Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.06.2005. In der SZ erklärt Rem Koolhaas die Türken und Osteuropäer zu den wahren Europäern. In der NZZ plädiert Ulrich Beck für ein kosmopolitisches Europa. Im Spiegel fordert uns Leon de Winter auf, den Niederländern dankbar zu sein. In der Welt erklärt New-York-Times-Kolumnist David Brooks die Europäer zu Angsthasen. In der FAZ sieht Michael Zeeman das Nee als Fortführung des Fortuyn-Aufstandes. Die taz prophezeit uns die "Generation Frank". Und alle schreiben über Zadeks "Totentanz" in Wien.

SZ, 03.06.2005

"Das französische Nein war relativ vernünftig. Das holländische Nein ist hingegen ein rein romantisches Nein", behauptet der Architekt Rem Koolhaas, der zusammen mit seinem Kollegen Reinier de Graaf im Interview mit Jörg Häntzschel nach Erklärungen für die Ablehnung der EU-Verfassung sucht. "Ich war kürzlich in der Türkei. Es ist ein unglaublich energiereiches Land, das mit den unterschiedlichsten Visionen am Konzept eines südosteuropäischen Europa arbeitet. Sie betteln nicht darum, Teil der EU zu werden, sondern begreifen die Kandidatur als Herausforderung, darüber nachzudenken, wer sie sein wollen. Es sind gerade die neuen EU-Staaten und die, die es werden wollen, welche die kreative Dimension von Europa begreifen. Die Mentalität an der EU-Peripherie erscheint mir viel europäischer als die im etablierten Zentrum, wo man matt ist und verängstigt angesichts der vielen neuen Gesichter."

Weiteres: Franziska Augstein fasst die Berliner Tagung zusammen, auf der deutsche und spanische Intellektuelle über das Erinnern an die faschistische Vergangenheit diskutierten. Einen "magenstärkenden, beglückenden Abend" hat Alex Rühle beim Konzert von Mark Oliver Everett verbracht, auch so ein selbstbewusster Songwriter. Auf die Frage, ober er sich Sartre verwandt fühle, soll Everett geantwortet haben: "Klar, aber der rockt nicht so wie ich." Fritz Göttler gratuliert dem in allen Genres bewanderten Luftikus Tony Curtis zum Achtzigsten. Ebenfalls zum Achtzigsten gratuliert Lothar Müller den Schriftsteller Gerhard Zwerenz.

Besprochen werden Peter Zadeks Inszenierung von Strindbergs "Totentanz" bei den Wiener Festwochen (den Christopher Schmidt recht matt fand: "Man ist unterwegs mit fußlahmen Eheschlachtenbummler"), die Ausstellung "Wasser - Mythos und Naturgewalt" in der Münchner Hypo-Kunsthalle, Lajos Koltais Kertesz-Verfilmung "Roman eines Schicksallosen" und Bücher, darunter Mihail Sebastians Tagebücher "Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt", Daniel Ichbiahs Geschichte der Roboter und Kinderbücher (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Welt, 03.06.2005

New-York-Times-Kolumnist David Brooks glaubt, dass in Frankreich und den Niederlanden vor allem eine "Psychologie der Stagnation" bewirkt hat: "Getrieben von der Zukunftsangst, fand jede Gruppe des politischen Spektrums etwas, von dem sie sich bedroht fühlen konnte. Für die sozialistische Linke war es die Drohung der ökonomischen Liberalisierung. Für Teile der Rechten war es die Drohung der Türkei. Für die Populisten war es die Arroganz der Brüsseler Eliten. Für wieder andere war es die Aussicht auf einen zentralisierten europäischen Superstaat. Viele dieser Ängste schlossen sich gegenseitig aus. Die einzige Gemeinsamkeit war die Angst selbst, die Sehnsucht danach, angesichts großer Veränderungen und Umwälzungen festzuhalten, was man hat."

NZZ, 03.06.2005

Der Europäischen Union, die eine "Krämerseele auf der Suche nach einem Sinn" sei, unterbreitet der Soziologe Ulrich Beck seine "kosmopolitische" Europa-Vision. "Der europäische Integrationsprozess erfolgte lange Zeit primär durch die Aufhebung von Differenz, das heißt von nationalen und lokalen Unterschieden. Kosmopolitische Integration dagegen beruht auf einem Paradigmenwechsel, der besagt: Vielfalt ist kein Problem, sondern die Lösung. Danach darf sich die weitere Integration Europas nicht an den überkommenen Vorstellungen eines einheitlichen europäischen 'Bundesstaates' orientieren, sondern muss die unabänderliche Vielfalt Europas zum Ausgangspunkt nehmen. Nur auf diese Weise wird es möglich, in der Europäisierung zwei auf den ersten Blick sich ausschließende Anforderungen zu verbinden: die Anerkennung von Differenz einerseits und die Integration der Verschiedenen andererseits."

Barbara Villiger Heilig ist hingerissen von Peter Zadeks "Totentanz"-Inszenierung bei den Wiener Festwochen. Zadeks Entscheidung, auch den zweiten Teil des Strindberg-Stückes aufzuführen, hält sie für goldrichtig: "Durch dieses kaum je aufgeführte Stück, das Zadek jetzt ausgräbt, erhält die großartige Inszenierung ihr eigentliches Format."

Weiteres: Ein "für den Tanz zukunftsweisendes" Kooperationsmodell sieht Lilo Weber in der länderübergreifenden Trägerschaft für die Forsythe Company. Alexandra Kedves befragt Matthias Hartmann zu den Plänen für seine bevorstehende Intendanz in Zürich. Christina Thurner wohnte der Eröffnung der dem Thema "Komik im Tanz" gewidmeten 18. Berner Tanztage bei und freut sich: "Es darf wieder gelacht werden in der Tanzvorstellung." Besprochen werden ein Sammelband über "Grundlagen der Filmwerbung und Filmvermarktung" sowie Kaspar Fierz' Lehrbuch über den "Schweizer Immobilienwert".

Auf der Filmseite geht's um Stephen Chows Hongkong-Schlager "Kung Fu Hustle", John Waters antipuritanischen Film "A Dirty Shame" und Nicole Kassels Debüt "The Woodsman".

Auf der Medienseite erfahren wir von "ras", der die Jahrestagung der Zeitungsverleger in Seoul besucht hat, dass die Zeitungen "'konsumentenorientierter'" werden müssten, wie sich Michael Golden, Verleger der International Herald Tribune ausgedrückt habe. Insgesamt sei der Trend auf dem Zeitungsmarkt aber überaus positiv bewertet worden, wobei die asiatische Druckpresse die Nase vorn hat: "Drei Viertel der hundert auflagenstärksten Blätter werden inzwischen in Asien hergestellt."

Ein weiteres Thema der Tagung war angesichts der Selbstenttarnung von "Deep Throat" die Pressefreiheit, wie "ras" in einem weiteren Artikel darlegt. Sie sei "nicht nur in Südamerika, Afrika und Asien unter Druck, sondern auch in den USA in einer heiklen Phase. Die Zeitungsverleger verweisen auf den Fall eines Fernsehreporters in Providence, der zu sechs Monaten Hausarrest verurteilt wurde, weil er seine Quelle nicht preisgeben wollte ... Noch schwieriger ist die Lage etwa in Russland oder Malaysia, wo Journalisten unter Lebensgefahr arbeiten müssen. Dem Chefredaktor der indonesischen Tageszeitung 'Tempo Daily' wurde angedroht, seine Büros niederzubrennen, wenn er nicht den Namen einer Quelle nenne."

Spiegel Online, 03.06.2005

Bereits gestern hat der Schriftsteller Leon de Winter erklärt, dass wir den Niederländern dankbar sein sollen: "Vielen Menschen geht es mit der EU zu schnell. Sie wissen nicht, ob sie ihre Souveränität abtreten wollen. Vor allem möchten sie von der Politik stärker einbezogen werden. Die EU ist nicht demokratisch, sie wird geführt von Beamten und politischen Eliten in Brüssel. Aber die Bürger wünschen sich mehr direkte Demokratie... Gerade um Europa zu schützen, haben wir mit 'Nee' gestimmt. Eine Zustimmung hätte doch nur nationalistische Kräfte gestärkt, die vorhandene Ängste vor der EU ausgenutzt hätten. Das Ergebnis der Abstimmung ist nicht überraschend. Überraschend ist nur, dass die Politiker die Stimmung der Bürger bisher nicht richtig verstanden haben. Jetzt setzt eine Diskussion über Europa ein. Und wenn sie dazu führt, dass Europa transparenter und demokratischer wird, ist es ein Erfolg."

FR, 03.06.2005

Peter Iden war offensichtlich froh, Zadeks "Totentanz"-Inszenierung in Wien überlebt zu haben. "Aus dieser Aufführung von Strindbergs 'Der Totentanz' ('Dödsdansen') kommen die Zuschauer wie aus einem Krieg. Mitgenommen, um nicht zu sagen: schwer angeschlagen sind sie von den erbitternden Verlusten an Glück, Zukunft, Leben der Menschen, deren Zeugen sie vier Stunden lang waren. Aber es gibt zugleich auch das Gefühl der Erleichterung, selber immerhin (noch) nicht eines der Strindbergschen Opfer zu sein, Elias Canetti hat es in 'Masse und Macht' als die Empfindung der Überlebenden am offenen Grab beschrieben."

Weitere Artikel: Harry Nutt meint über Non und Nee: "Der antieuropäische Affekt ist auf dem Weg, die wirkungsmächtigste soziale Bewegung der Nachkriegsgeschichte zu werden." Oliver G. Hamm ist enttäuscht von der Architekturbiennale in Rotterdam, die sich mit Ausstellungen und in Konferenzen dem Thema "Die Flut" widmete. Und Elke Buhr nimmt in Times Mager die Wiederkehr von Bob Geldorfs Konzerten für die Entwicklungshilfe eher ungnädig auf: "Zwischen all den Comeback-Kandidaten feiert dabei das bewährte entwicklungshelferische Prinzip sein Revival, für die Notleidenden zu sprechen und zu singen, niemals aber mit ihnen: Außer Youssou N"Dour darf kein Afrikaner seine Stimme erheben."

TAZ, 03.06.2005

In tazzwei kündigt Patrik Schwarz die neue Generation an. Nicht die "Generation Guido", die der Spiegel vor vier Jahren ausrief, nein, es kommt die "Generation Frank". "Frank mit großem F, einem zu großen F, wie manche meinen. Unumstritten aber ist Frank Schirrmacher ein Titan des Großmarketings großer Ideen. Eine Biografie in Schlagworten: Kronprinz von Marcel Reich-Ranicki im FAZ-Feuilleton, rasch FAZ-Herausgeber, dort Erfinder der publizistischen Zweitverwertung der Desoxyribonukleinsäure (DNS) und nach seiner Gentech-Phase ('CGAATTCGA') umgesattelt auf biologische Altertumsforschung mit dem Bestseller "Hilfe, wir werden alt" (oder so ähnlich). Jetzt ist Frank wieder jung, verjüngt durch die Aussicht auf den Sieg der Seinen, der weniger ein politischer sein wird oder gar ein parteipolitischer, da ist Frank unabhängiger, als Kritiker ihm unterstellen, nein, die Seinen sind die Mittvierziger."

Im Kulturteil denkt Jan Engelmann darüber nach, was es eigentlich heißt, Vater zu sein. Gerrit Bartels war dabei, als im Literarischen Colloquium Berlin das Programm des 29. Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs präsentiert wurde: "Immerhin, das lässt sich beim Studium der Namen und Biografien leicht feststellen, hat es selten so wenige bekannte Gesichter gegeben wie in diesem Jahr."

Besprochen werden das "große neue Album" der White Stripes "Get Behind Me Satan" und die CD "On Another Level" von Los Hermanos.

Schließlich Tom.

FAZ, 03.06.2005

Die Internetseite der FAZ will sich heute morgen nicht öffnen. Deshalb leider keine Links zu Artikeln.

Der niederländische Publizist Michael Zeeman erklärt das "Nein" zu Europa mit einem Gefühl des Identitätsverlusts in der Bevölkerung und einer neuen Zuwendung zur nationalen Geschichte, und er glaubt, "dass wir es hier mit einer Fortsetzung des Fortuyn-Aufstandes von 2002 zu tun haben. Es besteht eine besorgniserregende Kluft zwischen dem politischen Establishment und der Wählerschaft, und diese Kluft heizt das Misstrauen weiter an, bei europäischen Fragen ganz besonders." Das Nein in Frankreich und Holland will Zeemann als Chance verstehen: "In gewisser Hinsicht sind beide Ergebnisse als Beitrag zur Demokratisierung von Europa zu verstehen."

Auf der Medienseite berichtet Jürg Altwegg über die zum Teil wenig rühmliche Rolle des Internets beim Zustandekommen des französischen "Nein". "Die 'Verschwörung der Jajasager', die sie den Medien unterstellten, war der geschickteste Schachzug der Opposition. Er suggerierte, dass in der Presse Zensur geübt und das Volk bevormundet wird, während im Internet - und nur hier - die Wahrheit gesagt werden darf. Das Nein entwickelte eine derartige Energie, dass die Unterschiede und Feindseligkeiten zwischen Trotzkisten, Kommunisten, Neofaschisten, Anarchisten, Souveränisten überhaupt keine Rolle mehr spielten."

Weitere Artikel: Hubert Spiegel berichtet, dass heute der Rechtschreibrat tagt, um Schicksalsfragen der deutschen Orthografie zu erörtern. Auf der letzten Seite verrät zugleich der Rechtschreib-Experte Theodor Ickler, was er groß und klein schreiben würde. Christian Welzbacher berichtet, dass aus der katholischen Kirche Sankt Raphael mit dem Segen der Kirche ein Supermarkt werden soll. Florentine Fritzen resümiert eine Hamburger Tagung zur Geschichte des Bürgertums. In seiner Kolumne "Künststücke" erklärt Eduard Beaucamp das Holocaust-Mahnmal aus dem Traditionszusammenhang der amerikanischen "Land Art". Freddy Langer gratuliert dem Fotografen Helmut Nothhelfer zum Sechzigsten. Andreas Rossmann meldet, dass der Däne Niels Brunse für seine Übersetzung der "Buddenbrooks" den NRW-Übersetzerpreis erhält. Robert von Lucius berichtet von glücklosen Andersen-Geburtstagsfeiern in Kopenhagen und Rücktritten im Festkomitee.

Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld über den Skandal des fortgesetzten heimlichen Produktplacements ("Nehmen Sie doch dieses herrlich entspannende Schaumbad mit") in der ARD-Serie "Marienhof". Und Rainer Hermann schreibt über den Mord an dem liberalen libanesischen Publizisten Samir Kassir, der mit eine Autobombe umgebracht wurde - eine Tat, die höchstwahrscheinlich auf das Konto des syrischen Geheimdienstes geht.

Auf der letzten Seite zitiert Christian Schwägerl eine Stellungnahme des nationalen Ethikrats zum Thema Patientenverfügung, die den Patienten große Autonomie zugesteht. Und Mark Siemons stellt die chinesische Blues-Sängerin Liu Sola vor, die im Haus der Kulturen der Welt auftreten wird.

Besprochen werden Lajos Koltais Verfilmung des "Romans eines Schicksallosen" von Imre Kertesz (die auch vor Andreas Kilbs Augen keine Gnade findet), eine Ausstellung des Zeichners Franz Kobell in der Pinakothek der Moderne, ein Konzert des Jazzgitarristen Pat Metheny in Frankfurt und Peter Zadeks Inszenierung von Strindbergs "Totentanz" bei den Wiener Festwochen, die Gerhard Stadelmaier nicht zufrieden stellt: "Es geht hier nichts zusammen. Aber dass nichts zusammengehen soll, geht auch nicht zusammen."