Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.07.2005. Alle Zeitungen sind heute voll mit Berichten und Kommentaren über die Bombenanschläge in London. Wir werden dazu gleich noch einen Link des Tages online stellen. Jetzt erstmal die Feuilletons: In der SZ bestätigt Alexander Linklater, was wir alle gestern im Fernsehen sehen konnten: Angesichts von Terror und Bomben holten die Briten das Beste aus sich heraus. Die FAZ ärgert sich maßlos über die Unfähigkeit deutscher Fernsehsender, angemessen und professionell auf Katastrophen zu reagieren. Die NZZ beobachtet deutsche Watchblogs. Die FR hat in Edinburgh das Ende der politischen Festivalkultur erlebt.

SZ, 08.07.2005

Alexander Linklater, stellvertretender Chefredakteur des Magazins Prospect, beschreibt, wie London den Anschlag erlebt hat: "Es ist eine verbreitete Vorstellung, dass Londoner, nach 30 Jahren IRA-Terror, durchaus wissen, wie sie mit solchen Bedrohungen umzugehen haben. Aber es existiert auch ein schleichender Verdacht, dass das im Grunde genommen nicht wahr ist. In dieser Hinsicht haben die Terroristen keinen großen Erfolg gehabt: Die Briten holen das Beste in sich selbst hervor. 'Kümmern Sie sich nicht um mich', sagte eine Frau, die den U-Bahnhof King's Cross nach der Explosion verließ, 'schauen Sie, was mit den anderen ist'. Die beeindruckendste Antwort auf das Geschehen kam vermutlich von Ken Livingstone, dem Bürgermeister von London. 'Dies war kein Angriff auf die Reichen und Mächtigen, dies war ein Angriff auf die Arbeiterschaft von London, auf Alt und Jung, Schwarz und Weiß, auf Christen, Muslime und Hindus.'"

Weiteres: Sonja Zekri versammelt Notizen von britischen Bloggern. Gerhard Matzig sinniert über die Zeichenhaftigkeit der Londoner U-Bahn. Moshe Zimmermann empört sich über den Missbrauch des Begriffs Vertreibung durch die von der Räumung bedrohten Siedler in Gaza. Zimmermann erinnert das an die Schamlosigkeit, mit der sich deutsche Vertriebene ihre Geschichte zurechtzimmern. Andrian Kreye kündigt an, dass Architekt Frank Gehry in Brooklyn ein gigantisches Neubauprojekt mit insgesamt 17 Hochhäusern plant. Im Interview sprechen die Produzenten von X Filme, Maria Köpf und Stefan Arndt, erwartungsvoll über den Deutschen Filmpreis, der heute verliehen wird. Patrick Krause ist schon mal die Strecke abgefahren, die die Tour de France heute auf ihrer Deutschland-Etappe nehmen wird ("Schon schlichtes Überleben fühlt sich heldenhaft an"). Dirk Peitz berichtet, dass mit Lil' Kim nicht nur die "baddest bitch", sondern überhaupt die erste Frau des HipHop-Business ins Gefängnis muß - wegen Meineids.

Auf der Medienseite verfolgt Frank Baden den traurigen Tag für die Pressefreiheit. Gestern wurde Judith Miller, die Reporterin der New York Times, ins Gefängnis gesteckt. Baden zitiert ihren Chefredakteur Bill Keller: Wer daran glaube, dass die Regierung 'eng und aggressiv beobachtet' werden sollte, dem müsse 'ein Schauer den Rücken hinunterlaufen'."

Besprochen werden zwei Romane von Juan Carlos Onetti, Kerstin Ekman Roman "Zeit aus Glas" und Robert Castels Schrift "Die Stärkung des Sozialen" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 08.07.2005

Heute Abend wird in Berlin der Deutsche Filmpreis verliehen - zum ersten Mal von der Deutschen Filmakademie. Im Interview versucht der Präsident der Akademie, Günter Rohrbach, zu erklären, warum er es gerechtfertigt findet, dass nicht eine unabhängige Jury den mit knapp 3 Millionen Euro Steuergeldern geförderten Preis verleiht, sondern die Branche selbst: "Wenn zum Beispiel für eine pharmazeutische Entwicklung Forschungsgelder vergeben werden, dann wären doch die in dieser Forschung Tätigen die besten Leute, um kompetent zu entscheiden, wohin das Geld gehen soll. Natürlich würden dabei Interessenkollisionen entstehen. Doch die würden ausgeglichen, sobald die Zahl groß genug ist. Wenn 600 oder 1.000 Institute abstimmten, wen sie am interessantesten und innovativsten finden, würde vermutlich ein sehr viel besseres Urteil herauskommen, als es jede unabhängige Jury fällen könnte."

Marion Lühe porträtiert die 62-jährige Schriftstellerin Karin Kersten, die mit ihrem Debütroman "Die Aufgeregten" den "ultimativ entspannten Großstadtroman" vorgelegt hat. Besprochen werden Techno-CDs.

Schließlich Tom.

NZZ, 08.07.2005

Bitterböse nimmt Beatrix Langer das grassierende "Biografieren am lebendigen Objekt" aufs Korn. "Heutige Autoren leben in der Regel etwas länger als ihre Bücher. Verlage haben das erkannt. Sie lassen über Schriftsteller Biografien schreiben, die kraftlos in der Gegenwart verebben, weil ihnen der Paukenschlag des Finalen fehlt, handelt es sich bei den Porträtierten doch um rüstige Siebziger." Zum Schluss schmeckt Langer ihren Kommentar noch mit ein wenig Nationalpsychologie ab. "Die Deutschen entsorgen ihre Dichter, lebendig oder tot, ja sowieso gern in Denkmale. Und wer hört nicht bei dem Wort Biografie die Sargdeckel leise einschnappen."

Weitere Artikel: Die Nubier waren eine eigenständige Kultur, erfährt Kristina Bergmann aus Schweizer Ausgrabungen im nordsudanischen Kerma (mehr). Beatrice Eichmann-Leutenegger stellt eine "opulente" Ausgabe der Grazer Literaturzeitschrift Manuskripte mit über fünfzig exklusiven Texten Schweizer Schriftsteller vor. Marianne Zelger-Vogt berichtet vom Eröffnungsabend des Rossini-Festivals in Bad Wildbad und stellt das Programm der beiden folgenden Wochen vor. Die einzige Besprechung widmet sich der "ersten umfassenden" Ausstellung zum Daumenkino in der Düsseldorfer Kunsthalle.

Auf der Medienseite blickt Heribert Seifert mit Sympathie auf die Watchblogs, die nach amerikanischem Vorbild die Berichterstattung einzelner Medien verfolgen, hofft aber noch auf Qualitätssteigerung: Bildblog zum Beispiel oder Medienkritik online, das sich auf antiamerikanische Umtriebe spezialisiert hat. "Die Watchblogs erheben den Anspruch, im Sinne einer kritischen Öffentlichkeit die traditionellen Träger der Meinungsbildung zu kontrollieren. Diesem Anspruch können sie noch kaum verlässlich gerecht werden. Persönliche Vorlieben und Abneigungen, mangelnde Urteilsfähigkeit und ein manchmal selber kritikbedürftiger Umgang mit journalistischen Sorgfaltspflichten machen sie zu schillernden Kronzeugen der Anklage gegen die 'Mainstream'-Medien. Alle Zweifel, die das Publikum der konventionellen Medienberichterstattung gegenüber hat, lassen sich auch gegen die Watchblogs ins Feld führen."

Außerdem beobachtet Stephan Alexander Weichert die Medienbeobachter und "ras" sieht in den "Ich-Buden" des Internets, eine neue Basis für medienkritische Reflexion aufkeimen.

Tagesspiegel, 08.07.2005

Im Tagesspiegel kommentiert ein Ungenannter den Verkauf der Sammlung Grothe an das Sammlerpaar Ströher. Nun weiß keiner, wie lange Grothes Dauerleihgaben noch im Bonner Kunstmuseum, das erst kürzlich nach den Wünschen des Sammlers erweitert wurde, verbleiben werden. "Hierzulande müssen beide Seiten noch lernen: die Privaten, dass öffentliche Institutionen nicht bequeme Zwischenlager für sprunghafte Ambitionen abgeben, und die staatliche Seite, nicht jedes Angebot zum Anlass für Vorleistungen zu nehmen, ohne dass eine Lösung auf Dauer gesichert ist. Auf Dauer aber heißt in der Welt der Museen nun einmal: unwiderruflich."
Stichwörter: Museen

FR, 08.07.2005

Daniel Kothenschulte ist mit der deutschen Pop-Delegation zum Live8 Konzert nach Edinburgh geflogen. Und was hat er dort erlebt? Das Ende der politischen Festivalkultur. "Am Ende des vierstündigen Konzerts, dessen Line-Up aus nationaler Konsensmusik von Wet Wet Wet bis Travis über den Band-Aid-Veteranen Midge Ure wirkungssicher zu einem Gastspiel des unverwüstlichen US-Soulveteranen James Brown führt, werden 50.000 im Drei-Sekunden-Takt mit den Fingern schnipsen. Soll heißen: Alle drei Sekunden stirbt ein Kind. Nie hat ein humanitäres Anliegen einen erbärmlicheren ästhetischen Ausdruck gefunden als hier. Nichts darf weh tun bei diesem Protest, man bevorzugte lächelnde Hungerkinder auf den Videowänden, untermalt mit Ethnopop ... An diesem Mittwoch wird das Erbe von Woodstock, das Rockspektakel als Ausdruck einer wie weit auch immer gefassten höheren Mission endgültig begraben. Keiner der Musiker macht auch nur den Versuch, sein politisches Anliegen künstlerisch zu formulieren. Lediglich Annie Lennox packt ihre Gefühle in eine schöne Version des Redemption Song."

Besprochen wird eine Retrospektive des Künstlers Jiri Georg Dokoupil in den Hamburger Deichtorhallen, ein Konzert von Anastacia in Frankfurt und ein Marathonkonzert von Pierre Laurent Aimard und Tamara Stefanovich, die beim Klavier-Festival Ruhr Pierre Boulez' Klavierwerk spielten.

FAZ, 08.07.2005

Die Berichterstattung der deutschen Sender über die Londoner Anschläge hat der FAZ missfallen, nur Phoenix kann bestehen. Dem Rest raten Michael Hanfeld und Stefan Niggemeier in ihrer wütenden Tirade auf der Medienseite, in Krisenfällen doch einfach sehr gute Silmultandolmetscher einzustellen und das Programm von CNN oder BBC zu übernehmen. Im Aufmacher betrachtet Gina Thomas Henry Moores (mehr) düstere Zeichnungen von während des Weltkriegs im Untergrund zusammengedrängten Londonern und kommt nach einigen historischen Reminiszenzen zu dem Schluss, dass Tod und U-Bahn schon immer nahe beieinander waren. Mehr Berichte zu den Attentaten gibt es auf der Politikseite.

Auf einer eigenen Seite sorgt sich die FAZ um den Ruf des Museums als öffentliche Institution. Niklas Maak warnt die Häuser davor, sich "geblendet von Versprechen kurzfristiger Prestiges" den Interessen privater Sammler auszuliefern. "Der Mäzen alter Prägung, der seine Sammlung in einer großzügigen Geste, ohne Vorbehalte und Klauseln, einem Museum schenkt, wird zunehmend vom Kunstspekulanten im Gönnergewand abgelöst." Aktueller Auslöser ist der plötzliche Abzug der Sammlung Dieter Bocks, immerhin 500 Exponate, aus dem Frankfurter Museum für Moderne Kunst, über den Konstanze Crüwell berichtet. Dass Dauerleihgaben nicht unbedingt von Dauer sind, erfährt Andreas Rossmann in Bonn, wo Hans Grothe offensichtlich seine an die Stadt verliehene Kollektion nun an das Darmstädter Sammlerpaar Sylvia und Ulrich Ströher verkauft hat.

Weiteres: Andreas Rosenfelder sieht im neuen Festival des deutschen Films in Ludwigshafen eine Brutstätte für ein neues deutsches Autorenkino, nicht zu verwechseln mit dem deutschen Quotenkino, das sich heute beim Deutschen Filmpreis in Berlin feiern wird. Gerhard R. Koch schreibt zum Tod von Thomas Kakuska, Bratschist im Alban Berg Quartett. Patrick Bahners berichtet "Aus deutschen Hörsälen", und eine Vorlesung über das Alte Testament in München bekommt Bestnoten. Alexandra Kemmerer fasst eine Tagung zum Recht des Krieges am Hamburger Institut für Sozialforschung zusammen.

Jordan Meijas verkündet auf der Medienseite den vorerst letzten Akt in der Auseinandersetzung um den Informantenschutz in den USA: Judith Miller, schweigsame Reporterin der New York Times, ist nun in Beugehaft. Auf der letzten Seite beschwört Michael Gassmann die goldenen Zukunft von Instrumenten aus dem sächsischen Vogtland. Joachim Müller-Jung meldet die Geburt eines Kindes, dass als Embryo dreizehn Jahre tiefgekühlt wurde. Und Peter Körte porträtiert den Filmregisseur Dani Levy, der mit "Alles auf Zucker" heute als Favorit beim Deutschen Filmpreis gilt.

Besprochen werden ein Auftritt von Cristina Hoyos und ihrem Flamenco-Ballett in der Oper Leipzig und Bücher, darunter Karin Pütts Einblick ins ländliche Bauen in Syrien, Erin Cosgroves RAF-Liebesroman "Die Baader-Meinhof-Affäre" sowie Joachim Helfers Novellenband "Nicht zu zweit" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).