Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.06.2005. In der SZ skizziert Norbert Lammert die künftige Kulturpolitik der Regierung Merkel. In der taz spricht Imre Kertesz über die Verfilmung seines "Romans eines Schicksallosen". In der NZZ verweht wegen der Machenschaften von Nichtrauchern die Aura der Geistigkeit. Die FAZ beklagt antideutsche Töne in Polen.

TAZ, 08.06.2005

Imre Kertesz verteidigt im Interview die Verfilmung seines "Romans eines Schicksallosen" und erklärt, warum er sich in der jungen Hauptfigur nicht wiedererkennt: "Wenn ich jetzt den Film sehe, hat das mit mir selbst und mit meiner Erinnerung nicht viel zu tun. Ein Schriftsteller hat einen ganz anderen Stoffwechsel mit der Wirklichkeit als andere Menschen. Der Schriftsteller verarbeitet seinen harten Stoff, und dadurch, dass er ihm Form gibt, wird er auch erleichtert von seinem schwierigen Material, von der Wirklichkeit. Die Erinnerung an das Konzentrationslager ist bei mir literarisch geworden. Als ich meine Erfahrungen literarisch verarbeitet habe, habe ich Distanz dazu gefunden."

Weitere Artikel: Stephan Wackwitz setzt die Reihe "Rot-Grün, wir danken dir" fort. Besprochen werden Garth Jennings' Film "Per Anhalter durch die Galaxis" und der "Wallenstein", den die Gruppe Rimini Protokoll in Mannheim inszeniert hat.

Schließlich Tom.

SZ, 08.06.2005

Gestern hat die FAZ den CDU-Politiker Norbert Lammert als möglichen Staatsminister für Kultur in einer CDU-Regierung vorgestellt, heute gibt Lammert im Interview mit Jens Bisky schon mal seine kulturpolitischen Überlegungen bekannt: Man könnte ein richtiges Ministerium für Kultur schaffen, überlegt er, man könnte ihm die auswärtige Kulturpolitik unterordnen, man könnte Kulturstiftungen der Länder und des Bundes vereinigen, und man könnte fragen, "ob - ungeachtet der Betreiberfrage - die Staatsoper Unter den Linden nicht ein nationales Kulturdenkmal ist, das unter diesem Gesichtspunkt gleichermaßen in die Verantwortung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und damit des Bundes gehört wie die Museumsinsel auch. Aus einer solchen Konstellation heraus könnte man eine intelligente, nachhaltige Lösung finden. Ich sehe mit großem Respekt, dass sich ein Freundeskreis der Staatsoper aufmacht, die überfällige Sanierung des Hauses nicht nur zu fordern, sondern sich daran auch in einer beachtlichen Größenordnung zu beteiligen. Man könnte hier, möglicherweise exemplarisch für das sehr viel größere Projekt Berliner Schloss, Public-Private-Partnership erproben."

Clemens Pornschlegel versucht den französischen Antiliberalismus zu verstehen, der ja keineswegs nur die Linke umtreibt, und findet dazu ein hübsches und hoch aktuelles Zitat aus den "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" von Jacob Burckhardt: "Man erwartet alles vom Staat. Man oktroyiert ihm in sein täglich wachsendes Pflichtenheft schlechtweg alles, wovon man weiß oder ahnt, dass es die Gesellschaft nicht tun werde."

Weitere Artikel: Im Aufmacher wirft Holger Liebs schon mal einen Blick auf die Kunstbiennale von Venedig, die am Samstag eröffnet wird. Bernd Graff sucht nach den Motiven des Steve Jobs, der seine Apple-Computer neuerdings mit Intel-Chips ausstatten will. "zig" glossiert die Aufforderung, die Internationale Weltraumstation ISS mit Kunst auszustatten, als Sieg des Feuilletons über die Unendlichkeit. Marcus Jauer stellt die neue "Live 8"-Initiative von Bob Geldof vor. Harald Eggebrecht schreibt zum Tod des großen Cellisten Siegfried Palm. Carl Wilhelm Macke schreibt zum Tod des Juristen und Publizisten Jürgen Seifert. Mercedes Bunz hat die Tagung "The Shape of the Experiment" des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin verfolgt.

Auf der Literaturseite erinnert Gangolf Hübinger an den liberalen Historiker und Ranke-Kontrahenten Georg Gottfried Gervinus. Besprochen wird unter anderem Laszlo Krasznahorkais Roman "Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluss" (der auch zu den Büchern des Monats beim Perlentaucher gehört).

Weiter besprochen werden eine Piet-Mondrian-Ausstellung in der Albertina Wien und die Verfilmung des Klassikers "Per Anhalter durch die Galaxis".

Und nebenbei die Nachricht, dass Jürgen Habermas' Text zum franzöischen "Nein" inklusive Kerneuropa-Hoffnung jetzt auch online steht.

FR, 08.06.2005

Kerstin Grether stellt ausführlich Nick Hornbys neuen Roman "A Long Way Down" vor, auch wenn bei Hornby eh immer schon alle wissen, was drin steht. "Man könnte dieses Phänomen 'Hornbyismus' nennen. Denn der britische Popautor ist eine Marke, die auf den Leser verweist. Wie auf etwas Bekanntes, wie auf eine bereits bestandene Bewährungsprobe: Wir sind Hornby. Wir haben das alles schon durch. Das Leben und das Denken in Kultur."

Stefan Schickhaus schreibt zum Tod des Cellisten Siegfried Palms. In Times Mager stellt Harry Nutt fest: Das Holocaust-Mahnmal ist "schon jetzt eine der größten Touristikattraktionen Berlins" und "hat bereits nach einem Monat die Schwere der Debatte abgestreift".

Besprochen werden die Ausstellung "Kunst aus Auschwitz 1940 - 1945" im Centrum Judaicum in Berlin und Bücher, darunter Jose Lezama Limas "Inferno" und Dea Lohers Erzählungsband "Hundskopf" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 08.06.2005

"Seit die gesundheitspolitisch erleuchteten Gesellschaften des Westens dabei sind, sich mit apostolischem Sendungsbewusstsein in raucherreine Zonen zu transformieren, kann dem Wissen um die Existenz des Weltnichtrauchertages (31. Mai) niemand länger ausweichen", schreibt Joachim Güntner aus jenem Anlass, wenn auch (aus Trotz?) mit einwöchiger Verspätung. "Schweden zum Beispiel hat vorige Woche ein Rauchverbot für alle seine Diskotheken, Kneipen und Restaurants erlassen und folgt damit dem Vorbild Norwegens, Italiens, Irlands, Maltas, Kaliforniens und New Yorks ... Doch wie alle Zwangskollektivierungen fordert auch das behördliche Bemühen um ein einig Volk von Nichtrauchern unschön Tribut vom kulturellen Pluralismus", klagt Güntner und erinnert sich wehmütig an die "Aura von Geistigkeit", die dem "blauen Dunst" einst angehaftet habe.

Weitere Artikel: Samuel Herzog begeht acht gigantische Stahlskulpturen des Amerikaners Richard Serra im Guggenheim Bilbao und muss sich anstrengen, "die Balance zu halten, den Norden nicht zu verlieren." Und Alfred Zimmerlin trauert um den am 6. Juni im Alter von 78 Jahren verstorbenen deutschen Cellisten Siegfried Palm.

Besprochen werden eine auf zwei Schiller-Gedichten basierende Produktion der Choreografin Reinhild Hoffmann mit den Komponisten Isabel Mundry und Brice Pauset am Nationaltheater Mannheim, Robert Schindels auf neun CDs erschienene Lesung seines Romans "Gebürtig", ein Konzert des Dirigenten Valery Gergiev mit dem Kirow-Orchester Sankt Petersburg in Zürich, sowie Bücher, darunter die Montefeltro-Biografie "Die Nase Italiens" von Bernd Roeck und Andreas Tönnesmann, Claudio Magris' Roman "Alla cieca", Hansjörg Schertenleibs Novelle "Der Glückliche", sowie Helmut Kraussers Geschichte "Die wilden Hunde von Pompeji", in der Christiane Zintzen "Antike und Gegenwart, Mythos und Pop, real existierende Ruinen und furios fabulierende Phantasie ... zum literarischen Glücksfall zusammen(schießen)" sieht (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 08.06.2005

Karol Sauerland traut seinen Augen nicht, wenn er in der polnischen Ausgabe von Hitlers "Mein Kampf" das Vorwort des Journalisten Bogdan Michalski liest. "Nach Michalski sollten die Studenten der Geschichte und Politologie 'Mein Kampf' lesen, um sich klarzumachen, wie sich die Deutschen nach einer Herrschaft über die anderen Völker sehnen. Diese Sehnsucht sei auch nach 1945 noch lebendig geblieben, was aus dem Streben Deutschlands zu ersehen sei, einen festen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu erlangen. Durch die Kenntnis von 'Mein Kampf' werde die Deutschlandkunde in Polen erheblich vertieft." Ob das Buch weiter erscheinen darf, ist noch strittig. Wegen Hitler, nicht wegen Michalski.

"Die drei klassischen Motive für Kinder sind Sex, Kinderliebe und Alterssicherung. Die Medizin hat den Sex abgekoppelt, Bismarck die Alterssicherung. Nur noch die Kinderliebe blieb übrig, aber offenkundig reicht sie nicht aus." Der Wirtschaftsforscher Hans-Werner Sinn macht deshalb Vorschläge zur Familienpolitik. Er plädiert für das Einfrieren der Rentensätze, eine verpflichtende erweiterte Riesterrente für Kinderlose und vor allem eine Kinderrente für Eltern, die "als Bürgerversicherung ausgestaltet ist. Diese Rente gewährt allen Eltern unabhängig von ihrer früheren Berufstätigkeit, insbesondere auch den nicht berufstätigen Müttern, eine umlagefinanzierte Rente, die aus Beiträgen finanziert wird. Die Beiträge werden von allen Erwerbstätigen in Proportion zu ihren Lohneinkommen bezahlt, denn alle haben sie Eltern."

Weitere Artikel: Horst Köhler sollte Gerhard Schröder die Neuwahlen verweigern, meint der ehemalige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm (mehr) nach einer umfassenden historisch-dogmatischen Analyse im Aufmacher. Annette Zerpner kann auf einem internationalen Treffen der Kinderbuchautoren in Montreal keine Unterschiede zwischen hiesigen Künstlern und ihren Kollegen aus Quebec erkennen. Eleonore Büning verschafft sich einen Überblick darüber, was in den drei Berliner Opernhäusern in der Saison 2005/2006 geplant ist und zweifelt nebenbei am Bestand der Opernstiftung. Gerhard Rohde schreibt zum Tod des Cellisten Siegfried Palm, dem die Neue Musik einige Anregungen verdankt."hhm" fürchtet, dass der TÜV nach Reiseführern auch bald Zeitungen testen wird. Rüdiger Klein beschreibt das von Bernhard Heid begonnene und nun von seinen Kindern fertiggestellte Haus B. in Höchberg.

Die letzte Seite: "Wie sechs Wassertropfen sind sie im Sand versunken", kommentiert Zhou Derong das Verschwinden von sechs Demonstranten bei den jüngsten Unruhen im chinesischen Chonqing. Iris Hanika besichtigt noch einmal den Bahnhof Zoo, "solange noch Fernbahnen halten in West-Berlin". Und Manfred Lindinger stellt die Biophysikerin Viola Vogel vor.

Besprochen werden Jun Ichikawas Film "Tony Takitani", der auf einer Erzählung von Haruki Murakami basiert, eine Ausstellung im Kölner Museum Ludwig, die leider "allzu förmlich" Max Beckmann und Fernand Leger miteinander konfrontiert, die Schau "Coolhunters" im Zentrum für Kunst- und Medientechnologie Karlsruhe, das neuntägige Weltmusik-Festival "Fächerwelt", ebenso in Karlsruhe, und Bücher, darunter Charles Brockden Browns Fragment "Aus den Erinnerungen von Carwin dem Bauchredner" sowie Alexander von Schönburgs Ratgeber über "Die Kunst des stilvollen Verarmens" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).