Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.05.2005. Der Tagesspiegel bringt sämtliche aktuellen Gedenktage mit der Frage "Was hätte Schiller zu 'Speer und er' gesagt?" zur Kernschmelze. Die FAZ löst sich von der allgemein grassierenden Rückschau und sagt eine neue Revolution an: Aber wird Rolf Hochhuth sie noch erleben? Hans Magnus Enzensberger sieht das im Spiegel ganz anders. Die FR stellt nach eingehender Klassiker-Obduktion fest: Schiller ist tausendmal toter als Hitler. Die SZ hat das erste Hakenkreuz-Graffito am Holocaust-Mahnmal gesichtet.

FAZ, 09.05.2005

Richard Kämmerlings sagt in einem interessanten Aufmacher die Revolution an und zitiert die entsprechenden Hoffnungen einiger, zumeist aber auffällig betagter Intellektueller wie Andrea Breth und Rolf Hochhuth, um zu konstatieren: "Die Kapitalismusdebatte wurde nicht nur aus durchsichtigen wahltaktischen Gründen vom Zaun gebrochen. Vielmehr zeigt die Geschwindigkeit, mit der viele Stellungnahmen in eine Fundamentalkritik umschlugen, dass hier sehr genau kalkuliert eine tiefer liegende Zeitgeistströmung angezapft wurde. Es gibt ein Wiedererstarken einer Haltung radikaler 'außerparlamentarischer' Opposition, die sich bislang freilich vor allem theoretisch äußert." Kämmerlings' Schlussfolgerung allerdings ist unbestimmt: "Der Zweifel ist die revolutionäre Haltung unserer Tage."

Gerhard Stadelmaier hat sich in Frankfurt im Beisein der besten dortigen Gesellschaft von Peter Stein den "Wallenstein" vorlesen lassen und war nicht zufrieden: "Zunächst dringt in unsere Köpfe der Hauptfehler der meisten deutschen Theaterleute ein: Sie sind zu schnell. Und zu schnell fertig. Mit dem Text. Mit den Figuren. Stein ist - das lässt sich nach zwei Abenden 'Lager' und 'Piccolomini' feststellen, die man getrost fürs Ganze nehmen darf - besonders schnell fertig."

Weitere Artikel: In der Leitglosse schildert Andreas Kilb die Stadt Berlin am gestrigen 8. Mai mit ihren Demonstrationen und Feierlichkeiten und lobt die Rede Horst Köhlers als "Musterbeispiel demokratischer Eloquenz". Patrick Bahners war dabei, als die Stadt Moers den achtzigsten Geburtstag ihres Ehrenbürgers Hanns Dieter Hüsch feierte. Andreas Rossmann nimmt Abschied vom Bochumer Intendanten Matthias Hartmann. Kerstin Holm hörte in Moskau die Chöre und Orchester der Roten Armee die stalinistischen Hymnen auf den großen vaterländischen Krieg schmettern und entwickelt an dieser Musik ein Psychogramm der russischen Seele. Die Kunsthistorikerin Birgit Schwarz interpretiert die von Speer ausgewählte Gemäldesammlung, die einst Hitlers Reichskanzlei zierte. Martin Otto berichtet als Sensation, dass in Kopenhagen eine bisher unbekannte Episode der Comicreihe "Petzi" (dänisch: "Rasmus Klump") des dänischen Zeichners Vilhelm Hansen aufgefunden wurde.

Auf der Medienseite feiert Michael Jeismann den heute mit Teil 1 beginnenden Mehrteiler "Speer und er" von Heinrich Breloer als fernsehgeschichtliches Ereignis. Und Jorfan Mejias berichtet, dass die Auflage amerikanischer Zeitungen sinkt.

Auf der letzten Seite schildert Dietmar Dath Impressionen von einer vom Staat Isreael veranstalten Journalistenreise zur Vorbereitung der Ausstellung "100 Jahre Kunst in Israel", die demnächst im Martin-Gropius-Bau eröffnet wird. Katja Gelinsky porträtiert den Bush nahestehenden Juristen C. Boyden Gray, der mit seinem "Committee for Justice" gegen linke Kollegen zu Felde zieht. Und Peter Jochen Winters erzählt, wie Walter Ulbricht die Problematik der Vergewaltigungen deutscher Frauen durch sowjetische Soldaten offiziell verdrängen ließ.

Besprochen werden Ferruccio Busonis Oper "Faust" in Stuttgart, die Operette "Phoenix - Wem gehört das Licht?" der Komikergruppe "Studio Braun" in Hamburg und die große Schiller-Gedenkausstellung im Marbacher Schiller-Nationalmuseum.

Spiegel Online, 09.05.2005

Hans Magnus Enzensberger reagiert im Spiegel auf die Kapitalismus-Debatte und sieht das mit der Revolution ganz anders als die FAZ: "Hoch die internationale Solidarität! Nieder mit der Bourgeoisie! Enteignung! Revolution! Leider ist dieses Rezept schon ein paarmal ausprobiert worden, und es gibt wenige Leute, die Lust darauf hätten, den Versuch zu wiederholen."

TAZ, 09.05.2005

In Russland muss die Freiheit der Kunst erst noch erstritten werden, kommentiert Sandra Frimmel mit Blick auf die Auseinandersetzungen um die Ausstellung "Vorsicht, Religion!", die im Januar 2003 von sechs ultraorthodoxen Gläubigen gestürmt und beschädigt wurde. Die Vandalen wurden freigesprochen, die Kuratoren verurteilt (mehr). "Vor diesem Hintergrund scheint sich hier der Wunsch des Staates - gestützt von großen Teilen der Bevölkerung- auszudrücken, sein Monopol auf die Kontrolle des künstlerischen Geschmacks zurückzugewinnen, so wie er es zu Sowjetzeiten durch die Künstlerverbände innehatte, die die gesamte offizielle Kunstproduktion kontrollierten. Russland befindet sich 14 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion immer noch, und das ist nach dieser relativ kurzen Zeit letztendlich nicht weiter verwunderlich in einer Situation, in der zahlreiche Grenzen erst noch ausgelotet werden müssen. Hierzu zählen wesentlich die Grenzen der Kunst, die zu Sowjetzeiten eben nicht frei, sondern staatlich gelenkt war - und mit ihnen der Publikumsgeschmack."

In der zweiten taz sieht Robert Misik keine Alternative zu Rot-Grün. Denn die Konservativen sind keineswegs aufgeklärt, sondern "wie eh machtgierige, böse Typen". Bloß, Roten wie Grünen fehlt es an Elan und Sprache. Susanne Lang begleitet Karl-Josef Laumann aus dem "agrophilen Münsterland", den neuen arbeitspolitischen Sprecher der Union. "Ohne Kameras ist er definitiv in Form." Albert Hefele belauscht ein Gespräch von Angela Merkel mit ihrem Friseur Udo Walz. Auf der Medienseite enttarnt Steffen Grimberg die Seilschaften des Geschichtsfernsehens.

Besprechungen widmen sich Bahman Ghobadis "authentischem" Spielfilm "Schildkröten können fliegen" sowie dem von Marc Amann herausgegebenen Reader "go.stop.act! Die Kunst des kreativen Straßenprotestes".

Und Tom.

FR, 09.05.2005

Schiller ist "tausendmal toter als Hitler", schließt der Literaturwissenschaftler Manfred Schneider aus dem Gedenktagswettbewerb der vergangenen Monate. Idealismus ist heute schwer aus der Mode. "Hitler gilt uns als der Totengräber des Idealismus, er hat den guten Willen und den Glauben einer ganzen Kultur gnadenlos vernichtet. Daher schauen ihm die Liebhaber der Geschichte so gerne noch zu. Er hat uns zur Vernunft gebracht, die uns jetzt aus den kühlen Augen der Konzernchefs und Fondsmanager anblickt. Leider sind es unsere eigenen Blicke, die diese Gänsehaut machen. Schiller sprach in seiner Abhandlung über die ästhetische Erziehung den Gedanken aus, dass der Mensch nur da ganz Mensch sei, wo er spielt, dass also der gute alte homo ludens das so genannte Humane zum Ausdruck brächte, der Künstler zumal. Unsere Vernunft liest das Wort so, dass der global player der zukünftige Prototyp der Menschheit sei."

Peter Iden lässt sich im Frankfurter Schauspiel von Peter Stein den ersten Teil des Wallensteins vorlesen und lehnt sich zufrieden zurück, hofft aber auf eine veritable Stein'sche Inszenierung in vielleicht zwei Jahren. In Times mager bekundet Jenni Zylka ihre Sympathie für das auf Liedern der Punkband Ramones basierende Musical "Gabba Gabba Hey - A Lower East Side Love Story", dessen deutsche Fassung vom Splatterfilmer Jörg Buttgereit inszeniert wird, fragt sich aber, wer dort hingehen soll. Und Daniel Kothenschulte feiert Robert Thalheims Film "Netto" als "echte deutsche Kino-Überraschung".

Im Medienteil beschreibt Schauspieler Sebastian Koch, der heute als Speer in Heinrich Breloers Dreiteiler "Speer und Er" zu sehen ist, im Interview mit Jan Freitag die notwendige Liebe zur Figur während der Dreharbeiten. "Die Zeit des Spielens ist definitiv eine verteidigende." Christian Thomas identifiziert "Konfrontation und Zuspitzung" als wichtigste dramaturgische Mittel Breloers.

NZZ, 09.05.2005

Andrea Köhler hängt Gedanken über St. Louis nach, den Ort, "an dem bemerkenswert viele Familienkatastrophen zu einem erfolgreichen Schriftstellerleben führten: T. S. Eliot, Mark Twain, Theodore Dreiser, Tom Wolfe, Kate Chopin und Marianne Moore haben hier gelebt und geschrieben. Für Tennessee Williams hatte die Stadt seiner Kindheit 'die Farbe getrockneten Bluts'." 1870 noch die viertgrößte Stadt Amerikas, 1904 Schauplatz der Weltausstellung, 1927 Namenspatronin der Maschine, die Lindbergh über den Atlantik trug, hat sich der "Spirit of St. Louis" seither mehr und mehr verflüchtigt. "1980 war St. Louis auf Platz siebenundzwanzig der amerikanischen Großstädte gerutscht. 'Die Stadt war krank', heißt es in Jonathan Franzens Roman 'Die 27ste Stadt'. Doch wenn die Stadt krank ist, dann ist ihre Krankheit schleichend. Es ist, als sei dieser Ort vor sich selbst auf der Flucht."

Weiteres: Claudia Schwartz kommentiert die Zukunft der Berliner Erinnerungslandschaft mit ihren Gedenkstätten, Denkmälern und Museen: "Man muss nicht so weit gehen wie Götz Aly, der in der Süddeutschen Zeitung den Berliner Erinnerungsorten 'Verwahrlosung' vorwirft. Dennoch ist die geschichtspolitische Debatte mehr als fällig." Roman Bucheli klagt, dass das Literaturfestival mit Buchmesse in Basel nicht nur größer, sondern auch lauter geworden ist. Besprochen werden Ferruccio Busonis "Doktor Faust" in der Stuttgarter Produktion von Jossi Wieler und Sergio Morabito, Werner Düggelings Inszenierung von Molieres "Der Geizige" am Schauspielhaus Zürich und Xavier Dayers "Memoires d'une jeune fille triste" in Genf.

Welt, 09.05.2005

Die Welt hat Schauspieler und Regisseure befragt, warum auf deutschen Bühnen kein Schiller mehr gespielt wird. Hübsch, wie sich alle gegenseitig den Schwarzen Peter zuspielen. Schauspieler Ulrich Mühe: "Schauspieler können Schiller durchaus noch sprechen. Nur fehlen die Regisseure, die sich dafür interessieren." Regisseur Peter Stein: "Seit Jahren biete ich eine 'Wallenstein'-Inszenierung an wie sauer Bier. Niemand will sie. Das Problem bleibt, daß es keine Schiller-Sprecher mehr gibt."

Tagesspiegel, 09.05.2005

Was hätte Schiller zu Heinrich Breloers "Speer und er" gesagt, fragt Christina Tilmann und bringt damit die Themen des Tages in einen Satz. "Wie geht man mit negativen Helden um? Hitler als Mensch, Goebbels als Ästhet, Speer als Familienvater - geht das? Und was bringt es? Schiller hat es vorgeführt: Fiesco, ein Intrigant, Verschwörer, einer, der sich durch Macht korrumpieren lässt. Posa, der Idealist, der für seine Ideale eine Freundschaft, eine Welt zu opfern bereit ist. Wallenstein, der abtrünnige Feldherr. Oder der Despot Philipp II. als schwacher Mensch: 'Der König hat geweint' lautet der Schlüsselsatz einer Schlüsselszene in 'Don Carlos'.

SZ, 09.05.2005

Erhaben wird das Denkmal für die ermordeten Juden Europas (mehr) nie, meint Gerhard Matzig, eher ein Schauplatz im Krieg der Zeichen. Der Krieg hat schon begonnen. "Das Hakenkreuz ist so groß wie die Hand eines Mannes, befindet sich etwa anderthalb Meter über dem Boden und wurde mit blauem Kugelschreiber offensichtlich in Hast auf die östliche Breitseite einer der größeren, beinahe haushohen Stelen gekritzelt. Wenn man vom langgezogenen südwestlichen Eck des trapezförmig verformten Areals zwischen Ebertstraße und Hannah-Arendt-Straße ausgeht, dann findet man die solcherart herausragende Betonscheibe in der 19. Reihe in östlicher und in der 22. Reihe in nördlicher Richtung."

Auf der ersten Seite, die ganz dem Mahnmal gewidmet ist, befürchtet Gustav Seibt, dass sich das zu klein geratene unterirdische Informationszentrum zum "wunden Punkt" der Anlage entwickeln könnte. Holger Liebs gefällt die Offenheit, die das Mahnmal vermittelt und selbst darstellt. "Wie bei der abstrakten Kunst des Minimalismus wird im Berliner Stelenfeld allein durch die Formation der steinernen Blöcke ein theatralischer Ort definiert, in dem man selbst zum einzigen Darsteller wird." Und Lothar Müller lässt noch einmal die Diskussion über das Mahnmal Revue passieren.

"Was für ein grandioser Abend!" Freudentrunken besingt Reinhard J. Brembeck Jossi Wiehlers Inszenierung der Oper "Doktor Faust" des Musikvisionärs Ferruccio Busoni an der Staatsoper Stuttgart. "Das ist erzählende Musik, und sie erzählt nur von Einem: von Faust. Nicht vom Goethe-Faust, sondern vom Faust des Puppenspiels. Den hat sich Busoni in seinem eigenen, etwas verquast auf Deutsch geschriebenen Libretto anverwandelt, und Gerd Grochowski ist stimmlich wie darstellerisch der ideale Mann für dieses Stück, das Regisseur Jossi Wieler und Dramaturg Sergio Marabito konsequent als Künstlerdesaster im Heute verankern. Ein alternder Sonnyboy ist dieser Faust, der in einem heruntergekommenen Atelier haust."

Weitere Artikel: "Auf diese Phrasen können sie bauen." Zum 200. Todestag Friedrich Schillers versammelt die Redaktion geflügelte Worte des Dichters auf einer Seite und kommentiert sie. Peter Burghardt treibt die sorge um, dass Spanien wieder auseinanderbrechen könnte - der Ton zwischen Sozialisten und Nationalkonservativen verschärft sich. "Es ist wie ein zweiter Übergang, drei Jahrzehnte nach dem ersten." Nach einer Tagung zu den Enteignungen in der DDR rät Arne Boecker den Alteigentümern, sich auf den politischen Lobbyismus statt auf die Gerichte zu konzentrieren. Stefan Koldehoff sorgt sich, dass im Kölner Wallraf-Richartz-Museum die Sponsoren die Macht übernehmen. Tobias Timm wirbt für den Designmai in Berlin. "Aus der Leistungsschau der Berliner Bastler ist eine richtige Messe geworden." Auf der Medienseite kolportiert Klaus Ott, dass Anke Schäferkordt Ende des Jahres zur RTL-Chefin gekrönt werden soll.

Besprochen werden Heinz Strunks Stück "Phoenix", eine Bühnenadaption seines Romans "Fleisch ist mein Gemüse" im Hamburger Schauspielhaus, Claus Peymanns Inszenierung von Max Frischs "Andorra" am Berliner Ensemble ("Ein trauriger Abend, weil Claus Peymann sich selbst demontiert", seufzt C. Bernd Sucher), Nicole Kassells Film The Woodsman, in dem Kevin Bacon einen verstörend ambivalenten Triebtäter gibt sowie Robert Thalheims Film "Netto".