Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.06.2005. Am 9. November 1969 wurde eine Bombe im Jüdischen Gemeindehaus in Berlin deponiert - in der FAZ benennt Wolfgang Kraushaar den Täter Albert Fichter und den mutmaßlichen Drahtzieher Dieter Kunzelmann. Die SZ fragt den deutschen Rapper Bushido, warum Nazis mit seiner Musik sympathisieren. Die FR versteht die Hintergründe der türkischen Anfeindungen gegen Orhan Pamuk. Die NZZ bereitet uns auf die Publikation eines Judas-Evangeliums vor.

NZZ, 28.06.2005

Ekkehard W. Stegemann spekuliert über den Inhalt eines Schriftstückes, das vor einem Vierteljahrhundert aufgetaucht ist, als "Judas-Evangelium" gilt und demnächst in einer wissenschaftlichen Edition publiziert werden soll. "Dieser Fund erweitert in jedem Fall nicht nur die Basis der Erforschung jener frühchristlichen 'Dissidenten' namens Gnostiker. Er bestätigt zudem, dass es eine Gruppe gab unter ihnen, die sich auch mit perhorresziertem 'Personal' aus der Bibel identifizierte. Zwar gibt es zahlreiche Texte, die sich auf Jünger Jesu oder andere Sympathisanten in seinem Umfeld beziehen. Aber mit 'Judas', dem dieses Evangelium zugeschrieben wird, ist der 'Verräter' gemeint, Judas Ischariot. Und genau deswegen ist dieser Fund natürlich auch das Objekt anderer als rein wissenschaftlicher Begierde ... Judas wird in dem Text von Jesus auf seine Rolle als derjenige vorbereitet, der seitens seiner Mitjünger übel geschmäht werden wird, schließlich aber über allen stehen werde: Er sei der, der den physischen Menschen Jesus opfere, welcher den wahren, geistlichen Christus wie ein Kleid trage."

Weitere Artikel: Marc Zitzmann freut sich über die Wiedereröffnung der restaurierten Place Stanislas in Nancy und weist außerdem auf eine Ausstellung im dortigen Musee des Beaux-Arts über den europäischen Städtebau im Zeitalter der Aufklärung hin. Maike Albath bejubelt die "Meisterleistung" Barbara Kleiners, die die 1867 erstmals erschienenen "Bekenntnisse eines Italieners" von Ippolito Nievo neu übersetzt hat. Besprochen werden außerdem eine neue Dauerausstellung im Dresdner Hygienemuseum sowie weitere Bücher, darunter das von Corinne Holtz verfasste "Porträt" der Regisseurin Ruth Berghaus (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 28.06.2005

Nicht an irgendeinem Tag, sondern am 9. November des Jahres 1969 wurde im Jüdischen Gemeindezentrum Berlin eine Bombe deponiert, die glücklicher Weise nicht explodierte. Wolfgang Kraushaar, dessen Buch "Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus" in diesen Tagen erscheint, benennt in einem Aufsehen erregenden Text den Täter - Albert Fichter, Bewohner der Kommune 1, der die Tat heute bedauert - und den offensichtlichen Kopf der Aktion: Dieter Kunzelmann. "Kunzelmann war aber mutmaßlich der Auftraggeber. Vielleicht nicht der alleinige, aber - nach allem, was darüber bekannt ist - wohl der entscheidende. Mit Geschick zog er aus dem Untergrund die Fäden. Er hatte seine Leute, die bereit waren, für ihn durchs Feuer zu gehen. Sein eigenes Risiko war dabei denkbar gering. Er konnte in seinem Unterschlupf die Vollzugsmeldung abwarten."

Weitere Artikel: Steven Spielbergs Verfilmung von H.G. Wells' "Krieg der Welten" läuft in den nächsten Tagen an, und Dietmar Dath wünscht dem Werk des Autors im Aufmacher wegen der darin beschworenen revolutionären Perspektiven eine größere heutige Leserschaft. In der Leitglosse mokiert sich Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier über die Kollegen Filmkritiker, die "Zensur" schreien, weil sie Spielbergs Film nicht vor dem Starttermin besprechen dürfen. Mark Siemons war dabei, als Lothar Bisky den älteren Herrschaften von der Basis der PDS die Umbenennung der Partei und die Eingemeindung sozialdemokratischer Abweichler zu erklären versuchte. Paul Ingendaay berichtet über den maroden Zustand von Hemingways Villa auf Kuba und die Schwierigkeiten der Renovierung, da amerikanische Spendengelder wegen des Embargos nicht ans Ziel gebracht werden können. Gerhard R. Koch gratuliert dem Komponisten Giselher Klebe zum Achtzigsten. Andreas Rossmann spekuliert über die Idee des Sammler Hans Grothe, ein Anselm-Kiefer-Museum in Berlin zu eröffnen. Eckhard Heftrich schreibt zum Tod des Komparatisten Roger Bauer. Jürgen Richter bedauert den Zustand des Barockschlosses Glücksbrunn in Thüringen. Eleonore Büning schreibt zum Tod der Pianistin Grete Sultan.

Auf der DVD-Seite entdeckt Andreas Kilb Ingmar Bergmans "Szenen einer Ehe" und andere Bergman-Filme neu. Peter Körte betrachtet Samuel Fullers "The Big Red One". Andere Besprechungen gelten dem "Aviator" von Scorsese und der "Flambierten Frau" (Gott hab' sie selig!) von Robert van Ackeren.

Auf der Medienseite fragt sich Michael Hanfeld, warum Doris Schröder-Köpf mit Unterlassungsklagen gegen den Stern einschreitet, der behauptete, dass sie die Idee mit der Vertrauensfrage hatte. Robert von Lucius berichtet, dass die dänische Regierung einen "Kulturkampf" gegen die angebliche Übermacht linker Meinungen im öffentlichen Rundfunk des Landes führt. Jürg Altwegg meldet, dass das großartige Projekt einer französischen Konkurrenz zu CNN nach dem "Nein" stillschweigend beerdigt werden könnte. Altwegg meldet auch, dass sich die kommunistische Zeitung L'Humanite in ihrer Finanznot von einigen französischen Kapitalisten wie dem Waffenbauer Lagardere subventionieren lassen muss.

Auf der letzten Seite bringt Gina Thomas eine lesenswerte Reportage über ein Treffen Wladimir Putins mit deutschen Wirtschaftmagnaten, die die Effizienz seines Systems bewundern und ihm seine Ineffizienzen verzeihen. Lorenz Jäger berichtet, dass der israelfreundliche Anwalt Alan Dershowitz das Erscheinen eines palästinafreundlichen und Dershowitz-feindlichen Buchs von Norman Finkelstein durch einen Brief an den kalifornischen Gouverneur Arnold Schwarzenegger verhindern wollte. Und Jürg Altwegg schreibt ein Profil der algerischen Schriftstellerin Assia Djebar, die in die Academie francaise gewählt wurde.

Besprochen wird eine Picasso-Ausstellung in Stuttgart.

TAZ, 28.06.2005

Einen begeisterten Zwischenbericht schickt Katrin Bettina Müller vom "Theater der Welt" in Stuttgart. Sehr schön eingelöst sieht sie die Versprechen von "Welthaltigkeit" und dem "großen Bogenschlag zwischen Bildern der Globalisierung und dem geduldigen Einfriemeln in lokale Mikrokosmen". "Die besten Überraschungen gelangen dem Festival gerade da, wo man nicht so viel erwartete, etwa bei einer Performance im Krankenhaus für Kinder durch die englische Gruppe theatre-rites oder in der 'Peasantopera', einer wirklichen Bauernoper, aus Ungarn. Da wurde man auch, wenn man sich noch nie für ungarische Volksmusik interessiert hat und hinter Bauerntheater eher anbiedernd Schwankhaftes vermutet, mitgerissen: wie böse der Witz in den Texten der Libretti funkelt, wie raffiniert sich Volkslieder mit barocken Formen verbünden, und wie im Anekdotischen plötzlich die abgründige Grausamkeit, zu der der Mensch gebracht werden kann, aufleuchtet.

Elina Kritzokat schickt ein "Fax aus Finnland" und natürlich ist sie selbst mitten in Helsinki in eine Sauna gestolpert, gebaut aus Torfquadern: "Geheizt wird mit einer alten Technik: Drinnen brennt stundenlang Holz, und zwar ohne Rauchabzug, bis die Sauna durch und durch heiß ist. In seltenen Fällen brennt die Sauna in dieser Phase auch mal ab."

Weitere Artikel: Christian Broecking beobachtet neueste Trends der New Yorker Jazz-Avantgarde. Wiglaf Droste freut sich, dass es bei Joe-Jackson-Konzerten heutzutage gesitteter zugeht als noch vor zwanzig Jahren. Jan-Hendrik Wulf hat die neue Ausgabe von Sinn und Form gelesen, es geht unter anderem um Turnschuhe oder die Illusion der Einsamkeit in der Massengesellschaft. Der Erfurter Judaist Andreas Gotzmann wettert gegen die geplante Schließung der Frankfurter Judaistik.

Und hier Toms Crime Time.

Berliner Zeitung, 28.06.2005

Jan Brachmann besucht das Moskauer Filmfestival - das einstige "Cannes des Ostblocks" und spürt noch immer einen Hauch von Kaltem Krieg: "Die russische Filmwirtschaft hat gewaltig an Fahrt gewonnen. Immer mehr Kinos werden gebaut. Und es sind, wie der Generaldirektor des Filmfestivals Renat Dawletjarow erzählt, russische Filme, die an den Kassen die größten Einzelerfolge erzielen.... Dass die USA nur mit einem Wettbewerbsbeitrag vertreten waren, ist keine Moskauer Besonderheit. Die Amerikaner sind Erfolgsmaximalisten. Sie schicken ihre Filme nicht gern auf Festivals, sagt Programmdirektor Kirill Raslogow, wenn man ihnen nicht garantiert, dass sie einen Preis gewinnen. Das ist in Cannes nicht anders. Als im Puschkin-Kino der deutsch-tschechische Wettbewerbsfilm 'Chronik eines gewöhnlichen Wahnsinns' gezeigt wurde, wandte sich der Regisseur dieser recht gewitzten Komödie, Petr Zelenka, zuvor ans Publikum: 'Ich liebe die Russen, weil sie gegen die amerikanische Filmindustrie kämpfen. Wir brauchen diesen Kampf, und wir müssen ihn führen mit guten Filmen und einem starken Vertriebsnetz.'"

Tagesspiegel, 28.06.2005

Christiane Peitz durchbricht die vom Verleih UIP eigenmächtig ausgesprochene Sperrfrist für Journalisten und bespricht den am Donnerstag anlaufenden neuen Spielberg-Film "Krieg der Welten", der gar nicht so schlecht bei ihr weg kommt: Spielberg, schreibt sie, "bedient das populäre Genre, die wohldosierten Blicke auf die andere Seite des Hügels genügen, um für atemlose Spannung zu sorgen. Aber er zeichnet zugleich ein Sittenbild des kollektiven Unbewussten, einer verstörten Gesellschaft, die wegguckt, was den Irak betrifft, und mit sich selber kein bisschen im Reinen ist."
Stichwörter: Irak, Sperrfristen, Unbewusste

FR, 28.06.2005

Gunter Seufert skizziert anlässlich der Entscheidung, den Friedenspreis des deutschen Buchhandels Orhan Pamuk zuzusprechen, die historischen Hintergründe der Anfeindungen, denen der Schriftsteller in der Türkei in Zusammenhang mit seinen Äußerungen über den armenischen Völkermord ausgesetzt ist: "Die Türken tun sich aus vielen Gründen mit der Geschichte schwer, und einige davon sind durchaus verständlich. Da ist das Entsetzen darüber, durch den Begriff Genozid mit Nazideutschland auf eine Stufe gestellt zu werden, und den Todesmarsch der Armenier als 'ersten Völkermord der Moderne' akzeptieren zu sollen, gewissermaßen als Vorläufer und Wegbereiter zum Holocaust." Seufert sieht wenig Bereitschaft unter türkischen Politikern wie auch in der Bevölkerung, sich dem Thema zu stellen. "Die Sache nicht leichter machen auch extreme Forderungen armenischer Nationalisten, meist aus der Diaspora. Hier verlangt man nicht nur Anerkennung und Entschädigung, sondern auch die 'Rückgabe armenischen Territoriums' und die Revidierung bestehender Grenzen."

Weiteres: Aus der Welt der Kunst wird berichtet über: zwei Kunstbiennalen in Prag, deren Organisatoren zerstritten sind sowie die Ausstellung "Big Bang" im Pariser Centre Pompidou, die dem internationalen Trend gehorcht, "die eigenen Bestände nicht mehr chronologisch, sondern thematisch zu ordnen". Die Musik ist mit einem Bericht über das Vision Festival in New York vertreten, auf dem unglaublich jung gebliebene alte Musiker aufgetreten sein sollen. Und in Berlin hat der Komponist Robert Linke eine Arbeitslosenoper gegründet, eine Maßnahme in Eigeninitative, die dem Arbeitsamt nicht zusagt.

SZ, 28.06.2005

Hardcore-HipHopper wie Fler, Kool Savas und Bushido setzen in Deutschland erfolgreich auf nationalistische, sexistische und aggressive Metaphern. Nun interessieren sich plötzlich auch Rechtsradikale für die Musik. Die SZ lässt darüber die früheren Rapper Hannes Loh und Murat Güngör mit Bushido streiten. Bushido, der einen tunesischen Vater hat, fühlt sich für eventuelle Auswirkungen seiner Musik nicht verantwortlich. Über die Zuneigung der Arier ist er aber doch ein wenig verwirrt. "Eines Abends kam, während Azad auf der Bühne war, dessen marokkanischer Manager zu mir: 'Da draußen schreien ein paar Nazis Azad als Kanaken an. Wir müssen vielleicht abbrechen.' Als ich dann auf die Bühne kam, haben sich die Typen die T-Shirts aufgerissen und gejubelt. Als ich danach Autogramme gab, kamen diese 2-Meter-Ochsen, und dann nimmt mich einer von denen in den Arm und ist sooo glücklich, und je mehr ich den auf die Glatze haue, desto geiler findet der das. Er sagt, komm, schreib mir Bushido auf meinen Kopf. War schon komisch."

Weitere Artikel: Ein konservativer Think-Tank in Großbritannien plant, "Our Island Story", ein Geschichtsbuch für Kinder aus dem Jahr 1905, wieder aufzulegen, weiß Alexander Menden. Damit sollen dem Nachwuchs die großartigen Momente Englands vermittelt werden. Auf einer Münchner Tagung über die missionarischen Strategien des Islam lässt sich Alexander Kissler vom Soziologen Hassen Garouachi beruhigen: von unbedingter Expansion ist im Koran nicht die Rede. Mario Adorf erinnert sich anlässlich eines Schwerpunkts auf dem Münchner Filmfest an die Dreharbeiten zu "Major Dundee" unter der Regie des wahnsinnigen Sam Peckinpah. "Charlton Heston hat dreißig Pfund abgenommen, weil er an Montezumas Rache litt. Er ist aber nie vom Pferd abgestiegen."

Frieder Reininghaus besucht die Eröffnung von Christian de Portzamparcs neuer Philharmonie für Luxemburg und bestaunt schon von weitem den elliptisch-zylindrischen Bau, der aussieht wie "ein Fruchtkern, der eine Muschelschale sprengt". Hans-Eberhard Hess kündigt die Internationalen Fototage in Mannheim und Ludwigshafen an. Jürgen Otten gratuliert dem Komponisten Giselher Klebe zum achtzigsten Geburtstag. Gottfried Knapp trauert um Lenz Kriss-Rettenbeck, einstiger Direktor des Nationalmuseums in München. G.K. hofft, dass die durch Dan Browns "Da Vinci Code" ausgelöste, so unangenehm populäre Leonardo-Begeisterung bald wieder abflaut. Wolfgang Schreiber nutzt eine Zwischenzeit, um die Untiefen der Synonym-Funktion bei Word auszuloten. Und Kai-Hinrich Renner berichtet im Medienteil, dass Schibstedt und Metro einen weiteren Anlauf mit Gratiszeitungen in Deutschland wagen, diesmal mit großen deutschen Verlagen als Partner.

Besprochen werden eine Ausstellung mit "prachtvollen" Leihgaben aus Herculaneum bei Pompeji im Westfälischen Römermuseum in Haltern, und Bücher, unter anderem Peter Schneiders Roman "Skylla" ("diese literarische Stopfgans passt durch keine Meerenge", lästert Kristina Maidt-Zinke), ein Band mit Fotografien von Inge Morath von ihren Reisen "Durch Österreich" sowie eine Neuauflage von Orson Welles' durchschlagendem Hörspiel "The War of the Worlds" nach dem Roman von H.G. Wells (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).