Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.07.2005. In der NZZ fordert der Soziologe Tahir Abbas eine tiefgreifende Veränderung des Islam. Der Prozess gegen den mutmaßlichen Mörder von Theo van Gogh beschäftigt auch die Feuilletons. In der Welt möchte der niederländische Journalist Jaffe Vink der Zivilisation ihre Feinde zurückgeben. Und die taz lässt aus einem Vergleich der britischen und der niederländischen Gesellschaft erstere als Sieger hervorgehen. In der SZ bekennt der serbische Autor Vladimir Arsenijevic seine Scham über das Massaker von Srebrenica. In der FR lässt sich Georg Klein von Isabel Allendes "Zorro" nicht beeindrucken.

NZZ, 12.07.2005

Der in Birmingham lehrende Soziologe Tahir Abbas befasst sich mit der Radikalisierung britischer Muslime und konstatiert einen erheblichen Reformbedarf auch des moderaten Islam: "Sollten die tragischen Ereignisse vom 7. Juli nach New York, Washington, Bali und Madrid einen weiteren Markstein auf dem Weg der von Osama bin Laden und Abu Mussab al-Sarkawi beeinflussten Radikalisten markieren, die bereit sind, im Namen des Islam Unschuldige zu ermorden oder zu verstümmeln (und möglicherweise britische Muslime zu solchen Handlungen zu verleiten): dann ist das ein Zeichen dafür, dass es um den Islam zurzeit schlecht bestellt ist und dass eine tatsächliche Reform oder Entwicklung in der Praxis dieser einst großen Religion noch sehr fern am Horizont steht. Es ist offensichtlich, dass der Islam im Westen wie auch anderswo einer zielgerichteten Veränderung bedarf; und in Anbetracht der in England geltenden Antidiskriminierungsgesetze und der Offenheit der hiesigen Gesellschaft bleibt zumindest zu hoffen, dass es für diese Möglichkeit weiterhin Raum gibt."

Andreas Breitenstein berichtet von einem Treffen hochkaratiger Schriftsteller aus dem ehemaligen Jugoslawien, die zehn Jahre nach Srebrenica über Ursachen und Folgen des Massakers diskutierten. Der ungarische-serbische Schriftsteller Laszlo Vegel sah zum Beispiel Srebrenica in der Tradition des 20. jahrhunderts stehen: "Der Mord von Srebrenica ist ohne diese 'Kultur der Massengräber' nicht zu begreifen. Das Schweigen und die Hybris der Sieger hätten, so Vegel, die Glut der Geschichte motten lassen ("motten" ist offenbar Schweizerisch für "schwelen"). Es brauchte nach dem Kollaps des Kommunismus nicht viel, den alten Hass zu entzünden und mit ihm die Idee, dass sich die Dinge mit Gewalt regeln lassen. Es darf daher heute nicht sein, dass man über den Krieg der neunziger Jahre in dasselbe Schweigen verfällt und das Verhängnis sich fortsetzen lässt. In München war man sich einig, dass das Haager Tribunal derzeit die einzige Chance der Katharsis bietet, indem es die 'Sieger' aus ihrer Verblendung und die 'Verlierer' aus ihrer Verstocktheit herausholt."

Weiteres: Jürgen Tietz berichtet von neuesten Entwicklungen im Denkmalschutz. Besprochen werden Johann Nestroys Sämtliche Briefe und Alexandre Kojeves Hegel-Studie (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 12.07.2005

Alles drängt in die Londoner Tate Modern, um die mit neunzig Werken gut ausgestattete Retrospektive zu Frida Kahlo zu bewundern. Gina Thomas ist mittendrin, nur die allgemeine Begeisterung über die mexikanische Malerin mag sie nicht teilen. "Nicht zuletzt erklärt sich ihr Publikumserfolg aus der Zugänglichkeit ihrer Bildsprache, und selbst die Kritiker, die sich nicht für sie erwärmen, gestehen ihrer selbstentblößenden Malerei eine enorme Wirkungkraft zu. Doch will man die kritische Aufnahme der Londoner Retrospektive auf eine Formel bringen, so muß man zu dem Schluss kommen, dass das größte Werk Frida Kahlos die Inszenierung ihrer selbst ist."

Wenig begeistert ist Joseph Hanimann vom Auftakt des Kunstfestivals in Avignon. Denn die politische Tendenz des Vorjahrs wird zugunsten eines "ästhetischen Allerleis" verschiedener Genres wie Tanz, Theater und Video aufgegeben. "Abgesehen von der Neun-Stunden-Trilogie 'Les Vainqueurs' von Olivier Py und einem auf Punkt und Komma herbuchstabierten 'Hamlet' des - sonst talentvollen - Marseiller Autors und Regisseurs Hubert Colas, haben wir es vorwiegend mit Bild- und Ritualtheater zu tun, oft hart am mythologischen Kitsch."

Christian Geyer meditiert über den Bedeutungswandel des Namens Hartz. "Ließ uns zuletzt nicht allein schon der metallene Klang dieses Namens ein gehämmertes Gesicht annehmen?" Joseph Croitoru sorgt sich über die Anziehungskraft der Softair-Waffen für Jugendliche. Leo Wieland erblickt Mario Vargas Llosa beim Stierkampf in Pamplona - auf dem Rathausbalkon. "bat" vermerkt den Abriss der Berliner Kirche St. Raphael zugunsten eines Supermarktes als erstes Fanal des Kirchensterbens. Monika Osberghaus wartet mit akkreditierten Jungreportern in Edinburgh auf eine Voransicht des neuen Harry-Potter-Bandes. In der Reihe über weibliche Verlegerinnen porträtiert Eberhard Rathgeb diesmal Elisabeth Raabe und Regina Vitali vom Hamburger Arche-Verlag. Judith Leister resümiert ein mit Schriftstellern wie Bora Cosic (Bücher) und Beqe Cufaj (Bücher) "hochkarätig" besetztes Münchner Symposion zu Srebrenica. Auf der Medienseite meldet Michael Seewald, dass Fernsehpfarrer Fliege "exorziert" wird. Wahrscheinlich ab 1. Januar soll auf dem Sendeplatz eine Telenovela starten.

Auf der letzten Seite skizziert Frank Rutger-Hausmann die religiösen Überzeugungen führender Nationalsozialisten. Hitler etwa zahlte bis zum Ende Kirchensteuer. Auf einer Lesung des Suhrkamp-Archivs erfährt Eva Maria-Magel, welche Kämpfe Theodor W. Adorno für die Veröffentlichung der Schriften von Walter Benjamin ausgestanden hat. Und Thomas Thiel stellt den Heidelberger Archäologen Tonio Hölscher vor.

Besprochen werden die Ausstellung zum 1200. Geburtstag von Magdeburg (Andreas Kilb diagnostiziert "konzeptionelle Unlust".), ein Auftritt des englischen Altrockers Peter Frampton beim Zeltfestival im Mainz, eine "vorbildliche" DVD über die ersten filmischen Gehversuche im Labor des Erfinders Thomas Edison, eine ebenfalls "vorbildliche" Gangster-Kollektion mit sechs berühmten Filmklassikern von Warner Brothers, sowie als einziges Buch eine Erzählung von Armin Mueller-Stahl (die Andrea Neuhaus als Epilog zur Rolle in Breloers Heinrich-Mann-Fernsehfilm "Jahrhundertroman" liest) (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 12.07.2005

Gestern hat der Prozess gegen den mutmaßlichen Mörder von Theo van Gogh begonnen. Der niederländische Journalist Jaffe Vink schreibt über den Schock der Gewalt in den scheinbar so idyllischen Niederlanden: "Wir dachten, dass wir im Frieden leben. Doch die Terroristen sind unter uns. Und plötzlich merken wir, dass wir mit Gewalt nicht umgehen können - weder mit krimineller noch mit terroristischer, nicht mit Messern und nicht mit Bomben. Es scheint, als hätten wir das Gefühl für drohende Gefahren verloren, das nötig ist, um Unheil abzuwenden. Auf Terror sind wir überhaupt nicht eingestellt, weil wir zu sehr beschäftigt sind mit unseren guten Absichten und unserer humanitären Süßlichkeit, weil wir erfüllt sind von der Idee, dass sich die Welt schon nach unseren Denkfiguren von Toleranz und Freiheit entwickeln wird."
Stichwörter: Gogh, Theo van, Der Prozess

TAZ, 12.07.2005

In der zweiten taz vergleicht Natalie Tenberg die britische Gesellschaft mit der niederländischen - letztere kommt dabei schlecht weg. "Während Großbritannien ein Land der expliziten Verbote und impliziten Einschränkungen dieser Verbote ist (und damit ein leicht zu durchschauendes Normenkonstrukt vorweist), sind die Niederlande ein Ort des expliziten Liberalismus und der impliziten Verbote - schwierig für Unbedarfte oder eben auch Ausländer, die aus Kulturen stammen, denen solche Differenzierungen fremd sind. Die Unterschiede zwischen der britischen und der niederländischen Gesellschaft zeigen aber auch, dass eine traditionsbehaftete Gesellschaft, die ihre Regeln offen zur Schau stellt, für ihre Bürger leichter zu handhaben ist als eine scheinbar liberale Gesellschaft, die ihre Beschränkungen beschämt hinter lapidaren und ironischen Aussagen versteckt."

Im Kulturteil berichtet Sabine Leucht über ein Symposium im Münchner Literaturhaus mit Autoren aus Ex-Jugoslawien. Isolde Charim überlegt, warum Rot-Grün gerade "von allen Seiten begraben" wird. Helmut Höge kommentiert den Leerstand am Potsdamer Platz nach dem Auszug von Sony und der Deutschen Bahn.

Besprochen werden eine Ausstellung über die kulturelle Kraft der schwarzen Widerstandskämpfe und Bürgerrechtsbewegungen der Sechziger- und Siebzigerjahre, "Back to Black", in der Whitechapel Art Gallery in London und Dea Lohers Erzählband "Hundskopf" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

FR, 12.07.2005

Auf der Dokumentationsseite beklagt der Historiker und Antisemitismusexperte Wolfgang Benz angesichts von Srebrenica und Armenien den schwammigen Umgang mit Begriffen wie ethnischer Säuberung und Genozid. "Der Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich im Ersten Weltkrieg trug, mit eineinhalb Millionen Opfern, alle Merkmale genozidalen Staatsterrors gegen eine Minderheit: den ideologisch begründeten Vorsatz, die systematische Durchführung, die Tarnung aus Staatsräson und die Verleugnung aus patriotischen Motiven durch den Nachfolgestaat der Tätergesellschaft bis zum heutigen Tag."

Der Mythos Zorro beschäftigt den Schriftsteller Georg Klein. Die jüngste, stark beworbene Bearbeitung der Legende vom selbstgerechten "Terroristen aus Überzeugung" durch Isabel Allende ist ihm insgesamt zu zahm, und schon das Konzept erscheint ihm diskutabel. "Allende hat sich vorgenommen, die ersten zwanzig Jahre von Zorros Leben zu schildern, will also zeigen, wie Zorro zu Zorro wurde. Ein fragwürdiges Unterfangen. Denn was kann ein Held, den jeder schon glücklich fertig im Kopf hat, noch dazugewinnen, wenn ihm nun auch noch eine Kinderstube und eine Pubertät nachgereicht werden?"

Weitere Artikel: Der Autor Norbert Seitz beleuchtet Angela Merkels Beziehung zu den Künsten, kommt aber zu keinem eindeutigen Bild. Florian Malzacher haben beim Festival "Theater der Welt" in Stuttgart vor allem die kleineren Arbeiten überzeugt. Spitzenreiter auch beim Publikum war die Installation von Stan's Cafe. "Of All the People in All the World", wo mit Reiskörnern globale Verhältnisse dargestellt wurden. Auch zehn Jahre nach Srebrenica kann es keine Bewertung der Geschichte, sondern nur "Verlustanzeigen" geben, lernt Katrin Hillgruber aus einem Symposion mit ex-jugoslawischen Schriftstellern im Münchner Literaturhaus. Thomas Medicus trauert in Times mager um die abgerissene Kirche St. Raphael von Rudolf Schwarz in Berlin-Gatow, an deren Stelle nun wahrscheinlich ein Supermarkt errichtet wird.

Beeindruckt besprochen wird eine Schau mit Entwürfen deutscher Architekturbüros für chinesische Bauwerke und Städte in der Münchner Pinakothek der Moderne.

SZ, 12.07.2005

Das Literaturhaus München hat eine Tagung zum Massaker von Srebrenica organisiert. Die SZ druckt die Rede des serbischen Autors Vladimir Arsenijevic, der seine Scham über die jüngst aufgefundenen Videobänder von der Exekution einiger junger Männer aus Srebrenica bekennt: "Das Wissen, dass sich Mörder und Henker locker und frei unter uns bewegen, ist nicht Gott weiß was, daran sind wir seit langem gewöhnt, aber dass es sich hier um eine besondere Spezies verbrecherischer Exhibitionisten handelt, die ihre Untaten auf einem Videoband festgehalten und dann ihr Souvenir in Umlauf gebracht haben, ist ein ungewöhnliches Detail, das ein besonderes Licht auf die ganze Sache wirft. Indem sie ihr Videoband vervielfältigt und in den Verkehr gebracht haben, sind sie genau genommen zu Schauspielern im eigenen Snuff-Film geworden."

Jens Bisky hat das Wahlprogramm der CDU (hier als pdf) gelesen und zeigt sich bestürzt: "Für jeden aufrechten Konservativen ist es eine Katastrophe. Über eine vernünftige Kulturpolitik des Bundes schweigt das Papier, beim Thema Bildung besticht es durch Phrasen und Starrsinn; Fragen, über die zu streiten lohnte, werden nicht einmal gestellt. Keine Spur von den konservativen Tugenden, die am weltläufigsten Golo Mann gepriesen hat. Man vermisst 'das In-Rechnung-Stellen von des Menschen wirklicher, wirklich umschränkter Natur' ebenso wie 'die Sympathie für das Gute Alte, das Gewordene, Traditionelle'. An deren Stelle scheinen Eigenverantwortungsgeschwafel und reaktionärer Kleingeist getreten. Leichter als hier konnte man programmatische Aushöhlung lange nicht studieren."

Weitere Artikel: Thomas Steinfeld kommentiert eine Umfrage der amerikanischen Zeitschrift Forum, des Organs der "Association of Literary Scholars and Critics", zur Frage, wie man die Jugendlichen wieder zum Lesen bringen könne. Helmut Mauro schreibt über einen Rechtsstreit zwischen den Festivals von Düsseldorf und Barga einerseits und der Berliner Singakademie über das Recht, eine von der Singakademie wiederentdeckte Vivaldi-Oper wieder aufzuführen. In der Kolumne Zwischenzeit antwortet Hermann Unterstöger auf die Kritik eines Linguisten auf feuilletonistische Sprachkolumnen. Bernd Graff hat einer Tagung über Computerspiele im Dresdner Hygiene-Museum zugehört. Reinhard Seiss besucht die Wiener Donau City, wo gerade ein von Hans Hollein geplantes Hochhaus bezogen wurde, und zeigt sich noch wenig überzeugt von dem Neubauviertel.

Auf der Literaturseite wirft Jürgen Busche einen Blick in ein paar alte rororo-Monografien. Auf der Medienseite empfieht Stefan Ulrich einen Film über die frühere Haager Chefanklägerin Louise Arbour, der heute Abend auf Arte läuft. Und Hans-Jürgen Jakobs erzählt neueste Episoden aus dem Schleichwerbungsskandal be der Bavaria.

Besprochen werden eine große Joshua-Reynolds-Ausstellung in der Tate Britain, Aufführungen des Stuttgarter Festivals "Theater der Welt", John Moores Film "Flug des Phoenix", Konzerte des "Romanischen Sommers" in Köln und eine von drei Filmemacherinnen verantwortete 'Verfilmung des Stücks "Stadt als Beute" von Rene Pollesch.