15.07.2005. Europa muss eine Sache des Herzens und der Jugend werden, fordert Urs Schoettli in der NZZ. Freiheit oder Einheit - Europa muss sich entscheiden, fordert Ralf Dahrendorf in der SZ. In der FR lehnt Felicitas Hoppe das "Kennzeichen konservativ" ab. Die taz stellt das neue Ding aus der Karibik vor. Und in der FAZ vermutet der Biologe Manfred Laubichler politische Motive hinter dem Zeitungskommentar des Wiener Kardinals Schönborn zur Evolutionslehre.
NZZ, 15.07.2005
Urs Schoettli
fordert im Aufmacher eine
Erneuerung Europas im Geiste des italienischen
Risorgimento: "Europa muss wieder zu einer Sache der Herzen
werden. An die Stelle der ewiggleichen Austarierung von Agrarinteressen, Budgetzahlungen und Harmonisierungen muss eine neue Epoche des europäischen
Sturm und Drangs treten. Dies muss in erster Linie bedeuten, dass ohne parteipolitische oder nationale Scheuklappen der bisherige Einigungsprozess durchleuchtet wird und dass bei offensichtlichen Fehlentwicklungen auch der Mut zur radikalen Umkehr
aufgebracht wird." Und zu diesem Zweck könnte ein
Generationswechsel nicht schaden, meint Schottli, denn "das Risorgimento, die italienische Einigung, (wurde) nicht von Siebzig- oder Achtzigjährigen
lanciert."
Weitere Artikel: Claudia Schwartz
kommt in der Berliner
Goya-
Schau zur "tief empfundenen Einsicht, dass die
Moderne nicht unbedingt den Fortschritt hin zum
Besseren bedeutet". Georges Waser
feiert das Weihnachten der Buchhändler, die beim Erscheinen des
neuen Potter-Bandes heute Nacht
10 Millionen Exemplare absetzen wollen. Hubertus Adam
stellt Tony Frettons (mehr
hier) Umbau des
Camden Arts Centre in London vor. "m.v."
referiert Stephane Lissners Pläne für das Festival von
Aix-en-Provence. Besprochen wird ein
Konzert der Band
Coldplay in Locarno.
Auf der
Filmseite geht's um den
Film "Quand la mer monte" von
Yolande Moreau und
Gilles Porte, um
Todd Solondz' neues Werk "Palindromes". Und "mau"
stellt das Programm des Festivals von
Locarno im August vor.
Auf der
Medienseite meditiert "ras." über die Verschiebung in den
Medienhierarchien durch
Fotohandys und
Weblogs, die sich nach den Londoner Bomben-Attentaten endgültig vollzogen habe.
FR, 15.07.2005
In der Interviewserie "Sind Sie
konservativ?"
findet die von Ina Hartwig befragte Autorin
Felicitas Hoppe den künstlich kultivierten Konservatismus einiger ihrer Kollegen
albern: "Es erscheint mir wie eine
Panikreaktion. Die Dinge verändern nun einmal ihre Form! Das Interessante ist doch, präsent zu sein im Hier und Jetzt und diese Formveränderung zu beobachten. Wenn man etwas bewahren will, dann gibt es meiner Überzeugung nach nur eine Möglichkeit: nämlich zu akzeptieren, dass die Dinge sich verändern. Es ist im Prinzip
wie beim Einkochen: Die Sache selbst verschwindet, indem sie in eine andere übergeht, und das finde ich großartig."
Weitere Artikel: Michael Rutschky
sucht Erklärungen für das "
eigentümliche Sicherheitsgefühl"
der Konservativen, wenn es ums
Regieren geht. Nach den Debatten um eine Verlegung des Instituts für
Judaistik der Frankfurter Universität nach Marburg (die jetzt abgewendet scheint)
erzählt der Hallensische Judaist
Giuseppe Veltri die Geschichte seines Fachs. Peter Iden
erinnert an die erste
Documenta vor fünfzig Jahren. In
Times mager kommentiert Christian Thomas den vorzeitigen Rücktritt der Direktorin des
Deutschen Architektur Museums (DAM) in Frankfurt,
Ingeborg Flagge.
Besprochen wird, neben einigen Ereignissen von lokaler Relevanz, eine
Ausstellung mit
Büchner-Autografen in der
Kreissparkasse Riedstadt-Goddelau.
SZ, 15.07.2005
Europa muss sich entscheiden, ob es
Freiheit oder Einheit will, meint der ehrwürdige
Soziologe Ralf Dahrendorf, dessen kürzlich gehaltene Werner Heisenberg-Vorlesung Rede die
SZ abdruckt. Dahrendorf selbst hat klare Prioritäten: "Europa hat letzten Endes nur Sinn, wenn und insoweit es zur Entfaltung und Verbreitung der
liberalen Ordnung beiträgt. Das kann es nur, wenn es im doppelten Sinne offen ist: offen zu allen anderen in der Welt, beginnend mit seinen Nachbarn, offen aber auch im Charakter seiner Politik, von der Dienstleistungsrichtlinie
bis zur Agrarpolitik, von der Behandlung von Asylanten bis zur Förderung von Innovation... Der
Verfassungsvertrag diente der Einheit, nicht der Offenheit. Es ist gut, dass er uns erspart geblieben ist. Die
Erweiterung beweist die Offenheit, wenn sie auch nicht unbedingt der Einheit weiterhilft. Wir sollten sie beherzt verfolgen und damit den noch ganz unvollkommenen Staaten des westlichen Balkan Hoffnung bringen und die Kräfte der offenen Gesellschaft in der
Türkei und der
Ukraine und der europäischen Nachbarschaft überhaupt stärken."
Weiteres: Rudolf Chimelli sieht in der Radikalisierung junger Muslime in Europa auch eine "
pervertierte Form" der Demokratisierung: "Die neuen Extremisten brauchen keinen Sultan, keinen Kalifen, keinen Ayatollah, auch keine Qaida-Befehlsstruktur. Jeder von ihnen fühlt sich als
kleiner Osama bin Laden oder als Emir seines sektiererischen Zirkels." Reinhard J. Brembeck
stellt klar, dass
Anna Netrebko vielleicht eine schönere Stimme als Maria Callas hat, aber nie und nimmer so viel
Fantasie und Raffinesse. Egal, wofür sich Köln jetzt entscheidet, meint Gottfried Knapp nach dem Ultimatum der Unesco, ob für seine neuen Hochhäuser oder für den Dom - das Ergebnis wird unschön sein. Die Pläne, den
Limes ins Weltkulturerbe aufzunehmen, findet Ira Mazzoni nicht besonders aufregend ("
ein paar Erdwälle, schnurgerade Feldwege oder Flurkanten").
Jonathan Fischer beschreibt, wie der 1996 erschossene Rapper
Tupac Shakur zunehmend zum
Märtyrer einer ganzen mutterlosen Generation stilisiert wird und inzwischen sogar neben neben
Malcolm X und
Martin Luther King die Kirchenwände ziert. Klaus Lüber berichtet, dass sich die Linzer Kuratoren der Anti-Kommerz-Schau "
Justdoit" den Vorwürfen ausgesetzt sehen, mit den Urheberrechten ihrer Katalogtexte allzu frei umgegangen zu sein.
Besprochen werden eine Ausstellung zur 1200-jährigen Stadtgeschichte im
Kulturhistorischen Museum in Magdeburg, eine "La Boheme"-Aufführung in der Arena di Verona, die Lübecker Ausstellung zu
Thomas Manns fünfzigstem Todestag und Bücher, darunter
Samuel Butlers viktorianische Notizen "Wollschwein und Tafelsilber" und Marguerite Droz-Emmerts Biografie der Renaissance-Malerin
Catharina van Hemessen (mehr in unserer
Bücherschau ab 14 Uhr).
TAZ, 15.07.2005
Als "das neue Ding aus der Karibik" oder auch "Sex in Kleidern"
führt Knut Henkel den
Reggaeton ein: Dessen "treibender, blechern scheppernder, vom HipHop inspirierter
Dancehall-Sound stammt zumeist aus dem Drumcomputer und wird bei Bedarf ergänzt durch
Salsa-Bläsersätze, Cumbia- und Bomba-Percussions oder Merengue-Rhythmen. Über diese Basis legen die MCs ihre spanischen Lyrics. In Puerto Rico hat der Sound aus den Barrios längst die Salsa in der Gunst der Jugend abgelöst: Salsa
bleibt den über Dreißigjährigen und den Familienfeiern vorbehalten, während die Jugend des Landes dem Reggaeton frönt und den
Perrero tanzt."
Als
vollkommenen Pop bejubelt Uh-Young Kim
Missy Elliotts neue Platte
"The Cookbook", bemerkt aber leicht reaktionäre Tendenzen: "Im schwanzgesteuerten HipHop mag Missy der einzige weibliche Star sein. Unterwürfig himmelt aber auch sie in Songs den 'magic stick' ihres Liebhabers an. Angesprochen auf Frauenrechte oder Black Power reagiert sie wie ihr Produzent Timbaland, wenn man ihm Drum 'n' Bass als Inspirationsquelle unterstellt: Sie zuckt mit den Schultern und steigt in einen ihrer
zehn Lamborghinis."
Besprochen wird der
Episodenfilm "Antares" des österreichischen Regisseurs
Götz Spielmann. In der tazzwei
begleitet Arno Frank die jüngeren
biologischen Umwälzungen in Deutschland: Papageien am Rhein, Füchse in Berlin, Wölfe in Brandenburg.
Und
Tom.
Welt, 15.07.2005
Wieland Freund und Elmar Krekeler
führen ein hübsches und ausführliches Interview mit dem deutschen Potter-Übersetzer
Klaus Fritz. Auf den Einwand von der
angeblichen Unübersetzbarkeit vieler Wortspiele antwortet er: "Oft kommen dann noch die humorlosen Experten für britischen Humor. Das ist Unsinn, nur manche Wortspiele lassen sich nicht eins zu eins übertragen, aber das ist bei anderen Übersetzungen genauso. Eine meiner Lieblingsszenen der
komischen Sorte ist jene, in der Dumbledore und Harry vor dem Spiegel des Begehrens stehen und Harry ihn fragt, was er denn darin sehe. Dumbledore antwortet, er sehe sich im Spiegel mit einem
Paar Socken in der Hand: Alle schenkten ihm zu Weihnachten Bücher, keiner schenke ihm Socken. Ich will das Komische daran jetzt nicht erklären, man versteht es oder nicht, aber was soll schwierig daran sein, es zu übersetzen?"
FAZ, 15.07.2005
Der
Theoretische Biologe Manfred Laubichler kritisiert den Wiener
Kardinal Christoph Schönborn, der in einem
Artikel in der
New York Times die Wissenschaftlichkeit der
Evolutionstheorie davon abhängig gemacht hatte, ob sie Gott einschließt. Laubichler vermutet hinter dem Artikel politische Motive: "Ist es nun eine bloße Koinzidenz, dass die Erklärung eines Wiener Kardinals in Amerika mit einer dort offensichtlich räsonierenden antiwissenschaftlichen Botschaft ausgerechnet zu jener Zeit lanciert wird, in der Sitze im
Supreme Court vakant sind?"
Weitere Artikel: Die
Rettung der Bildung, der Krankenversicherung, Rente und Energieversorgung wird
mathematisch sein, behauptet Dietmar Dath. Denn "der Gegenstandsbereich und die Schlussweisen dieser Wissenschaft sind meinungsresistent und
nicht verhandelbar". Andreas Rossmann sammelt Reaktionen auf die Entscheidung der Unesco, den
Kölner Dom weiterhin auf der
Roten Liste "Welterbe in Gefahr" zu führen. Dieter Bartetzko berichtet über die
Restaurierung der Marktkirche in Wiesbaden-Bierstadt: An den 350.000 Euro hohen Kosten beteiligt sich mit 150.000 Euro ein privater Förderkreis, was Bartetzko nicht so recht gefällt, zeige es doch, dass der Staat seine Kulturdenkmäler nur noch mit "Bettelei" erhalten könne. Hannes Hintermeier stellt die Ergebnisse einer Wirtschaftspressekonferenz des
Börsenvereins des Deutschen Buchhandels vor: die Talfahrt der kleinen und mittelgroßen Buchhandlungen hält an, das Onlinegeschäft wächst kräftig weiter.
Auf der Medienseite berichtet Jürg Altwegg von einer
Klage des französischen Innenministers
Nicolas Sarkozy gegen das Schweizer Boulevardblatt
Matin, weil es über die Trennung der Eheleute Sarkozy berichtete: "Die Klage zeugt von Sarkozys zunehmender Nervosität. Er ist über die größte französischsprachige Zeitung der Schweiz wohl deshalb so empört, weil sie zum
Schrittmacher der französischen Medien wurde. Von ihnen sagt
Matin-Chefredakteur Peter Rothenbühler: 'Sie haben Angst vor dem Mann, der wohl der nächste Präsident Frankreichs sein wird.'" Bisher habe keine der großen französischen Zeitungen, die seit zwei Tagen informiert sind, den anstehenden Prozess erwähnt, schreibt Altwegg. Michael Seewald empfiehlt den
Fernsehfilm "In Sachen Kaminski", der heute abend bei
Arte läuft. Und Michael Hanfeld
führt uns in weitere Untiefen des
Schleichwerbung-Skandals um die Bavaria.
Auf der letzten Seite porträtiert Alexandra Kemmerer den
Völkerrechtler Benjamin Ferencz. Jürg Altwegg beschreibt den
Bücherklau in französischen Bibliotheken, selbst renommierte Mitarbeiter der
Bibliotheque Nationale sollen daran beteiligt sein. Marion Tegethoff meldet, dass, nachdem die
Psychologen in der Zeitschrift
Gehirn und Geist ein
Gegenmanifest zum
Manifest der Hirnforschung veröffentlichten, sich nun auch die Psychiater zu Wort gemeldet haben.
Besprochen werden eine Ausstellung der Fotografien von
Lee Friedlander im
Museum of Modern Art, eine Aufführung des Mariinsky-Theaters von
Tschaikowskys "Zauberin" in Baden-Baden, der
Marvel-Film "Die Fantastischen Vier" ("Welchem der vier Mitglieder der Fantastischen Vier gleicht der gleichnamige Film? Antwort: 'Mr. Fantastic', er zieht sich", scherzt Patrick Bahners) und Bücher, darunter
Christoph Menkes Studie über "Die Gegenwart der Tragödie" (mehr in unserer
Bücherschau heute ab 14 Uhr).