Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.04.2005. In der SZ beschreibt die Soziologin Olga Kryschtanowskaja die stalinistischen Methoden im Prozess gegen Michail Chodorkowskij. Die taz hat die schönsten Aussagen von Joschka Fischer vor dem Untersuchungsausschuss gesammelt. Die NZZ träumt von einer überirdisch schönen Mondscheinsonate. In der FAZ warnt Zafer Senocak vor den Spähtrupps des türkischen Nationalismus in Deutschland. Alle besprechen die Aufführung von Andres Veiels Theaterstück "Der Kick" über den Mord an Marinus Schöberl im uckermärkischen Potzlow.

SZ, 26.04.2005

2002 wurde der 16-jährige Marinus Schöberl im uckermärkischen Dorf Potzlow von drei jungen Männern gefoltert und getötet. 40 Mal hat der Regisseur Andres Veiel das Dorf besucht und mit den Leuten dort geredet. Dabei herausgekommen ist am Ende ein Theaterstück, "Der Kick", das gestern in Berlin Premiere hatte. Den Text findet Alex Rühle großartig. "Die, die da reden, sitzen in Stammelheim fest. Lebenslang. In Einzelzellen. Die Sätze poltern die Seiten hinunter wie schwere Steine eine Treppe. Und je länger Veiel die Potzlower reden ließ, desto mehr wurde aus dem Fall eine Geschichte der generellen Verrohung, der Unfähigkeit zu trauern, ja überhaupt zu sprechen." Weniger überzeugend fand er die Aufführung. "Wenn Lerch die Mutter des Toten mimt, sitzt er mit brav gefalteten Händen da, schaut ins Publikum wie ein freundlicher Lindenstraßenbewohner und sagt dazu die schrecklichen Sätze vom Ende des Prozesses: 'Ich habe immer vor dem Zubettgehen Angst, denn ich höre Marinus' Stimme, wie er mich um Hilfe ruft, und ich kann nichts tun. Das bringt mich noch um.' Bei Lerch klingt diese Empörung, als sei ihm der Apfelkuchen angebrannt."

Morgen wird das Urteil im Fall Michail Chodorkowskij verkündet, mit einem Vermögen von 15 Milliarden Dollar einst der reichste Mann Russlands. Die Soziologin Olga Kryschtanowskaja beschreibt im Interview die "stalinistische Art der Rechtsprechung". "Chodorkowskij sitzt in einem Käfig, die Verteidigung und die Zuschauer sitzen auf Holzbänken. Nur für die Staatsanwaltschaft gibt es weiche Sessel ... Die Verteidiger können Chodorkowskij die Beweise zeigen, aber er darf sie nicht in die Hand nehmen. Vor seinem Käfig stehen Wachen mit Maschinengewehren. Die Telefonate der Verteidigung wurden abgehört, ihre Computer-Daten gelöscht, Papiere entwendet. Man könne sie jederzeit ebenfalls anklagen, sagen die Verteidiger. Zwei Anwälte haben ihre Familien in Sicherheit gebracht."

Weitere Artikel: Johannes Willms berichtet über das Kreuzfeuer, in das de Gaulle-Sohn Philippe mit seinem letzten Erinnerungsband "De Gaulle, mon pere" (Plon) in Frankreich geraten ist, zum Beispiel durch den Historiker Pierre Nora in Le Debat. In der Kolumne Zwischenzeit beweist Joachim Kaiser, dass Schillers Balladen "nicht blöde, sondern brillant" sind. In einer Randspalte ätzt Jens Bisky über das neue Kieler Kulturpolitikmodell ("Kulturförderung ist Standortförderung"). Gemeldet wird schließlich der Tod der Übersetzerin Erika Fuchs, der deutschen Übersetzerin der "Micky Maus".

Besprochen werden ein "sehr, sehr gutes" Konzert von Lou Reed in Frankfurt, die Ausstellung "Werke & Tage" mit Arbeiten von Sigmar Polke im Kunsthaus Zürich, eine Inszenierung von Eugene O'Neills "Eines langen Tages Reise in die Nacht" am Hamburger Thalia Theater, Shona Auerbachs "kühner" Familienfilm "Lieber Frankie", zwei Uraufführungen der Jazzmusiker und Komponisten Christoph Cech und Max Nagl in Wien - "Orfeo" an der Neuen Oper und "Der siebte Himmel im Dreivierteltakt" mit einem "beschwipsten" Libretto von Franzobel im Museumsquartier - und Bücher, darunter eine Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts von Hermann von der Dunk, ein Band über das Gartenreich Dessau-Wörlitz und Karin Kerstens Großstadtroman "Die Aufgeregten" (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 26.04.2005

Das Rennen um die originellste Berichterstattung über Fischers Auftritt vor dem Visa-Ausschuss dürfte heute die taz machen. Die Schlagzeile "Joschka wird Scheinheiliger" ist jedenfalls schon mal gut. Den analytischen Text von Lukas Wallraff unter der Überschrift des bereits klassikerverdächtigen Satzes "Schreiben Sie: Fischer ist schuld" flankieren auf den Tagesthemenseiten noch weitere schönste Passagen. Kostproben: "Da wurde eine Hausbesetzung angesetzt ? Entschuldigung, eine Hausbesprechung" (Fischer über die Vorbereitung des Volmer-Erlasses); "Ich habe das nicht alles vorher meiner Frau vorgelesen. Ich schlage vor, dass ich weitermache, bis ich durch bin." (Fischer auf die Frage, wie lange sein Vortrag noch dauert).

In einem Interview kritisiert der Trierer Medienwissenschaftler Hans-Jürgen Bucher Fischers Auftritt im Visa-TV als aufklärungsfreie "Personality-Show". Anwalt Johnny Eisenberg hält die ganze Veranstaltung für überflüssig, weil die Juristen im Ausschuss keine forensische Erfahrung haben: "Dass Fischer ungeeignet ist, ein Ministerium zu führen, kann eventuell das Ergebnis eines Untersuchungsausschusses sein. Aber nicht Grundlage jeder so genannten Frage."

Im Kulturteil führt Jürgen Busche die Essayreihe zur "Präzisierung der Gefühle rund um einen Aufstand" und die Bewertung von 68, Rudi Dutschke und dem Verhältnis zur Gewaltfrage fort. "So waren viele 68er links, weil der Gegner rechts war. Und dies hielt sich. (...) Eine linke Interpretation der Geschichte muss Dutschke zwar auf der Rechnung haben, sie allein aber hat nicht die Mittel, Dutschke gerecht zu werden."

Christiane Kühl bespricht Andres Veiels Inszenierung seines Theaterstücks "Der Kick" in Berlin und Basel. Daniel Bax unterhält sich mit einem Mitglied der britischen Band Asian Dub Foundation über den Zusammenhang von Musik und Militanz, das gesellschaftliche Klima in England und die Gefahr des Fundamentalismus. Besprochen wird schließlich das erste Deutschlandkonzert von Nancy Sinatra in Berlin. Und "Unterm Strich" wird an das erste Kirchenlied erinnert, das es jemals an die Spitze der deutschen Hitparade geschafft hat und sogar von den Ärzten intoniert wurde: das "Danke"-Lied, dessen Komponist Martin Gotthard Schneider heute 75 Jahre alt wird (hier die erste Strophe).

Und Tom.

NZZ, 26.04.2005

Heute wird in der NZZ eifrig rezensiert: Peter Hagmann hat sich in Zürich von Andras Schiffs Interpretation verschiedener Beethoven-Sonaten verzaubern lassen: "Diese Sonate, wenigstens ihren berühmten ersten Satz, werden alle im Saal gekannt haben, das ist zweifellos anzunehmen. Ebenso dürfte aber feststehen, dass niemand im Saal diesen berühmten ersten Satz jemals in dieser Weise gehört hat. Tatsächlich hat Andras Schiff im Kopfsatz der 'Mondscheinsonate' das rechte Pedal von A bis Z heruntergedrückt, so wie es der Komponist vorgeschrieben hat. Alle Saiten des Flügels haben deshalb zu jedem Zeitpunkt frei geschwungen ... Das war nicht nur eine Überraschung erster Güte, es hat auch überirdisch schön getönt."

Für durchaus gelungen hält Manfred Koch die Schiller-Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs in Marbach: "Es ist nicht das geringste Verdienst der Kuratoren Frank Druffner und Martin Schalhorn, vor Augen zu führen, dass Schiller gar nicht so hilflos auf der Ebene der Strümpfe, der Mäusegeschäfte war. Er wusste, wie man sich selbst vermarktet, welche Freundschaften beim Vorwärtskommen behilflich sind, wozu höfische Titel und gesellschaftliche Ehrungen einmal gut sein können."

Weiteres: Angela Schader findet Mark Sloukas Erzählband "Die Wiese, in der ich schwimmen lernte" am stärksten da, wo er am finstersten ist. Andreas Kilcher hat Arnold Zweig in dem Roman "Einsetzung eines Königs" von 1935 als Kenner der Ostfront und Porträtisten des Ost-Judentums erlebt. Und schließlich bespricht Marianne Zelger-Vogt die Aufführung von Mozarts Oper "La clemenza di Tito" am Zürcher Opernhaus.

FR, 26.04.2005

Dorothea Marcus bespricht Aufführungen des Theaterstück "Der Kick" in Berlin und Basel, das der Dokumentarfilmer Andres Veiel über den "unerklärlichen Mord von Potzlow" geschrieben und auch selbst inszeniert hat. In Potzlow hatten drei Jugendliche einen Freund zu Tode gequält und danach in einer Jauchegrube entsorgt. Einen Film habe er schon deshalb nicht gemacht, "weil kaum jemand bereit war, vor der Kamera zu sprechen". "'Es gibt kein Projekt, das mich mehr mitgenommen hat', sagt er, manchmal wollte er die Arbeit abbrechen. Wochenlang hatte er Albträume, nachdem er im Schweinestall war." Das Urteil der Kritikerin: "Die Emotionalisierung des Zuschauers, die zuweilen versucht wird, kann ein Film besser. Doch in der Halbverfremdung der Wirklichkeit, im schnellen Wechsel der Gefühlslagen und in der vollkommenen Reizlosigkeit liegt die Rechtfertigung eines solchen Projekts: Nur im Theater können so atemberaubende Gegenwärtigkeit und Intensität entstehen."

Weiteres: Mirja Rosenau porträtiert den Kunstumschlagplatz Wien. Und in Times mager kommentiert Harry Nutt den Auftritt von Joschka Fischer vor dem Visa-Untersuchungsausschuss ("Die Zukunft des Ausschuss-TVdürfte bescheiden sein ... Die Bewertung politischer Entscheidungen muss weiterhin auf anderem Wege generiert werden").

Besprochen werden ein Konzert von Altmeister Lou Reed in der Frankfurter Alten Oper, das neue Album der Go-Betweens "Oceans Apart" und Bücher, darunter eine umfängliche Würdigung diverser Editionen von Schiller-Briefen, eine als ebenso "blitzgescheite" wie "einseitig" bewertete Studie über "digitale Systeme und die Zerstörung der Erinnerungskultur" und der Fotoband "Photographs" von Mora Kuhn (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 26.04.2005

Der in Berlin lebende Publizist Zafer Senocak fürchtet, dass die Türkei dem wiedererstarkten Nationalismus anheimfallen könnte. Deutschland würde davon nicht unberührt bleiben. "Der türkische Nationalismus ist inzwischen ein deutsches Phänomen. Deutschland ist aufgrund seiner Vergangenheit jenes Land auf der Welt, das sich von einer aggressiven Form des Nationalismus vielleicht am schärfsten distanziert hat. Wie aber gehen wir mit dem türkischen Nationalismus auf deutschem Boden um? Sind wir gewappnet gegen eine Gruppe von Menschen, die von ihrem Herkunftsland als Spähtrupp des Nationalismus missbraucht werden? Seit Tagen führen türkische Medien in Deutschland eine Kampagne durch, schärfen Landsleuten hierzulande die einzig richtige türkisch-nationale Position in der Frage des Völkermordes an Armeniern ein, diffamieren kritische Stimmen."

Thomas Wagner will es kaum glauben, die erste Retrospektive Piet Mondrians in Österreich. Allerdings kommt ihm die Ausstellung in der Wiener Albertina zu glatt vor. Denn eigentlich war Mondrian ein zerrissener Charakter, weiß Wagner. Das "offenbart die Frage seines Freundes Carl Holty, der von dem Maler wissen wollte, warum er sich, wie Penelope, die Gattin des Odysseus in der 'Odyssee', jeden Morgen so viel Mühe mache, all das, was er in der Nacht geschaffen habe, wieder zu zerstören: 'Ich will', antwortete Mondrian, 'keine Bilder. Ich will nichts anderes als etwas aufspüren, entdecken.'" Hier sind einige seiner Bilder zu sehen.

Jordan Mejias berichtet von den Geplänkeln auf dem New Yorker Festival PEN World Voices, zu dem Salman Rushdie eine Reihe illustrer Kollegen nach New York bat. Die beiden russischen Schriftsteller Andrei Makine und Victor Erofeyev etwa stritten sich, ob Moskaus nacktes Chaos nur für Schriftsteller ein Paradies oder Russland doch auf dem guten Weg nach Europa sei. Im Leitartikel erregt sich Patrick Bahners über Dirty Joschka und dessen anekdotenreiche Ausweichtaktik vor dem Untersuchungsausschuss. Das "moralische Reich der Sachlichkeit" ist Fischer eben schon immer fremd gewesen, tadelt Bahners. Darunter klagt Jürgen Kaube über Müntefering und die schlechte, aber in Deutschland verbreitete Idee, Politik gegen und ohne die Wirtschaft zu machen. Die Entwicklungsbiologin und Nobelpreisträgerin Christine Nüsslein-Volhard (mehr) hat eine Stiftung ins Leben gerufen, die jungen Wissenschaftlerinnen ermöglichen soll, ihre Karriere auch mit Kindern fortzusetzen, notiert Christian Schwägerl. Mark Siemons mischt sich unter skeptische Berliner, die die Baustelle des Tanzclubs Goya im bürgerlichen Westberlin besuchen (das mehrseitige Konzept steht schon). Ingo Schulze (mehr) hat in Berlin aus seinem im Oktober erscheinenden Roman vorgelesen. Wolfgang Schneider zweifelt aber, ob die "liebevolle Kleinmalerei" ein ganzes Buch trägt.

Auf der Medienseite erfährt Michael Hanfeld von Phoenix-Geschäftsführer Christoph Minhoff, dass nach der Übertragung des Visa-Ausschusses jetzt auch über Kameras in Brüssel nachgedacht wird. Und Nina Rehfeld informiert über den nicht gerade neuen Trend, dass Prominente in den USA jetzt mit eigenen Reality-TV-Serien für Einschaltquoten sorgen sollen.

Auf der letzten Seite schildert Paul Ingendaay den Tag des Buches in Barcelona, wo Männer Frauen Rosen schenken und mit Büchern entlohnt werden. Peter Kemper bewundert Mark Knopfler, den "Sultan des Swing". Joseph Hanimann langweilt sich auf dem Treffen deutscher und französischer Atomexperten, die ihre grundverscheidenen energiepolitischen Zukunftsszenarien im Pariser Goetheinstitut einfach und einvernehmlich nebeneinander stehen ließen.

Aufmerksamkeit verdient auch Gerd Gregor Feths Kulturgeschichte des Schirms im Technikteil. Dort ist etwa zu erfahren, dass einst Schirme mit eingebautem Blitzableiter entwickelt wurden, bei denen an einer Speiche ein Draht befestigt war, der bis zum Boden reichte. "Ob dieses System jemals die gewünschte Wirkung zeitigte, ist nicht überliefert."

Besprechungen widmen sich der Uraufführung von Mats Eks Choreographie "Aluminium" im Teatro Real mit Nacho Duatos Compania Nacional de Danza, Lars-Ole Walburgs "etwas arg freier" Version von Shakespeares "Hamlet" an den Münchner Kammerspielen, Andres Veiels in Basel und einen Tag später in Berlin selbst auf die Bühne gebrachtem Stück "Der Kick", dem Frankfurter Konzert von Lou Reed, der ein "völlig enthusiasmiertes" Publikum zurückließ, Francesco Cileas Oper "Adriana Lecouvreur" unter der Regie von Marc Adam in Lübeck, und Büchern, darunter eine kritische Neuausgabe von Gottfried Kellers Roman "Martin Salander" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).