Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.05.2005. Ist Andrea Breths Inszenierung von Tschechows "Kirschgarten" nun zwanghaft munter, großartig missglückt oder fröhlich hoffnungslos? Die Zeitungen sind sich uneins. In der Welt bekennt Salman Rushdie seine Angst vor der Macht des Glaubens.

Welt, 02.05.2005

Der Schriftsteller Salman Rushdie spricht im Interview über die gesetzgeberische Kraft der Literatur, prophetische Romane und die neue Macht der Religion: "Ich habe wirklich Angst vor der Macht des Glaubens heutzutage. Keine Angst um meiner selbst willen, sondern weil ich glaube, dass dies schlecht für die Gesellschaft ist. Meiner Meinung nach kann die Religion die Fragestellungen der modernen Welt nicht beantworten. Wir brauchen subtile, schnelle und flexible Antworten in dieser Welt, die sich so rapid verändert wie noch nie zuvor. Die Religionen behaupten von sich natürlich, sie seien eine rein persönliche, innere Angelegenheit. Das ist jedoch falsch. Die Sturheit zu sagen, 'so ist etwas und es ist auch schon immer so gewesen und es wird auch in Zukunft so sein' ist nicht die angemessene Art, die Welt von heute zu betrachten."

Mariam Lau kommentiert die bevorstehenden Feiern zum Kriegsende in Moskau: "Viele Bürger Polens, des Baltikums oder der Ukraine leben in der bitteren Überzeugung, sie seien letztlich die einzigen, die wirklich für den Krieg bezahlt hätten. Eine Siegesfeier in Moskau zwingt sie gewissermaßen, der eigenen Demütigung vor aller Welt zu applaudieren. War das wirklich unvermeidlich? Man fragt sich, ob hinter dem europäischen Entschluss, den 9. Mai in Russland zu begehen, wirklich nicht mehr steht als die Anerkennung der 20 Millionen sowjetischer Toter, die im Krieg gegen Hitler ihr Leben ließen. Bundeskanzler Schröder hatte es schon in der Normandie nicht über sich gebracht, die Leistungen der Amerikaner beim Sieg über die Deutschen zu würdigen."

FR, 02.05.2005

"Es könnte der Beginn einer großen, einer bahnbrechenden Aufführung sein." Anfangs ist Peter Michalzik bei Andrea Breths "Kirschgarten" am Wiener Burgtheater durchaus noch hoffnungsfroh. Gegen Ende muss er jedoch eine "großartig verunglückte" Aufführung konstatieren. "Irgendetwas hat Andrea Breth aus der Balance gebracht, die bei diesem schwebenden, auf kein Genre festzulegenden Stück das wichtigste ist." Mit zu viel Bedeutung, zu deutlich versuche Breth dieses "flüchtigste aller Stücke" auf die Bühne zu bringen. Doch Michalzik entlässt Breth nicht ohne ein Wort des Trostes. "Letztlich hat es in den letzten gut zwanzig Jahren nur zwei Aufführungen gegeben, die von Zadek und die von Ernst Wendt, die den Ton des zerspringenden Herzens einfangen konnten."

Weitere Artikel: Sandra Danicke spaziert beeindruckt durch das Fridericianum in Kassel, wo vier Kuratorinnen aus Zagreb 43 Künstlergruppen zur Schau "Kollektive Identität" geladen haben. Danicke fühlt sich aber eher wie in einem "Informationszentrum, das die Bedingungen des Künstlerseins in Ländern wie Slowenien, Iran oder dem ehemaligen Südamerika reflektiert." In Times mager destilliert Elke Buhr die Höhepunkte der deutsch-togolesischen Beziehungen: Bier und Eisenbahn. Thomas Klatt leidet auf der Medienseite mit der liberalen israelischen Tageszeitung "Haaretz", die derzeit zwischen allen Stühlen zu sitzen scheint. Und Tim Gorbauch bespricht Manfred Beilharz' Version von Schostakowitschs "Lady Macbeth von Mzensk" zum Auftakt der Wiesbadener Maifestspiele.

TAZ, 02.05.2005

"Intensive Botschaften" und "anrührende Dokumente" hat Christian Semler in der Ausstellung "1945 - der Krieg und seine Folgen" im Deutschen Historischen Museum Berlin entdeckt: "Zum Beispiel Dokumente über die Wiederaufnahme der Bundesrepublik in den Internationalen Fußballverband samt Erinnerungen an das erste Nachkriegsländerspiel gegen die Schweiz und ein Brief des Bundestrainers Herberger an einen seiner Schutzbefohlenen." Als eher kauzig hat Frieder Reininghaus Hans-Joachim Hespos' Anti-Oper "iOpal" in Hannonver erlebt. Der ewige Philippe Djian ("Betty Blue") sagt Mathias Penzeld im Interview, was das Wichtigste an einer guten Geschichte ist: "Stil! Sie muss nicht perfekt aussehen. Was zählt, ist das Wie. Das gilt genauso für Schriftsteller wie für eine Stripperin."

Und Tom.
Stichwörter: Berlin, Semler, Christian

SZ, 02.05.2005

Mit der Inszenierung von Tschechows "Kirschgarten" hat Andrea Breth überraschend das Klassenziel verfehlt, notiert Joachim Kaiser, auf den alles "so ernüchternd artifiziell, so zwanghaft munter, unpoetisch und leer wirkte. Am Ende höflicher Beifall, keinerlei Buh." Zu wenig Gefühl, wenig plausible Einlagen: Kaiser konnte sich an diesem Abend für gar nichts erwärmen. "Gewöhnungsbedürftig war nicht nur die alles Private gleichsam verschluckende, rasche Bewegungen und viel Gelaufe provozierende Über-Größe des Spielortes. Mehr noch irritierte (mich) die schrecklich aufgesetzte, gliederschwenkende, Arme-werfende Über-Lebendigkeit der wunderschönen, pariserisch elegant kostümierten Andrea Clausen."

Weitere Artikel: "Zri" befürchtet, dass Anschläge wie der auf das Goethe Institut im togolesischen Lome das Ende der politischen Neutralität der Kulturinstitutionen bedeuten könnten. Thomas Urban glaubt, dass Papst Benedikt XVI. den zuletzt etwas abgekühlten Beziehungen zwischen Deutschland und Polen wieder neuen Schwung geben könnte. "Zunächst war er der 'beste Freund' Johannes Pauls II., dieser selbst hat es wiederholt so gesagt - und dies kommt einer Carte blanche in Polen gleich." Falk Jaeger resümiert noch einmal die Auseinandersetzungen um das neue Kaufhaus am Lübecker Marktplatz (zu sehen ist es auf der Seite der Architekten), das trotz aller Querelen aber willkommen sein sollte in einer Stadt, "in der seit der Holstentorhalle (1926) und Gerkans Musik- und Kongresshalle (1994) nichts überregional Bedeutendes mehr gebaut worden ist". Weil sein neuer Film "Königreich der Himmel" anläuft, spricht Regiseur Ridley Scott mit Anke Sterneborg und gesteht, dass für ihn der Film immer Kommerz war. Christian Y. Schmidt beschreibt für die SZ-Artikelreihe seinen perfekten Tag in Peking. Im Medienteil informiert Andrian Kreye über den Promi-Blog, den die amerikanische Kolumnistin Arianna Huffington einzurichten plant.

Auf der Literaturseite warnt Reinhard Markner die Bibliotheken davor, ihre digitalen Kataloge nach dem Vorbild der USA mit Rezensionen anzureichern. "Kataloge sind keine Kampfplätze, sie dienen einzig dem Nachweis von Büchern und anderen Medien." Auf einer Tagung der Deutschen Akademie in Salzburg hat Kristina Maidt-Zinke erfahren, wie die Wissenschaftler der Ausbreitung des Englischen mit einer "konstruktiven Zweisprachigkeit" begegnen wollen. Und meist wird nur mit einem Partner kollaboriert, das Ergebnis falle recht einseitig aus. Wolfgang U. Eckart erinnert an Guillaume Duchennes grundlegendes Werk zur Elektrotherapie, mit dem dieser vor 150 Jahren auch das Theater voranbringen wollte. Der ägyptische Autor und Nobelpreisträger Nagib Mahfus schreibt immer noch, obwohl er inzwischen blind und nahezu taub ist. Nun sind seine Miniaturen "The Dreams" in Kairo erschienen, berichtet Heiko Flottau.

Die Besprechungen: die Uraufführung der Oper 'iOPAL' von Hans-Joachim Hespos an der Staatsoper Hannover ("So sieht sie also heute aus, die arme alte Oper. Ihren Inhalt, gar eine Handlung, hat sie längst an der Garderobe abgegeben, mit kleinen Stoff-Resten bedeckt sie notdürftig ihre Blößen", klagt Reinhard Schulz), Franziska Meletzkys Film "Nachbarinnen", das "grandiose" neue Album "With Teeth" der "Nine Inch Nails", und politische Bücher, darunter Studien zu der Entwicklung von Auschwitz zum Zentrum der Judenvernichtung und der Rolle des SS-Arztes Eduard Wirths (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 02.05.2005

"Chocolate City" - nach einem Song von George Clinton - lautet ein Beiname, den die Stadt Washington D.C. auf Grund ihres hohen afroamerikanischen Bevölkerungsanteils trägt. Andrea Leiber hat sich auf den Straßen, Plätzen und in den Nachtklubs der 'schwarzen' Stadtviertel in einen besonderen traditionsreichen Musikstil der US-Haupstadt verliebt: Go-Go. "Aufwendig besetzte, in dröhnender Lautstärke musizierende, hervorragende Live-Bands, dunkle Klubs, in denen gerade so viel Licht auf die Bühne fällt, dass man die Musiker erkennen kann, ekstatischer Tanz mit provozierendem Körperkontakt in einer drängenden Menge - das ist Go-Go ... Gäste äußern rappend Meinungen, geben Hooks vor, und gelegentlich nehmen einflussreiche Bandleader wie Andre 'Whiteboy' Johnson von der Bühne herab zu lokalen Vorkommnissen Stellung. An diesem Abend kommentiert er den neuesten Fall einer Teenagerschwangerschaft und und mahnt das aufmerksam zuhörende Publikum zu verantwortlichem, ethischem Handeln."

Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung hat in Salzburg über das Englische als Wissenschaftssprache diskutiert. Über die Folgen und Konsequenzen des Triumphzuges des globalisierten Englisch quer durch sämtliche Wissenschaften, sowohl die "exakten" als auch die "kommunikativen", herrschte Uneinigkeit, hat Paul Jandl beobachtet. Für die Geisteswissenschaften sei die neue lingua franca eher ein Problem als für die Naturwissenschaften, dennoch reagierte man gelassen: "Die Meinung, dass die heutige Forschung mit Wissenschafts-BSE, dem Basic Simple English, infiziert sei, hält der Soziologe Florian Coulmas geradezu für eine Beleidigung. Man wisse sich auszudrücken und setze für Gedankenarbeit und Erkenntnisgewinn durchaus mehr ein als das berüchtigt schlichte Englisch II. Das Problem, sekundiert Ulrich Raulff, sei nicht das Englisch II, sondern ein grassierendes Deutsch II."

Barbara Villiger Heilig ist begeistert von Andrea Breths Inszenierung des "Kirschgarten" in Wien: "Im Unspektakulären ereignet sich das Spektakuläre. Aus zahllosen Details, die präziseste Lebensrealität reproduzieren, entsteht ein atmosphärisches Fluidum von fast greifbarer Substanz. Jede Figur hat ihren Ort, ihren Ton, ihre Motorik. Die Bedingung dafür bringen die Ensemblemitglieder mit. Eine Idealbesetzung."

Weitere Artikel: Sabine Haupt berichtet über eine Tagung der Generalversammlung der Autorinnen und Autoren der Schweiz, auf der unter anderem der Aufnahmeantrag des für rechtspopulistische Äußerungen bekannten SVP-Nationalrats Oskar Freysinger auf der Tagesordnung stand - bis er gestrichen wurde. Claus Stephani gratuliert dem rumänischen Verlagshaus Editura Hasefer zum zehnten Geburtstag. Besprochen werden die in vier nordeuropäischen Städten gleichzeitig stattfindene Ausstellung "Populism", ein Klavierkonzert von Bruno Leonardo Gelber in Zürich und die Aufführung von Vincenzo Bellinis Oper "I Capuleti e i Montecchi" in Biel.

FAZ, 02.05.2005

Im Aufmacher versucht Mark Siemons, Franz Münteferings Kapitalismuskritik als einen Versuch zu verstehen, der Politik neue (oder alte) Spielräume zu erobern. Andreas Platthaus besucht für die Leitglosse die ehemalige Leipziger Baumwollspinnerei, wo jetzt gewinnbringend mit neuer Leipziger Kunst gehandelt wird. Heinz Berggruen erzählt, wie er jüngst in Paris - fast dort, wo er einst selbst seine Galerie hatte - eine Picasso-Zeichnung für sein Berliner Museum erstand. Joseph Hanimann berichtet über eine Studie, die nachwies, dass der französische Abiturientenjahrgang 1968, dem das Abitur wegen aktueller Ereignisse quasi geschenkt worden war, im späteren Leben besonders erfolgreich war. Jordan Mejias erklärt, wie George W. Bush angesichts demografischer Probleme das staatliche amerikanische Rentensystem reformieren will. Hans-Peter Riese schreibt zum Tod des Bildhauers Otto Herbert Hajek. Wolfgang Sandner muss nach Jimmy Woode mit Percy Heath den zweiten Jazzbassisten in einer Woche verabschieden. Jürgen Kaube gratuliert dem Demografen James W. Vaupel zum Sechzigsten. Jordan Mejias besucht das von den Architekten Herzog und de Meuron erweiterte Walker Art Centre in Seattle, und Hans-Peter Riese begutachtet die originelle Sammlung dieses abgelegenen Kunstzentrums, das sich zum Beispiel schon früh auf Künstlervideos verlegte.

Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld, dass der WDR weiterhin über den heutigen ZDF-Redakteur Dietmar Schumann berichten darf, der einst als IM bei der Stasi geführt wurde. Und Dirk Schümer hat sich einen italienischen Fernsehfilm über den großen Staatsmann De Gaspari angesehen.

Für die letzten Seite besucht Kerstin Holm einige Moskauer Siegesmuseen, in denen heute sogar gezeigt werden darf, dass die Rote Armee materielle Hilfe von den Westalliierten erhielt (über Hinweise auf den Hitler-Stalin-Pakt berichtet sie hingegen nicht). Dirk Schümer berichtet, dass die Mailänder Scala immer noch nach einem Nachfolger für Riccardo Muti sucht. Und Alexandra Kemmerer portärtiert den finnischen Völkerrechtler Martti Koskenniemi, der im European Journal of International Law vielbeachtete Thesen (abstract) zu seiner Disziplin vorlegte.

Besprochen werden Tschechows "Kirschgarten" am Burgtheater (von Andrea Breth laut Gerhard Stadelmaier im "im trotzig genialen Geist fröhlicher Hoffnungslosigkeit" inszeniert), Tanzuraufführungen von Jiri Kylian und Paul Lightfoot in Den Haag, die Uraufführung von Hans-Joachim Hespos' Musiktheater "iOpal" am Staatstheater Hannover und Jonathan Nossiters Dokumentarfilm "Mondovino".