Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.06.2005. Um die Beutekunst zurückzubekommen, würde die FAZ sogar Russland recht geben. In der Berliner Zeitung fordert Christina Weiss ein Bundeskulturministerium. Der taz kommen Honeckers Staatskarossen so bekannt vor. In der Welt kritisiert Hussain al-Mozany den arabischen Missbrauch des Koran. Die NZZ erwärmt sich für ein T-Shirt mit eingenähten Kirschkernen.

TAZ, 17.06.2005

In der tazzwei berichtet Martin Reichert über eine Auktion, auf der morgen die letzten Staatskarossen von Erich Honecker unter den Hammer kommen. Es handelt sich dabei um "hydropneumatisch gefederte Citroën-CX-Sänften" mit "Blaulicht und Standartenträger", die Langversion soll mindestens 18 000 Euro einbringen. "In Westdeutschland war der CX, ähnlich den großen Modellen von Volvo und Saab, bevorzugtes Gefährt von linken Besserverdienern: so teuer wie ein Mercedes, aber mit eingebautem Understatement statt Stern auf der Haube. Oberstudiendirektoren fuhren damit zur Schule, Lea Rosh zu Diskussionsrunden über Umweltverschmutzung, und WDR-Schimanski jagte mit einem CX turbodieselnd Verbrecher - ein ungewöhnliches Auto für ungewöhnliche Leute, das konsequent mit der avantgardistischen Pop-Ikone Grace Jones beworben wurde."

In einem Interview im Kulturteil erzählt der Gitarrist Ry Cooder über die Veränderung des mexikanischen Teils von Los Angeles und den Pachuco-Stil der Fünfzigerjahre. "Nach dem Krieg wollten diese Jugendlichen ihren Spaß haben. Sie gingen aus, die Mädchen trugen Kleider, High Heels und Make-up, und die Jungs cruisten nächtens in ihren Lowrider-Cars durch die Stadt. Ein Pachuco war jemand, der hip war. Er trug keinen Sombrero, sondern scharfe Klamotten, die man sich bei den Schwarzen abschaute. Pachuco war im Grunde eine Mischung aus schwarzer und mexikanischer Jugendkultur, mit einem eigenen Slang. Heute ist das alles Vergangenheit. Heute ist jedermann Mittelschicht."

Außerdem berichtet Uwe Mattheis über eine Veranstaltung im Wiener Parlament, auf der sich zeigte, dass Elfriede Jelinek flächendeckend vereinnahmt wird: "von der österreichischen Rechten zur Hassabfuhr, von der Linken zur Wunscherfüllung". Und in der zweiten taz bereitet Arnold Lane auf das "Live 8"-Benefiz-Konzertspektakel am 2. Juli in London vor, bei dem erstmals seit 1981 Pink Floyd in Originalbesetzung auf der Bühne stehen wird.

Des Weiteren gibt es Besprechungen: Esther Buss stellt den Werkzyklus "For Example: Dix-Huit Leçons Sur La Societe Industrielle (Revision I)" von Christopher Williams im Kunstverein Braunschweig vor und Jan Kedves hörte das neue Album der Gorillaz "Demon Days".

Und hier TOM.

Berliner Zeitung, 17.06.2005

Staatsministerin Christina Weiss sieht einer unionsgeprägten Kulturpolitik im Gespräch mit Birgit Walter und Sebastian Preuss relativ gelassen entgegen. "Es ist durchaus möglich, dass mit einer konservativen Politik auch die Regionalisierung und Provinzialisierung wieder zunimmt. Das muss aber nicht sein, weil es inzwischen dieses Amt gibt. Jeder, der es ausfüllt, denkt automatisch über Ländergrenzen hinweg." Nebenbei fordert sie wie CDU-Kulturpolitiker Norbert Lammert ein Bundeskulturministerium. "Deutschland muss als Kulturnation nach außen erkennbar sein. In Brüssel kann das Land nur einer vertreten, nicht 16 Kultusminister. Der Bund definiert sich doch über die Summe der Länder und arbeitet nicht gegen sie."

NZZ, 17.06.2005

"Altbekannte Produkte" aus "außergewöhnlichen Materialien" stellt die Gruppe Droog Design in Zürich und Lausanne zur Schau, wie ein im Großen und Ganzen beeindruckter Urs Steiner mitteilt. Aber "natürlich gibt es auch bei Droog neben vielen guten Ideen und ätzenden Provokationen bisweilen gestalterische Abstürze und banale Gags. Wer braucht schon ein T-Shirt mit eingearbeiteten Kirschkernen, das man in der Mikrowelle aufheizen kann? Weshalb soll man einen Blechwürfel selber mit dem Hammer zum individuellen Sessel verbeulen? Und ist eine Kuckucksuhr lustiger, wenn sie digital funktioniert und mit einem Vogelnest dekoriert ist?"

Weiteres: In Italien tobt ein Streit darüber, ob das Werk Leonardo Sciascias (1921-1989) zur Mythisierung der Mafia beigetragen habe, berichtet Franz Haas. Andrea Köhler kommentiert den Jackson-Prozess: "Jenseits der konkreten Anwürfe scheint es, als wurde hier dem Mantra der Medienwelt, dass nichts ist, was es ist, selbst der Prozess gemacht: der Mann, der eine Frau, der Schwarze, der weiss, der Erwachsene, der ein Kind sein will, das Sexsymbol, das vorgibt, ein platonischer Päderast zu sein: Michael Jackson verkörpert nicht nur ein wandelndes Paradox, sondern die Aufhebung aller Widersprüche."

Besprochen werden die zur Kantonsbibliothek Baselland umgebauten Hallen eines ehemaligen Weindepots in Liestal, eine Ausstellung im Wiener Jüdischen Museum, die das Verhältnis der Zweiten Republik zu ihren Juden thematisiert und den schönen Namen "Jetzt ist er bös, der Tennenbaum" trägt sowie die von Michael Ondaatje aufgezeichneten Gespräche mit Walter Murch über "Die Kunst des Filmschnitts" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr). Dass das Filmpodium Zürich Fassbinders "Fontane Effi Briest" in einer "guten neuen Kopie" zeigt, ist für Christoph Egger Grund genug für eine späte Rezension auf der Filmseite. Außerdem werden dort Bahman Ghobadis Film "Turtles Can Fly" sowie Christopher Nolans Actionstreifen "Batman" besprochen.

Auf der Medienseite behauptet "ras", dass die "Couch Potatoe" höchstwahrscheinlich so bald nicht vom "ständig agilen Multimedia-Nutzer" verdrängt werden wird. Stefan Krempl liest in dem von Kai Lehmann und Michael Schetsche herausgegebenen Sammelband über die "Google-Gesellschaft" von der "Ambivalenz Googles: Einerseits würde nicht mehr nur Wissen ausgelagert, wie dies seit der Erfindung von Datenbanken der Fall ist, sondern der Prozess der Erarbeitung von Informationen aus vorhandenen Quellen selbst wird ebenfalls der autonomen Suchmaschine mit ihrer Blackbox-Funktionsweise anvertraut. Zahlreiche 'zusammengegoogelte' Diplomarbeiten sind das Resultat." Für den Publizistikprofessor Otfried Jarren hat die Tageszeitung als Integrationsmedium ausgedient. Der Tageszeitungsmarkt wird sich ausdifferenzieren müssen, um den Schrumpfungsprozess zu begrenzen." "S.B." informiert über Funktionsweise und Zukunftschancen von Festplattenrecordern und "set" sorgt sich um die Archivierung digitaler Bildformate.

Welt, 17.06.2005

Der irakischstämmige Schriftsteller Hussain al-Mozany prangert den wenig diskutierten Missbrauch des Koran innerhalb der arabischen Welt an. "Die Benutzung des Koran für niedrige politische Ziele und Machterhalt hat offensichtlich keinen islamischen Gelehrten von Marokko bis nach Indonesien gestört, nicht einmal dann, als Saddam einen irakischen Schriftmaler beauftragte, den kompletten Text des Koran mit dem mit Glukose verdünnten Blut Saddams niederzuschreiben. Zwei Jahre verbrachte der Kalligraph Abbas Qudi damit, den Blutkoran für das "Museum der Mutter aller Schlachten" (mehr) rechtzeitig fertigzustellen. Dies obwohl in einem berühmten Vers das Blut zu den Dingen gehört, die als absolut unrein gelten - direkt an zweiter Stelle nach den verendeten Tieren -, ganz zu schweigen vom Blut eines Massenmörders wie Saddam Hussein." Die muslimischen Theologen "wurden nur laut, als sie davon erfuhren, daß das amerikanische Wachpersonal im Internierungslager Guantanamo angeblich den 'Koran regelmäßig geschändet' habe".

SZ, 17.06.2005

"Basel ist allemal das bessere Venedig." An den Beispielen Biennale Venedig, der großen Paul-Mc-Carthy-Schau im Münchner Haus der Kunst und Art Basel zeigt Holger Liebs, dass im Kunstbetrieb mittlerweile die Händler das Sagen haben. "'Messen sind die neuen Biennalen', so schrieb der amerikanische Kritiker Jerry Saltz schon vor Jahren. Der Aphorismus trifft in diesem Jahr einmal mehr zu. Arbeiten von Santiago Serra, Thomas Ruff (mehr), Rivane Neuenschwander (mehr) oder Mark Wallinger (mehr), soeben noch in Venedig ausgestellt, sind nun in Basel käuflich erwerbbar. Zu erhöhten Preisen. Das ist legitim: In Basel wird nur offenbar, was in Venedig durch kuratorische Gesten verschleiert wurde."

Die Schweizer Theaterkritikerin Simone Meyer berichtet über ihre Erfahrungen als alleinige Jurorin des Nachwuchswettbewerbs für Dramatik für die Autorentheatertage am Hamburger Thalia Theater. "Eine typische Regieanweisung in diesen Stücken lautet: 'Berlin. Nacht. Vor dem Cafe Moskau.' Doris Kuhn verbrachte staunend einen Nachmittag beim Großen Sumo-Wettbewerb in Tokio. Klaus Lüber schreibt über neue Methoden beim fortgesetzten Datenklau im Internet. Sebastian Schoepp resümiert eine Münchner Tagung über eine europäische Kultur des Erinnerns, und "eye" kommentiert die jüngste künstlerische Verarbeitung der Todessprünge vom 11. September durch den Brooklyner Performancekünstler Kerry Sharkbakka, der immer wieder vom Dach des fünfstöckigen Museum of Contemporary Art in Chicago sprang. Zu lesen sind schließlich Nachrufe auf den Dirigenten Carlo Maria Giulini und die französische Schauspielerin Suzanne Flon.

Besprochen werden die Ausstellung "Als Frieden möglich war" im Augsburger Maximilianmuseum, die den Religionsfrieden feiert, die opulente Mongolenschau "Dschingis Khan und seine Erben" in der Bundeskunsthalle Bonn, die Uraufführung von Johannes Maria Stauds Orchesterwerk "Apeiron" in der Berliner Philharmonie, und Bücher, darunter eine Studie über Militär- und Poesiereform im Dreißigjährigen Krieg sowie der zweite Band einer Untersuchung über "Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften". (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Tagesspiegel, 17.06.2005

Im Gespräch mit Barbara Wahlster erklärt der südkoreanische Lyriker Ko Un (hier einige Gedichte auf Englisch), der für die Weltklang-Nacht der Poesie nach Berlin gekommen ist, sein Maninbo-Projekt. Im Militärgefängnis hatte er beschlossen, über jeden Menschen zu schreiben, dem er je begegnet war. "Ich hatte tatsächlich vor, über 10000 Leben aufzuschreiben, aber ich muss mich beschränken. Vielleicht gelingt es mir, 5000 Menschenleben zu erzählen. Fast 4000 Lebensgeschichten sind mittlerweile in Gedichte gefasst. Sechs Bände umfasst der bisherige Teil in der Gesamtausgabe, die mir der Changbi Verlag 2003 zum 70. Geburtstag geschenkt hat."
Stichwörter: Berlin, Ko Un, Poesie

FR, 17.06.2005

Micha Brumlik führt die Diskussion um die Verlagerung der Frankfurter Judaistik fort. Er widerspricht Universitätspräsident Steinberg, der die Orientwissenschaften in Marburg konzentrieren möchte. "Den Studiengang Judaistik einem orientalistischen Zentrum einzugliedern, wäre ungefähr so sinnvoll, wie die neutestamentliche Wissenschaft an ein Zentrum für Anatolistik und Hethitologie zu verlegen; immerhin entstanden wesentliche Schriften und Gemeinden des Neuen Testaments im Gebiet der heutigen Türkei. Dem wird entgegengehalten, dass die hiesige Lehrstuhlinhaberin doch das spätantike rabbinische Judentum, das in Persien und Galiläa wirkte, erforsche. Demnach müsste die Patristik, die Lehre von den Kirchenvätern, die in Antiochien, Alexandrien oder in Karthago wirkten, entweder der Anatolistik, der Ägyptologie oder wegen des Kirchenvaters Augustin der Afrikanistik zugeschlagen werden."

In Times mager staunt Elke Buhr über statistische Sensationen bezüglich enthaltsamer amerikanischer Teenager. Diese hätten unter anderem "offensichtlich weniger variantenreichen" Sex und wählten "signifikant seltener" den Beruf der Prostituierten. Zu lesen ist außerdem ein Nachruf auf den Dirigenten Carlo Maria Giulini.

Besprochen werden das Frankfurter Konzert von Bruce Springsteen, Emir Kusturicas Film "Das Leben ist ein Wunder" und eine Inszenierung von Georg Friedrich Haas' Kammeroper "Nacht" im Bockenheimer Depot.

FAZ, 17.06.2005

Ernst Gottfried Mahrenholz, ehemaliger Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, erklärt, wie der Beutekunststreit mit Russland beendet werden könnte: indem man den Russen folgt. Auf dem deutschen Standpunkt zu beharren, könnte nämlich dazu führen, dass Deutschland Recht, aber "Russland die Bestände" behält. Michael Jeismann schildert mit klopfendem Herzen, "wie das einzige erhaltene Grimmelshausen-Gemälde" von Hans Galen bei Christie's entdeckt wurde. Edo Reents war bei einer Vorlesung über die "Geschichte der deutschen Literaturskandale" - ein Thema, das für heutige Studenten offenbar nicht vorlesungsgeeignet ist: "Stumpf aber und ungerührt ließ die Hörerschaft über sich ergehen, was der Heidelberger Privatdozent Christoph Bartscherer am Montag zwischen 14 und 16 Uhr über Literaturskandale mitzuteilen wusste."

Florentine Fritzen berichtet über eine Lesung Michel Friedmanns in Frankfurt. Tw. ärgert sich über die Kunstaktion von Kerry Skarbakka, der nach dem Motto "Life goes on" dreißigmal vom Dach des Museums für Zeitgenössische Kunst in Chicago sprang, um irgendwie an den 11. September zu erinnern. Frank Pergande stellt das neue Pommersche Landesmuseum in Greifswald vor. Erna Lackner berichtet über eine Diskussion von Kulturpolitikern der vier österreichischen Parlamentsparteien über Elfriede Jelinek: Erwähnenswert findet sie die Beiträge der FPÖ-Vertreterin und von Sigrid Löffler. Andreas Eckert schreibt zum sechzigsten Geburtstag des Historikers Paul Kennedy. Und Paul Ingendaay schreibt zum Tod des spanischen Journalisten und Autors Jaime Campmany.

Auf der Medienseite berichtet Gina Thomas über einen Gottesdienst anlässlich des Umzugs von Reuters aus der Londoner Fleet Street nach Canary Wharf. "kho." meldet, dass nach Angaben der russischen Staatsanwalt der Chefredakteur der russischen Zeitschrift Forbes, Paul Klebnikovbei, von Tschetschenen ermordet wurde. "'Hapworth' war sein letztes Wort" - auf der letzten Seite erinnert Reinhard Helling an den Schriftsteller J.D. Salinger, der vor vierzig Jahren verstummte. Robert von Lucius berichtet über die Feiern zum gemeinsamen Kulturjahr von Deutschland und Norwegen. Und Heinrich Wefing ist bewegt von der "noblen Geste" des amerikanischen Kunsthändlers Alfred Bader, der Adolph Menzels "Ein Nachmittag im Tuilleriengarten" kaufte, ihn der Dresdner Galerie Neue Meister " aber mindestens zeitweise als Leihgabe" zur Verfügung stellen will.

Besprochen werden ein Bruce-Springsteen-Konzert in Frankfurt, Emir Kusturicas Film "Das Leben ist ein Wunder" und Strauss' Oper "Daphne" im Teatro la Fenice.