06.07.2005. In der Berliner Zeitung erkundet Gerd Koenen die Komplizenschaft des Berliner Verfassungsschutzes beim Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus im Jahr 1969. In der FAZ erklärt Orhan Pamuk, warum es für ihn eine Riesenenttäuschung wäre, wenn die Türkei nicht der EU beitreten dürfte. In der FAZ erkundet Martin Mosebach die Gründe für den Erfolg von Dan Browns Roman "Sakrileg", während die NZZ die Dreharbeiten zur Verfilmung dieses Romans beobachtet. Die SZ konstatiert: "Der Honeymoon zwischen Architektur und Zeitgeist ist vorbei."
FAZ, 06.07.2005
Orhan Pamuk (
"Schnee") ist doch deutlicher für einen
EU-Beitritt der Türkei, als es diese Zeitung in ihrer Sorge ums christliche Abendland nach der
Friedenspreis-Entscheidung behauptete. Im
Interview mit Hubert Spiegel spricht der türkische Autor nicht nur über seine Romane und über sein Verhältnis zur westlichen und türkischen Tradition, sondern er sagt auch: "Ich betrachte die Europäische Union als Versprechen und als
vorzügliches Instrument zur Reformierung der eingeschränkten Demokratie in der Türkei. Allein diese Hoffnung hat bereits so viel für mein Land bewirkt, dass es selbst in Momenten, wie wir sie jetzt gerade erleben, Momenten, in denen Europa zögert und zweifelt, schwerfällt, diesem Versprechen wütend den Rücken zu kehren. Aber jetzt zögert und zweifelt auch die Türkei in ihrer Beitrittsabsicht. Und das ist viel schlimmer, denn es bedeutet, dass
antieuropäische Ressentiments die eingeschränkte Demokratie der Türkei zerstören."
Der Autor
Martin Mosebach fragt sich - vielleicht nicht ganz ohne Neid? - wie es
Dan Browns "Sakrileg" auf eine Weltauflage von
45 Millionen Exemplaren bringen konnte. Eines der Geheimnisse entdeckt er in der Eins-zu-eins-Abbildung von Realität: Welcher Tourist hat sich denn nicht schon unter der Glaspyramide des Louvre zur Mona Lisa begeben? "Ja, dort hängt die Mona Lisa wirklich, ja, sie ist wirklich androgyn, weil Leonardo sich möglicherweise nicht für Frauen interessierte - welcher Roman eröffnet derart frappierende Einsichten, die sämtlich
nachvollziehbar, nacherlebbar sind, als habe die Zeit unter der Pyramide den Atem angehalten, während sich die Touristengruppen unter ihr durchschieben? Es gehört zu den
genial einfachen Kunstgriffen des Romans, den vollständig geheimnislosen, touristisch zu Tode genutzten Ort zum Schauplatz des allerhöchsten Geheimnisses werden zu lassen."
Weitere Artikel: Christian Schwägerl
extemporiert in der Leitglosse über
demografische Themen (und beginnt mit dem hübschen Satz: "Das Wunderbare am Alter ist, dass die Zeit, für die es Vorsorge zu treffen gilt, immer weniger wird.") Joseph Hanimann schildert die ungewöhnliche Einmütigkeit der Franzosen in der
Olympia-Bewerbung für 2012. Wolfgang Sandner schreibt zum Tod des französischen Jazzbassisten
Pierre Michelot. Mark Siemons beobachtete den Abriss der
Mauerkreuze in Berlin. Matthias Grünzig erklärt, warum in der schrumpfenden Stadt
Chemnitz Plattenbauquartiere stehen bleiben, während im Altstadtviertel
Brühl die Abrissbagger wüten. Katja Gelinsky erklärt unter Bezugnahme auf einen
Artikel aus dem
New York Times Magazine, was es mit der konservativ-libertären Juristengruppe
Constitution in Exile (mehr
hier) auf sich hat, die nun auf einen vakanten Sessel im
Supreme Court zugreifen möchte.
Auf der
Medienseite meldet Michael Hanfeld, dass das
ZDF im großem Stil in Hollywood einkauft,. Hanfeld schildert zudem auch die Verhältnisse in den
Sportredaktionen der ARD ("Der Ex-Sportchef des HR sitzt in Haft, der MDR-Kollege ist suspendiert").
Auf der
letzten Seite freut sich Henrike Roßbach, dass "der
deutsche Hip-Hop inzwischen doch
recht schmutzig geworden (ist), böse, dreckig, gemein, wütend". Und das sieht so aus: "Der neue deutsche Hip-Hop ist nicht kompliziert. Mit dem Mikrophon in der Hand sortieren die Rapper alles, was ihnen zwischen die Finger kommt, in zwei Schachteln. Auf der einen steht
'cool', auf der anderen
'schwul'." Richard Kämmerlings informiert, dass die diesjährige "Poesie in der Stadt"-Aktion der deutschen
Literaturhäuser dem
Fußball gewidmet ist. Und Andreas Platthaus stellt das "menschliche Antlitz des Sozialismus" vor: Es gehört dem "Tatort"-Darsteller
Peter Sodann, der jetzt für die PDS kandidiert.
Besprochen werden eine Ausstellung mit Gemälden
Lucian Freuds in
Venedig, die Surfer-Dokumentation
"Riding Giants" und ein Gastspiel des
Birmingham Royal Ballet mit Werken
Frederick Ashtons in Hamburg.
TAZ, 06.07.2005
"Das ist dann aber auf eine so altmodische Weise schön, man hätte es gar nicht für möglich gehalten",
feiert Daniel Schreiber die amerikanische Filmschauspielerin
Kathleen Turner in Edward Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" im New Yorker
"Longacre Theaters". "Die mittlerweile
wuchtige Fünfzigjährige bringt auch das Zeugs mit für Edward Albees Martha. Jahrelang hatten die Boulevardblätter des Landes Turners Alkoholsucht und ihre Arthritis, die mit
aufschwemmenden Steroiden behandelt wurde, mithilfe schlimmster Paparazzi-Schnappschüsse durch den Dreck gezogen. In der Anthony-Page-Inszenierung ... kann sie, in engen Leopardenhosen und tief ausgeschnittener Bluse, über all diese Bilder glänzend triumphieren und wirkt zuweilen wie ein
Raubtier auf erotischer Jagd."
Weiteres: Sabine Leucht
schickt einen Zwischenbericht aus Stuttgart vom Festival
"Theater der Welt". Johannes Gernert
liefert auf Seite drei eine Reportage von der Räumung der Berliner
Mauerkreuze. In der tazzwei
liefert Felix Lee einen Stimmungsbericht aus den
G-8-Gegner-Camps in Edinburgh und Sterling.
Eine einsame
Rezension gilt
Byung-Chul Hans "Hyperkulturalität. Kultur und Globalisierung" (siehe auch unsere
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).
Und
Tom.
FR, 06.07.2005
"Was für die einen politisch-inkorrekt oder unerträglicher Erinnerungskitsch war, galt anderen als überfälliges öffentliches Gedenken an
verdrängtes DDR-Unrecht",
kommentiert Thomas Medicus die gestrige Räumung des privaten
Mauermahnmals in Berlin. "Doch wie immer das Pro und Kontra ausfiel, eines war Frau Hildebrandts privater Aktion nicht abzusprechen: sie stellte eine
gelungene Provokation dar, deren Drastik zu erhellenden Erkenntnissen verhalf. Die grob gezimmerten Holzkreuze wie das Mauerimitat mit mahnmalsästhetischen oder geschichtspolitischen Argumenten beiseite schieben, war eine vergleichsweise leichte Übung. Interessanter war, dass die Gedenkstätte am Checkpoint Charlie in all ihrer Unbeholfenheit
demonstrierte, dass es in diesem Lande
keinen nationalen Konsens darüber gibt, wie mit dem SED-Unrecht, seinen Opfern wie Todesopfern, umzugehen sei."
"Ein äußerst ambivalenter Begriff für mich, weil ich immer aus
Renitenz und ästhetischem Widerspruch auf konservative Positionen verfalle",
beantwortet der
Pop-Schriftsteller Thomas Meinecke Ina Hartwigs Frage "Sind Sie konservativ?": "Es gibt wahrscheinlich in allen Bereichen die konservative und die progressive Lesart. Pop ist ja ein
anstrengendes Geschäft."
Weiteres: Peter Michalzik
schreibt einen Nachruf auf den großen britischen Dramatiker
Christopher Fry. Besprochen werden der
Neubau des
Granitzentrums Hauzenberg des Architektenbüros
Brückner & Brückner im Bayerischen Wald, und Bücher, darunter
Alfred C. Mierzejewskis Ludwig-Erhard-Biografie und
Svenja Leibers Debüt-Erzählungen "Büchsenlicht" (mehr in unserer
Bücherschau des Tages heute ab 14 Uhr).
Berliner Zeitung, 06.07.2005
Wolfgang Kraushaar deckte neulich in der
FAZ (unser
Resümee) und vor allem in einem neuen Buch auf, wer am 9. November 1969 eine Bombe im Jüdischen Gemeindehaus in Berlin legte - nämlich
Albert Fichter, ein ehemaliger Mitbewohner der legendären Kommune 1. Heute
schreibt Gerd Koenen in der
Berliner Zeitung: "Da war
noch jemand am Werk." "Die Bombe war, wie man lange vermutete und Kraushaar nun mit Zeugen und Dokumenten belegt, das Fabrikat eines Agent provocateur des
Berliner Verfassungsschutzes, des sattsam bekannten Manns mit dem Hütchen,
Peter Urbach. Nach den Gutachten der Sprengstoffexperten der Berliner Polizei, die ein Duplikat zur Explosion brachten, hätte die von Urbach gelieferte Bombe
'das Haus zerfetzt' und unter den 250 Teilnehmern der Gedenkfeier zur 'Kristallnacht' viele Opfer fordern können."
NZZ, 06.07.2005
In Paris wird gerade
Dan Browns Bestseller
"The Da Vinci Code" verfilmt. Die Hauptrolle spielt
Tom Hanks,
berichtet Marc Zitzmann. Drehort ist vor allem der
Louvre, dessen Chefkurator - nur im Film versteht sich - ermordet wird. Dennoch ist man dort von der Verfilmung begeistert: "Der Louvre möchte - wie andere französische Kulturinstitutionen auch - vermehrt als Schauplatz für Filme dienen. Die Initiative geht auf den Kulturminister Renaud Donnedieu de Vabres zurück, der das einheimische 'Patrimoine' promoten will. Laut einer Umfrage wurde die Entscheidung von
62 Prozent der Touristen, nach Paris zu kommen, durch einen Film mitbeeinflusst." Weniger begeistert ist die katholische Kirche in Frankreich. "Im Gegensatz zum früheren Königspalast bleibt die Kirche
Saint-Sulpice, wo ebenfalls eine Episode des Romans angesiedelt ist, der Filmcrew verschlossen. Ein Sprecher der Pariser Diözese, wie viele Christen wohl nur mäßig begeistert von der durch das Buch 'offenbarten' Verheiratung
Jesu mit Maria Magdalena, erklärte trocken, Saint-Sulpice sei keine Zweigstelle von Hollywood. Punkt."
Weitere Artikel: Isabelle Imhof
schreibt zum siebzigsten Geburtstag des
Dalai Lama. Und ii.
schreibt zum Tod des britischen Dramatikers und Drehbuchautors
Christopher Fry. Besprochen werden eine Ausstellung zu den Werken des Architekten
Thomas Wechs (1893-1970) im Architekturmuseum Schwaben Augsburg und
Bücher, darunter
Philipp Bloms Band "Das vernünftige Ungeheuer",
Peter Roseis Roman "Wien Metropolis" und
Elke Erbs Gedichtband "Gänsesommer" (mehr in unserer
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
SZ, 06.07.2005
"Der Honeymoon zwischen
Architektur und Zeitgeist ist vorbei",
verkündet Alexander Hosch und stellt fest, dass die Visionäre unter den Star-Architekten in der Realität angekommen sind. "Es geht ... nicht mehr um exaltierte Riesen-Follys mit Nutzungsanforderungen in homöopathischer Dosis - sondern um die Wurst, wie bei allen anderen Architekten auch... Es geht um
schnöde Investorenwünsche und um die Einpassung technisch hochkomplizierter Formen in knappe Zeitpläne und enge Budgets. Der auratische Schaffensprozess ist in die Herrschaftszone von
Rendite & Ratio geraten. Das Ganze klappt dann entweder, wie bei
Zaha Hadid, die nach ihrem hochgelobten
Kunstmuseum für Cincinnati gerade ein tadellos funktionierendes
Autowerk abgeliefert hat. Oder es klappt nicht, wie bei
Daniel Libeskind, dessen Idee für
Ground Zero von einem Kollegen und der Baupolizei auseinander genommen worden ist."
Weiteres: Thomas Steinfeld erzählt die schöne Geschichte einer Verwechslung von einer
Theaterinszenierung mit einer
Parteigründung in Schweden. Der Historiker
Reinhard Markner, Vorsitzender der
Forschungsgruppe Deutsche Sprache, findet die eben vom Rat für deutsche
Rechtschreibung beschlossenen Kompromisse (mehr
hier) in Sachen Zusammenschreibung nicht ausreichend. Andrian Kreye berichtet vom
Kulturkampf bei der Ernennung der Richter für den amerikanischen
Supreme Court. Dirk Peitz erklärt anhand der Musik von
Saint Etienne und Jamiroquai Stil- und Formbewusstsein bestimmter
Pop-Strömungen.
Jörg Königsdorf hat sich mit dem
Cembalisten Christophe Rousset unterhalten, der berufsbedingt das Cemballo natürlich
erotischer als Fußball findet. "RJB" freut sich, dass die Verfilmung von Patrice Chereaus und Pierre Boulez' legendärer Bayreuther
"Ring"-Inszenierung von 1976, die lange
unter den Ruinen des Kirch-Imperiums
verschüttet gewesen sei, jetzt wieder als DVD zugänglich ist. Siggi Weidemann berichtet von den Absichten
niederländischer Museen, ihre Bestände durch Verkäufe zu verschlanken. Thomas Thieringer schließlich verabschiedet den bedeutenden britischen Nachkriegsdramatiker
Christopher Fry, der im Alter von 97 Jahren gestorben ist.
Besprochen werden
Paul Ankas neues Album "Rock Swings",
John Scofields neue CD "That's What I Say" und Bücher, darunter
Michael Ondaatjes Gespräche mit dem legendären Hollywood-Cutter
Walter Murch "Die Kunst des Filmschnitts" (mehr ab 14 Uhr in unserer
Bücherschau des Tages).