Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.07.2005. In der NZZ beschuldigt Ludwig Ammann die niederländische Politikerin Ayaan Hirsi Ali der "gezielten Lüge" über den Islam. In der FR meint Gerd Koenen, dass der geplante Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus im Jahr 1969 nicht einfach Ausdruck eines linken Antisemistismus war. Die FAZ lotet die moralischen Abgründe aus, die Horst Köhler nun durchschreiten muss. Die SZ erklärt, warum moderne Regisseure nichts mit Schiller anfangen können, ihn aber dennoch inszenieren. Der Tagesspiegel fragt: Wie soll die Welt ohne "Kodachrome 40" auskommen?

NZZ, 19.07.2005

Ludwig Ammann stellt verschiedene Bücher über die Situation muslimischer Frauen vor. Von Ayaan Hirsi Alis Streitschrift "Ich klage an" hält er zum Beispiel gar nichts: "Die Abgeordnete der Rechtsliberalen bekennt sich zu einer maximal konfrontativen Strategie. Das kann aufregende Kunst sein, wenn Hirsi Ali die männliche Rechtfertigung von Grausamkeit gegen Frauen durch Koranverse entsprechend grausam kontert. Und es wird zur gezielten Lüge, wenn sie in ihren Polemiken den 'Islam selbst' - warum nicht die bildungsferne Herkunft? - für das Scheitern der Integration und sogar für Übel wie die Frauenbeschneidung verantwortlich macht." Zur Pflichtlektüre erklärt er statt dessen das Protokoll eines Leidenswegs der Inci Y.: "Erstickt an euren Lügen".

Besprochen werden außerdem eine Ausstellung über die Werkstatt für Wandmalerei am Bauhaus im Berliner Bauhaus-Archiv, eine Wiener Ausstellung über die Erfindung der Donau-Landschaft, Schubertiade in Schwarzenberg, und Bücher, darunter Paula Fox' Roman "Luisa" und Petri Tamminens Miniaturen "Verstecke". (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 19.07.2005

Dieter Kunzelmanns Bombe im Jüdischen Gemeindehaus war nicht einfach Ausdruck eines plumpen Antisemitismus - die Sache war komplizierter, meint der Historiker Gerd Koenen. Er erinnert daran, wie sich im Berlin der sechziger Jahre die Aktivisten der APO, Springerpresse, aber auch Teile der Berliner Christ- und Sozialdemokratie gegenseitig als "alte Nazis" beziehungsweise "rote SA" beschimpften. "Aus dieser intimen Verklammerung voller Pawlowscher Beißreflexe lässt sich das Attentat vom 9. November 1969 nicht herauslösen. Und nur so lässt sich die durch Kraushaars Buch nochmals belegte Tatsache erklären, dass die (funktionsuntüchtige, aber leicht scharf zu machende) Bombe im Jüdischen Gemeindehaus von einem notorischen agent provocateur des Berliner Verfassungsschutzes geliefert worden war - dessen Dienstherr, der sozialdemokratische Innensenator Neubauer, am Tag nach dem Anschlag gemeinsam mit dem Vorsitzenden Jüdischen Gemeinde vor die Presse trat, um den Antizionismus der Linken als einen mordbereiten Antisemitismus zu brandmarken."

Weitere Artikel: Reinhart Wustlich beschreibt neue Architektur in Galicien. Franz Anton Cramer beobachtet eine Annäherung der bisher "heillos zerstrittenen" Akteure der Berliner Tanzszene: "So viel kulturpolitische Nähe und ästhetisches Schmusen zwischen Lagern und Stilen war nie." In Times mager beklagt Ina Hartwig den Niedergang der staatlichen Post und ihrer Symbole.

Besprochen werden Hans Pleschinskis Roman "Leichtes Licht" und Yasmina Rezas Roman "Adam Haberberg" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 19.07.2005

Patrick Bahners lotet die moralischen Abgründe der von Bundespräsident Horst Köhler zu treffenden Entscheidung aus, die noch tiefer sind als in der 1983 von Karl Carstens zu bewältigenden Situation: "1983 konnte Carstens es für plausibel halten, einen durch das konstruktive Misstrauensvotum eingetretenen Glaubwürdigkeitsschwund durch Wahlen aufzuhalten. 2005 hat die Vertrauensfrage im Parlament den Vertrauensverlust im Volk beschleunigt. Könnte sich der Bundestag, der sich mit kläglichsten Wortverdrehungen der Pflicht entzieht, einen Kanzler zu stützen oder zu stürzen, beklagen, wenn ein Populist ihn als Schwatzbude titulierte?"

Weitere Artikel: Lorenz Jäger äußert in der Leitglosse seinen Respekt für den tschechischen Präsidenten Vaclav Klaus, der den westlichen Multikulturalismus als Ursache des islamischen Terrors identifiziert hat. Werner Berggruen erzählt in einer der Schnurren aus seinem Leben, mit denen er die FAZ von Zeit zu Zeit beehrt, wie er sich mit seinen 91 Jahren einmal nicht auf das "Privileg des Alters" berufen konnte , um eine langweilige Veranstaltung zu verlassen - das war bei einem Abendessen des "Ordens pour le merite", wo er noch als einer der Jüngeren gelten darf. Erna Lackner berichtet über einen Ansturm deutscher Studenten auf österreichische Universitäten. Dieter Bartetzko beschreibt eine Stadtskulptur des belgischen Künstlers Jan de Cock in der ehemaligen Frankfurter Altstadt. Wolfgang Sandner gratuliert dem Dirigenten Gerd Albrecht zum Siebzigsten.

Auf der Medienseite beklagt Michael Hanfeld eine uferlose Präsenz von Oskar Lafontaines "Linkspartei" in den öffentlich-rechtlichen Sendern. Thomas Scheen schildert in einer interessanten Reportage die Verdienste des kongolesischen Radiosenders Okapi, der von der Schweizer Stiftung Hirondelle und der UNO getragen wird und als einzige freie Stimme im Land gelten darf - nun droht die Uno auszusteigen.

Auf der letzten Seite würdigt Joseph Hanimann die Verdienste der französischen Küstenschutzinstitution Conservatoire du littoral, die Küstengrundstrücke aufkauft und dadurch der Bebauung entzieht. Niklas Maak fragt, ob die Schlange vor der Berliner Goya-Ausstellung nicht künstlich lang gehalten wird und warum ein derartiger Ansturm in Berlin nicht auch mal bei einer Ausstellung zeitgenössischer Kunst entsteht. Und Katja Gelinsky stellt den ehemaligen Topmanager Bruce Gordon vor, der neuerdings die amerikanische Bürgerrechtsorganisation "National Association for the Advancement of Colored People" (NAACP) leitet.

Besprochen werden Händels "Alcina" bei den Münchner Opernfestspielen, eine Neueinspielung von Glucks Oper "Paride ed Elena", die Schau "fünfmalskulptur" des Kunstvereins Münster und eine Ausstellung der Prachthandschrift "Splendor Solis" im Berliner Kupferstichkabinett.

TAZ, 19.07.2005

In der Reihe "Political Studies" erkennt Dirk Baecker den Kardinalfehler rot-grüner Politik: "Sozialdemokraten und Grüne waren angetreten, um diesem Land zu zeigen, dass es eine Politik gibt, die aus der Mitte der Gesellschaft kommt. Sie waren angetreten, um der älteren Auffassung, dass die Politik ein Geschäft für sich ist, ein neueres Programm entgegenzuhalten, demgemäß die Politik nichts anderes ist als der Inbegriff des Selbstverständnisses der modernen Zivilgesellschaft. Als könne man die Griechen beim Wort nehmen und Politik als Selbstbestimmung der Bürger betreiben, und nicht etwa als Kontrollmodus einer Sklavenhaltergesellschaft, schickte man sich an, die Differenz zwischen Politik und Gesellschaft zu streichen und Gesellschaft ohne jeden weiteren Umweg in Politik umzusetzen."

Besprochen werden die Ausstellung "Covering the Real" über das Verhältnis von Kunst und Pressebilder von Warhol bis Tillmans im Kunstmuseum Basel, das Album "You're a Woman, I'm a Machine" des kanadischen Duos Death From Above 1979 (dem Thomas Winkler "intelligenten Stumpfsinn" bescheinigt), ein Buch mit Lyrik und Prosa des Free-Jazz-Pioniers Sun Ra und das Romandebüt "Flammender Grund" des Schweizer Schriftstellers Frank Heer.

Auf den vorderen Seiten darf im Interview einer von Saddam Husseins selbsternannten Anwälten, der Jordanier Issam Ghazzawi, 1001fach verbreiten, wie es wirklich war: Verantwortlich für alles Übel ist der Iran - "Mein Mandant ist unschuldig".

Und Tom.

Tagesspiegel, 19.07.2005

Die Produktion des Kodachrome 40, besser bekannt als Super-8-Film, wird eingestellt. In einem bewegenden Nachruf erinnert sich Bodo Mrozek an die Revolution, die Super 8 auslöste: "Zum ersten Mal blickten die Menschen zu Hause auf eine Leinwand - und sahen dort sich selbst. Der investigative Dokumentarfilm, der Realismus der Siebziger und das Jedermann-Fernsehen a la Big Brother wäre ohne die Pioniere hinter der Super-8-Kamera kaum denkbar. Und auf Kodachrome ließen sich nicht nur Urlaubserinnerungen drehen. Die Einzelbildtechnik erlaubte Trickfilme, in denen wie von Geisterhand Dinge erscheinen und verschwinden konnten und der erste Kopfsprung lief zum Vergnügen der Zuschauer immer wieder rückwärts."
Stichwörter: Mrozek, Bodo, Jedermann

SZ, 19.07.2005

Christopher Schmidt hat sich quer durch die Republik Schillerinszenierungen angesehen, und bemerkt, dass viele Regisseure mit dem "gelbsüchtigen Pathos aus dem Reclamheft" ihre Schwierigkeiten haben. "Der Geschichtsoptimist Schiller ist so gewissermaßen der Alt-68er unter den deutschen Klassikern, und seine Rezeption im Gegenwartstheater folgt darum derselben Entlarvungslogik wie die Abrechnung mit dieser Generation. Einer ihrer Vertreter, Joschka Fischer, hat einmal gesagt, er habe beim langen Marsch durch die Institutionen seinen Idealismus verloren, aber nicht seine Ideale. Mit Robert Musil, der schrieb, Ideale seien toter Idealismus, 'Verwesungsrückstände', könnte man die Peinlichkeit, die heutige Regisseure empfinden, wenn sie den Namen Schiller hören, zurückführen auf die Verdrossenheit über eine Politik, die ohnehin nur noch ihre eigenen Verwesungsrückstände umschichtet."

Die ägyptische Autorin Nawal el-Saadawi erklärt Sonja Zekri, warum sie nicht mehr für das Amt des Präsidenten kandidiert: die Wahlen sind nicht fair. Und sie erzählt, wie heftig die Reaktionen auf ihre Kandiatur im Herbst waren. "Ich war die Erste, also sind alle über mich hergefallen, Muslimbrüder, Kopten, rechte Kapitalisten. Sie haben geschrieben, ich sei eine Verrückte, ich sei von den Kommunisten gekauft, aber gleichzeitig auch von Amerika, ich sei israelfreundlich, aber auch für den islamistischen Terrorismus. Es war grotesk. Ein Mufti meinte, Frauen könnten nicht Präsident werden, weil sie menstruieren. Den hätte ich beruhigen können: Ich bin 74."

Weitere Artikel: Mit nicht nur einer Prise Wehmut beschreibt Dirk Peitz, wie der Popmusik durch die Digitalisierung sowohl ihre Vergangenheit als auch die Zukunft abhanden gekommen ist. "Alles klingt nach Jetzt." Ralf Berhorst registriert auf einem Treffen der verdi-Funktionäre mit ihren künstlerischen Mitgliedern eine "gewisse Entfremdung" zwischen beiden Sphären. Ijoma Mangold mokiert sich über Chris Cleaves moralinsauren Zynismus in dessen am Tag der Londoner Attentate erschienenen Katastrophenbuch "Incendiary", kombiniert mit Cleaves Betroffenheitsgesten auf seiner Website. Joachim Kaiser nimmt sich eine Zwischenzeit, um Franz Kafkas letzte Erzählung "Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse" wieder zu lesen. Wolfgang Schreiber sendet dem Dirigent Gerd Albrecht Glückwünsche zum Siebzigsten.

Auf der Literaturseite freut sich Josef Riedmann, dass dem Bild des mittelalterlichen Stauferkönigs Friedrich II. nun ein paar neue Farbtupfer hinzugefügt werden können: In Innsbruck wurden unbekannte Briefe entdeckt. Für den Medienteil besucht Stefan Fischer den ZDF-Theaterkanal und dessen Leiter Wolfgang Bergmann.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Werken des kubistischen Künstlers Juan Gris im Museo Reina Sofia in Madrid, Georg Friedrich Händels Oper "Alcina" in der Fassung von Christof Loy bei den Opernfestspielen in München ("Großer einhelliger Jubel für die Sänger, nur wenige Buhs fürs Bühnenteam", berichtet Reinhard J. Brembeck.), ein Auftritt von Anna Netrebko und Raman Vargas auf dem Münchner Königsplatz, Ricarda Junges Roman "Kein fremdes Land", Monika Mertls Porträt des Dirigenten Nikolaus Harnoncourt sowie Julie Orringers Erzählungen "Unter Wasser atmen" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).