Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.04.2005. Die SZ bewundert die kantige Rechte der estnischen Dirigentin Anu Tali. Die NZZ kommentiert die Schwierigkeiten der Italiener mit dem Faschismus - und mit der Resistenza. Die taz führte beim 76. Concorso d'Eleganza Villa d'Este in Como ein Vintage-Leben. In der FAZ erklären drei Museumschefs die deutsche Beutekunstpolitik für gescheitert.

NZZ, 27.04.2005

In der NZZ kommentiert Franz Haas heute die italienische Aufregung rund um den Nationalfeiertag am 25. April: "Die Rechte will die Befreiung vom Faschismus nicht so recht bejubeln, während die Linke den Mythos der Resistenza aufpoliert." Nicht genug, dass sich Berlusconi auch diesmal, zum 60. Jubiläum der Befreiung Mailands von den deutschen Besatzern, um die Teilnahme am Festakt gedrückt hat. Zusätzlich erhitzt ein Buch des Historikers Alberto Cavaglion die Gemüter, der "mit einer provokanten Schrift den 'einbalsamierten Mythos' der Resistenza entzaubern" wollte. Haas: "In vielem hat der Historiker Cavaglion Recht. Der Mythos von den guten Partisanen, die allein das neue, anständige Italien gegründet hätten, ist schon seit langem eine ziemlich ranzige Sache. Aber bedenklich ist, dass diese Attacke gerade jetzt in den Chor jener einstimmt, die seit einigen Jahren auch in offizieller Weise ihren Widerstand gegen die Resistenza betreiben. Der rechte Flügel der Regierung Berlusconis und dessen mächtiger Medienapparat arbeiten emsig an der Gleichstellung der einstigen Gegner: Den Kämpfern der faschistischen Repubblica di Salo (und ihrer 'edlen Niederlage') solle endlich dieselbe Ehre zuteil werden wie den Partisanen." (Lesen Sie zu der Debatte um Cavaglions Buch auch Gabriella Vitiellos Post aus Neapel).

Weiteres: Alexandra Stäheli freut sich über Woody Allens "Melinda and Melinda". Auf den diesjährigen Wittener Tagen für neue Kammermusik hat sich Max Nyffeler umgehört. Daniel Jütte bespricht Lytton Stracheys Chronik der Ereignisse um "General Gordons Ende". Hubertus Adam empfiehlt Raymond Meiers Bildband "Louis Kahn Dhaka" und Michael Schefczyk nimmt anerkennend Heinrich Niehues-Pröbstings Studie zur "antiken Philosophie" zur Kenntnis.

Die NZZ Online meldet den Tod von Maria Schell.

Welt, 27.04.2005

Holger Kreitling und Berthold Seewald interviewen den britischen Weinkritiker Stuart Pigott, der erklärt, warum nur Briten und Amerikaner gute Weinkritiker sind: "Warum gibt es keine international bedeutenden Weinkritiker aus Frankreich, Italien, Spanien? Ihre Perspektive ist nationalistisch begrenzt und nicht exportfähig. Ein Engländer muss sich nicht mit landeseigenen Weinerzeugern identifizieren."

FR, 27.04.2005

Ein "reiches Kaleidoskop heutiger Jugendkulturen" bietet die Karlsruher Ausstellung "Coolhunters", meint Elke Buhr. "Die KuratorInnen Birgit Richard, Klaus Neumann-Braun, Sabine Himmelsbach und Peter Weibel halten auch in Zeiten erdrückender Kommerzialisierung der Popkultur an den Cultural-Studies-Thesen der Achtziger Jahre fest, denen zufolge Jugendkultur immer beides ist: Anpassung und Widerstand, Mainstream und Avantgarde. Demnach eignen sich die Jugendlichen selbst die Massenware der Medien auf originelle Weise an, verändern sie und kombinieren die billigen Stereotypen zu einem eigenen Lebensentwurf. So präsentiert die Ausstellung die Jugendlichen als Coolhunters in eigener Sache: Jägern des Neuen, Trendscouts, die ihre Definition von Coolness neu zusammenbasteln aus dem, was die Medien oder die Gruppe ihnen anbieten, eklektizistisch, unberechenbar und den Marketing-Strategen immer einen Schritt voraus."

Weiteres: Adam Olschewski stellt die Münchner Galerie t-u-b-e vor, eine Institution für elektronische Musik. Daniel Kothenschulte schreibt zum Tod von Erika Fuchs. Auf der Literaturseite stellt Ursula Homann Schiller-Ausgaben vor.

FAZ, 27.04.2005

Die deutsche Beutekunstpolitik ist nach Ansicht dreier deutscher Museumschefs, die von Regina Mönch und Heinrich Wefing interviewt werden, gescheitert. Einer der Interviewten ist Klaus-Dieter Lehmann, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, der eine mangelnde Entschiedenheit deutscher Politker beklagt: "Man muss klar sehen, dass die Beutekunstfrage in Russland in den letzten zehn Jahren propagandistisch stark aufgeladen worden ist. Das hat sich zu einem innenpolitischen Thema ersten Ranges entwickelt. Umgekehrt steht für den Bundeskanzler die Wirtschaftspartnerschaft mit Russland ganz im Vordergrund. Die Beutekunst wird dabei lediglich in Fußnoten erwähnt. Wir haben also faktisch keine Ebene, auf der Entscheidungen getroffen werden könnten."

Weitere Artikel: Donaldist Patrick Bahners schreibt den Nachruf auf die Micky-Maus-Übersetzerin Erika Fuchs, die im Alter von 98 Jahren gestorben ist. Auch Elke Heidenreich schreibt eine Hommage auf Fuchs, die einen so großen Einfluss auf die deutsche Sprache hatte. Christian Schwägerl stellt richtig, dass es im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg entgegen dem Anschein nicht mehr Kinder gibt als anderswo. Jürg Altwegg schildert Auseinandersetzungen zwischen ethnischen Minderheiten in Frankreich, die sich allesamt als Opfer eines neuen Kolonialismus sehen. Niklas Maak zeigt sich wenig überzeugt von den Formen des Airbus A 380, der heute zu seinem Jungfernflug abhebt ("gigantische Flugmortadella"). Andreas Rossmann meldet, dass Georg Quander, ehemals Intendant der Berliner Staatsoper, zum neuen Kölner Kulturdezernenten gekürt wurde.

Auf der Medienseite betrachtet Nina Rehfeld die Internetseiten von Hollywood-Prominenten und empfiehlt besonders JeffBridges.com und DavidLynch.com. Und Katharina Iskandar resümiert die Mainzer Tage der Fernsehkritik. Auf der letzten Seite erinnert Jörg Lehmann an den ersten Gasangriff im Ersten Weltkrieg vor neunzig Jahren. Gina Thomas berichtet über erstaunlich erfolgreiche Boykott-Aufrufe britischer Akademiker gegen israelische Universitäten. Und Verena Lueken gratuliert dem griechischen Filmregisseur Theo Angelopoulos zum Siebzigsten.

Besprochen werden eine Aufführung von Max Frischs "Triptychon" in Heidelberg, ein Auftritt der Gruppe The Kills in Berlin, der Film "The Life and Death of Peter Sellers" von Stephen Hopkins, die von Harald Szeemann kuratierte Ausstellung "Visionäres Belgien" in Brüssel und der "Bajazzo" mit Jose Curas an der Deutschen Oper Berlin.

TAZ, 27.04.2005

Brigitte Werneburg war beim Classic Car Event Concorso d'Eleganza Villa d'Este in Cernobbio am Comer See und sehnt sich prompt nach einem Vintage-Leben: "'Dös is net olt, dös is vintitsch': In unverkennbar österreichischem Idiom herangeweht, war das der Schlüsselsatz zu einem Bildungserlebnis der ganz anderen Art. Jedenfalls für jemanden wie mich. Denn ich fahre zwar ein uraltes Auto, doch der schöne, schmeichelhafte Begriff des Vintage Car war mir bislang fremd. Ob ich es jemals wagen werde, ihn auf mein kleines lustiges rotes Auto französischer Herkunft anzuwenden, das fünf Liter Diesel auf 100 Kilometer verbraucht, möchte ich bezweifeln. Vintage Cars - obwohl nicht identisch mit Oldtimer - zeichnen sich doch meistenteils durch ihre enormen Ausmaße und wenigstens den zehnfachen Spritverbrauch aus, wie jetzt beim 76. Concorso d'Eleganza Villa d'Este in Como zu beobachten war."

Weitere Artikel: Die Germanistin und Auschwitz-Überlebende Ruth Klüger spricht im Interview über den Sinn von Gedenkstätten. Christian Broecking stellt den Free-Jazz-Pianisten Alexander von Schlippenbach vor, der gerade das Gesamtwerk von Thelonious Monk eingespielt hat.

Und Tom.

SZ, 27.04.2005

Jürgen Otten hat in Tallinn die estnische Dirigentin Anu Tali besucht, die zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Kadri das Nordische (vormals Estnisch-Finnische) Symphonieorchester gegründet hat. "Anu Tali, der, wenn man sie abseits der Bühne erlebt, durchaus etwas Fragiles anhaftet, verliert dieses Antastbare exakt in dem Augenblick, wo sie zum Taktstab greift. Dann mutiert sie zur unangefochtenen, autoritär agierenden Chefin im Ring, mit nahezu preußischer Attitüde. Ein Teil dieser fast soldatischen Neigung findet sich im Dirigieren selbst: Rhythmisch vertrackte Passagen durchmisst Anu Tali wie im Stechschritt. Umso überraschender dann die Beobachtung, dass diese starke, kantige Rechte sich unvermittelt in eine im Wind wehende Feder verwandelt, wenn die Musik gleichsam ins lyrische Fach wechselt; wenn es an die melodisch dominierte Einflüsterung geht."

Weiteres: Alexander Kissler blickt erwartungsvoll nach Straßburg, wo der Europarat heute entscheidet, ob er eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe empfehlen soll. In der Reihe "Lebenslügen" rechnet Christian Kortmann mit der neuen Luxusarmut ab: "Das Perverse an der Geschwätzigkeit der Pseudo-Armen besteht darin, dass die einzige Erfolgsgeschichte, die die Armen zu erzählen haben, nämlich die von ihrem Überleben gegen alle Widerstände, nun auch von den Reichen reklamiert wird."

Titus Arnu verabschiedet Erika Fuchs, die Texterin der deutschen Micky-Maus-Hefte und "absolut anbetungswürdige Anhängerin von Alliterationen". Till Briegleb feiert die Martin-Munkacsi-Ausstellung im neuen Haus der Photographie in Hamburg, will ihm aber nicht kampflos den Titel des "größten Fotografen, Autors, Geschichtenerzähler, Mädchenbeobachters und Kunstexperten der Welt" überlassen. Ralf Dombrowski sieht den deutschen Jazz mit Cyminology und Jazz Indeed im Aufwind. Christiane Schlötzer stellt das "größte jüdische Museum der Welt" vor: Centropa, ein Internet-Archiv mit Bildern jüdischen Alltags, die der amerikanische Fotograf Edward Serotta gesammelt hat.

Besprochen werden neue Aufnahmen des Cellisten Truls Mörk und der Pianistin Christine Schornsheim, die Ausstellung "Raum ist Sehnsucht" über den Kirchenbauer Dominikus Böhm im Frankfurter Architekturmuseum, Hans-Ulrich Beckers Inszenierung von Robert Walsers "Der Gehülfe" im Münchner Marstall und Bücher, darunter ein Comic über Eminem (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).