens "Wildente" in Frankfurt als "Nachhilfetheater mit hohem Langeweilefaktor".

FAZ, 25.04.2005

Gerhard Stadelmaier, als Doyen konservativer Theaterkritik bisher kein Freund des Klassisches gerne in Trümmer legenden Regisseurs, feiert Michael Thalheimer. Und zwar für seine Inszenierung von Eugene O'Neills "Eines langen Tages Reise in die Nacht" im Hamburger Thalia Theater. Das Stück mag Stadelmaier eigentlich nicht: "Eine theatralische Schüttellähmung, die über den, der sie sich vom Herzen schrieb, kaum hinauskommt: Sie gehört ganz und gar dem Dramatiker. Nicht der Welt. Zwischen ihr und dem Dramatiker klafft ein riesiges Schlüsselloch." Bei Thalheimer jedoch sind zu sehen: "Zum Leben Verdammte, die nach dem verzweifelt suchen, was tot in ihnen ist. (...) Man sieht nicht Privatfiguren zu. Sondern Zeitgenossen. Von uns. Nicht von O'Neill. Thalheimer hat Erbarmen mit diesen Toten. Der Regisseur (...) fängt auf einmal an, Menschen auf der Bühne an sein Herz zu drücken. Das kleine Wunder der Saison: Thalheimer kann ja auch lieben."

Weitere Artikel: Jack Miles behauptet: "Man könnte also sagen, dass Ratzinger Bush zum Wahlsieg verholfen hat" - und zwar, indem er den Katholiken John Kerry angriff. Gina Thomsa liest der britischen Presse die Leviten, wg. Ratzinger und dann auch gleich wegen unbotmäßiger Kritik am "Untergang". Ein keines Vornamens gewürdigter Politiker namens "Rüttgers" wird von Christian Geyer abgekanzelt, weil er es gewagt hat, die Relativismusrede des Papstes auszulegen. Friedrich Christian Flick zahlt nun doch in den Zwangsarbeiterfonds, und fragt Heinrich Wefing in der Glosse: "Warum nicht gleich so, Herr Flick?" Hubert Spiegel war zugegen, als einige Wochen vor Schillers Geburtstag in Marbach von George Steiner (mehr) pessimistische Klassikerpflege betrieben wurde.

Jürgen Kaube stellt Heines Bankier James de Rothschild vor. Einem nicht nachweisbaren, aber ehrenrührigen Zitat, das Erich Mende zugeschrieben wurde, geht Martin Otto nach. Auf die katastrophale Lage der Pflichtverteidigung in den USA macht Katja Gelinsky aufmerksam. Nachrufe gibt es auf den Pop-Artisten Sir Eduardo Paolozzi, auf den Schauspieler John Mills und auf den marxistischen Theoretiker Andre Gunder Frank.

Besprochen werden ein Konzert von Nancy Sinatra in Ludwigshafen, Daniel Burens respektloser Umgang mit der Architektur des Guggenheim-Museums, eine Inszenierung von Ibsens "Wildente" in Frankfurt und das dritte Tanzprojekt der Berliner Philharmoniker für Kinder (die freilich blieben aus).

Buch-Rezensionen gibt es zu Hellmuth Karaseks Memoiren "Auf der Flucht", zu Janet Daveys Roman "Die englische Korrespondenz", zu einer strukturalistischen Untersuchung der pompejanischen Wandmalerei, zu einer Studie über das katholische Staatsdenken und zu weiteren Katholica, unter anderem von Joseph Ratzinger. (Mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr.)