Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.07.2005. Bausch dein Kopftuch! Die Zeit stellt den neuen, den coolen Islamismus vor. Die NZZ schildert einen Konflikt im polnischen Bilgoraj: Soll man ein Denkmal für Isaac Bashevis Singer setzen? In der FR fragt Martin Mosebach: Kann man heute denn noch konservativ sein? In der taz antwortet Alexander Gauland mit ja. Die SZ sehnt sich angesichts von Verunglimpfungen wie "Dr. Schwesterwelle" nach politisch korrekt bedruckten Batikbeuteln zurück. In der FAZ beschwert sich Hans Magnus Enzensberger über die nachlassende Qualität amerikanischer Siege.

Zeit, 21.07.2005

Julia Gerlach präsentiert uns ein neues Gesicht des Islams: Es gibt sich cool, wird vom saudischen Satellitensender Iqra (mehr - äh - hier) verbreitet und sieht viel besser aus als Osama bin Laden: Die Stars der Branche sind der ägyptische Moderator Amr Khaled, die Talkmasterin Abir Sabri, die ihr Kopftuch besonders bauschig um den Kopf schlingen kann, und der aserbaidschanisch-britische Schnulzensänger Sami Yusuf ("Allahu Allahu Allahu"): "Sami Yusuf, Sohn aserbaidschanischer Eltern, ist in Großbritannien aufgewachsen. Er hat an der Royal Academy in London klassische Musik studiert. Sein Vater, selbst Komponist und Poet, hat ihn in die orientalische Musik eingeführt. 'Mit sechzehn entdeckte ich meine Religion. Ich habe viel gelesen und gute Lehrer gefunden, Gott sei Dank', erzählt er. 'Ich habe dann beschlossen, mit meiner Musik dem Islam zu dienen.' Sein neues Lied 'Meine Mutter' handelt von seiner Liebe zu seiner Mutter: 'Gesegnet ist dein Lächeln, welches meine Seele fliegen lässt, meine Geliebte!'"

Christian Schüle rätselt über den Erfolg der Neuen Leipziger Schule (mehr hier) und kommt zu dem Schluss, dass die Kunstliebhaber von heute mit den "temperamentlosen" Werken von Christoph Ruckhäberle, Johannes Tiepelmann oder Matthias Weischer die Bilder bekommen, die sie verdienen: "Es ist nicht zu leugnen, dass die Bilder keinerlei intellektuelle Bedrohung darstellen, kaum zu bestreiten, dass die Handwerklichkeit solide, aber nicht überragend ist; ohne Zweifel sind Wolfgang Mattheuers Bilder feiner und Bernhard Heisigs wilder, und fraglos fehlt den Jungmalern jugendkühner Radikalismus und die Wut ihrer Kritiker. Doppelte Böden haben ihre Bilder nicht, allegorische Raffinesse ist nicht zu erkennen. In der Mehrzahl sind sie abgeklärt, temperamentfrei, und die Dichte an Details ist durchaus auszuhalten... Der Erfolg der Bilder von Ruckhäberle oder Tiepelmann liegt begründet in der Diagnose des gesellschaftlichen Erschöpfungszustands."

Jens Jessen beschließt die Reihe zur "Zukunft des Kapitalismus" mit der Frage, warum sich Unternehmer heute permanent als Opfer ökonomischer Sachzwänge gerieren. Ist es Rhetorik oder gar Entfremdung? "Ein guter Marxist wusste stets, dass der Unternehmer kein schlechter Mensch ist, sondern einer, der nicht anders handeln kann, als es das System verlangt. Die traditionellen Verteidiger des Kapitalismus dagegen haben stets diesen Systemcharakter bestritten."

Weitere Artikel: Der Autor Salman Rushdie erinnert daran, dass in Pakistan noch immer eine Auffassung und Rechtsprechung herrschen, nach der vergewaltigte Frauen am besten Selbstmord begehen. Thomas Groß gerät über Frank Blacks Album "Honeycomb" in Begeisterungstaumel: "So hätte Homer geklungen, wäre er ein Countrysänger gewesen." Thomas Meyer sieht keinen Grund zur Aufregung über Emmanuel Fayes Heidegger-Buch, mit dem der französische Philosoph nachgewiesen haben will, dass Heidegger den Nationalsozialismus direkt in die Philosophie gebracht hat. Eva Schweitzer berichtet über den New Yorker Streit um das Freedom Center am Ground Zero. Nikolaus Bernau präsentiert "wunderbare Vorschläge", die den Palast der Republik retten könnten. Claudia Herstatt stellt die französische Auktionszeitschrift La Gazette de l'Hotel Drouot vor. Besprochen werden Daniel Burman Hommage an Buenos Aires' jüdisches Viertel "El Abrazo Partido", die Experimentalmusik-Sammlung "La Tavola Cromatica", Steven Spielbergs Klassiker "Sugarland Express" auf DVD.

Für den Literaturteil hat der britische Kinderbuchautor Philip Ardagh das Wochenende mit dem neuen Harry Potter verbracht.

Im Politikteil erklärt Olivier Roy, warum der terroristische Islamismus keine traditionelle, sondern eine höchst moderne Glaubensrichtung ist. Das Dossier widmet sich dem globalen Geschäft mit der Rose.

NZZ, 21.07.2005

Im polnischen Bilgoraj streitet man sich um Isaac Bashevis Singer, berichtet Martin Sander. In dem Städtchen hatte der 1935 in die USA ausgewanderte spätere Literaturnobelpreisträger seine Jugend verbracht. Nun hat der Bürgermeister von Bilgoraj, Janusz Roslan, vorgeschlagen, eine Straße nach Singer zu benennen. "'Einem Verfasser von Pornographie kann man kein Denkmal setzen', empört sich Marian Jagusiewicz. Der Vorsitzende des Bürgerkomitees in Bilgoraj betätigt sich seit Monaten als Sprachrohr einer Anti-Singer-Koalition", die die Straße lieber nach Stefan Kardinal Wyszynski benennen möchte. "Das Komitee hat gemeinsam mit der Liga für die polnische Familie und der Allpolnischen Jugend ein Flugblatt verteilt, in dem von Perversionen und Obszönitäten in den Büchern Isaac Bashevis Singers die Rede ist, vor allem aber von politischen Gefahren im neuen Europa. 'Wir haben nichts gegen normale, friedliebende Juden, doch sollten wir uns der Gefahr und der Ungerechtigkeit bewusst sein, die von eroberungslüsternen jüdischen und antipolnischen Kreisen in der Europäischen Union ausgehen', heißt es in dem Flugblatt."

Besprochen werden eine Ausstellung französischer Kunst des 17. und 18. Jahrhunderts aus deutschen Sammlungen im Grand Palais, eine Biografie und neue Aufnahmen des Jazzsaxophonisten Wayne Shorter, Mawils Comic über eine glücklose Schülerband und Ernst Blochs "Briefe an Karola" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 21.07.2005

Kann man heute noch konservativ sein? Der Schriftsteller Martin Mosebach hat seine Zweifel: "Alle Voraussetzungen für einen wirklichen Konservatismus sind nicht mehr da. Jeder kennt die Schlagworte, die unsere Welt charakterisieren: offene Märkte, kommerzialisierte Wissenschaft, der Zwang zu unablässigem Wachstum, religiöse Indifferenz, Atomisierung der Gesellschaft, Amnesie - da erscheinen die konservativen Ideale nur noch als ferner schattenhafter Traum: autarke kleine Regionen, zweckfreie Forschung, Stabilität bis hin zur wohltuend empfundenen Stagnation, religiöse Bindung, Zusammensetzung der Gesellschaft aus von ihr unabhängigen Familien und Körperschaften, Gegenwart der Vergangenheit und der Toten."

Dorothea Marcus schreibt über das 59. Theaterfestival in Avignon, wo in diesem Jahr zur Enttäuschung der Franzosen der belgische Performance-Künstler Jan Fabre das Sagen hat: "Auf jeden Fall mutet er dem Theaterfestival von Avignon in diesem Jahr einen 'flämischen Schock' zu. Manche vermuten gar, Fabre wolle sich insgeheim für jene Verachtung rächen, der die als bigott, frustriert und materialistisch verschrienen Flamen von Seiten der Frankophonen stets ausgesetzt waren. Und so kann man mit Arne Sierens in einer Badeanstalt unter Wasser gehen, dem belgischen Kultperformer Jan Decorte bei der rituellen Waschung zusehen oder Marina Abramovic beobachten, wie sie Kunstschülern das Ohrfeigen beibringt."

Weiteres: Peter Michalzik versucht in Times Mager, aus dem Interview schlau zu werden, das die CDU-Kulturpolitikerin Monika Grütter gestern in der Berliner Zeitung gegeben hat. Besprochen werden Doug Limans Film "Mr. and Mrs. Smith", Daniel Burmans ödipale Komödie "El Abrazo Partido", und der Film "Meeresfrüchte" des Regieduos Olivier Ducastel und Jacques Martineau.

TAZ, 21.07.2005

Die Passionsspiele werden in Oberammergau alle zehn Jahre aufgeführt, der "König David", der am Freitag aufgeführt wird, ist dagegen erst einmal - vor hundert Jahren - gespielt worden. Sabine Leucht hat sich in dem Dorf umgesehen, in dem jeder ein Schauspieler ist. "Zum Beispiel im Jahr 2000, da lief man durch Oberammergau mit dem Gefühl, Woodstock habe in einer oberbayerischen Enklave bis heute überdauert: Ungebändigte Bärte und Locken allenthalben, langhaarige Kinder am Bordsteinrand. Allerdings mit Gameboy-Spielen und Alpenpanorama im Hintergrund. Ein ganzes Dorf im Ausnahmezustand, der hier aber Tradition hat! Wenn jedes zehnte Jahr Schlag Aschermittwoch an die Bevölkerung die Aufforderung ergeht, ab sofort Friseure zu meiden, betrifft das rund 2.000 Menschen, die im Folgejahr bei der Wiederbelebung der Geschichte von Jesu Leben und Tod dabei sein wollen. Das ist fast die Hälfte aller Oberammergauer, vom Baby bis zum Greis."

In einem Beitrag auf der Debattenseite erklärt der Paläokon Alexander Gauland, warum der Konservatismus in Deutschland nicht liberal ist: "Es mag ja sein, dass in einem überschuldeten Land die Methoden des Lord Keynes wenig Erfolg versprechen, doch die Medizin des Sparens und Kostensenkens, der Eigenvorsorge und Eigenverantwortung hat bis jetzt nur die Konsumenten und Wahlbürger verunsichert, die Pferde jedoch nicht zum Saufen gebracht. Es ist schon wahr, der kontinentaleuropäische und damit auch der deutsche Konservativismus ist kein bürgerlich-freiheitlicher, sondern ein aristokratisch-etatistischer. Nicht der ins Unbekannte vorstoßende landhungrige Kolonist hat das Land aufgebaut, sondern die französischen Könige und ihre habsburgischen und preußischen Vettern haben es nach den Verwüstungen der Religionskriege wiedererrichtet."

Weitere Artikel: In der Reihe "Kino der Kindheit" beschreibt Dietmar Kammerer sein trauriges Wiedersehen mit dem Kino in Calw. In der tazzwei beobachtet Susanne Lang einen "Verliebt in Berlin"-Drehtag lang Alexandra Neidel als Lisa Plenske (mehr hier).

Besprochen werden eine Ausstellung des tschechischen Künstlers Miroslav Tich in der Berliner Galerie Arndt & Partner, Daniel Burmans Film "El abrazo partido", der Film "Meeresfrüchte" von Olivier Ducastel und Jacques Martineau und Shainee Gabels Debütfilm "Lovesong für Bobby Long".

Schließlich Tom.

FAZ, 21.07.2005

Hans Magnus Enzensberger vergleicht Bagdad 2005 mit Potsdam 1945 und kommt zu dem Schluss, dass die Amerikaner schon mal besser siegten: "Offenbar hat sich niemand ernsthaft Gedanken darüber gemacht, was mit dem Irak geschehen sollte, nachdem das dort herrschende Regime gestürzt war. Der größte und teuerste Geheimdienst-Apparat der Geschichte, der sicher über das tausendfache Budget seiner Vorgänger verfügt, hatte keine Ahnung von den Mentalitäten und von der internen Dynamik der irakischen Gesellschaft. Die einschlägige Expertise, soweit sie in den Vereinigten Staaten überhaupt vorhanden war, wurde von seiten der Regierung systematisch ignoriert."

Weitere Artikel: Niklas Maak zeigt sich belustigt über eine Installation des kalifornischen Künstlers Paul McCarthy im Münchner Haus der Kunst: "Fährt man in diesen Tagen an der von Paul Ludwig Troost entworfenen Repräsentationsarchitektur vorbei, sieht man sie in einen gigantischen Blumenkübel verwandelt; oben, aus dem Dach des NS-Baus, hängen monströse Gummiblüten heraus. " Christiane Hoffmann schildert die Verzweiflung der iranischen Oppositionellen, die nach der Wahl des Ultrakonservativen Mahmoud Ahmadineschad feststellen mussten, dass das Volk nicht so reformatorisch gesinnt ist wie sie selbst. Rainer Stamm, Direktor der Kunstsammlungen Böttcherstraße in Bremen, stellt ein bisher unbekanntes Foto Paul Cezannes vor, das 1906 von der Sammlerin Gertrud Osthaus geschossen wurde - es ist wahrscheinlich das letzte Foto des Malers. Jürgen Kaube macht sich in der Leitglosse Gedanken über den neuen amerikanischen Bundesrichter John G. Roberts. Gemeldet wird, dass das Institut für Judaistik der Universität Frankfurt nun doch nicht nach Marburg ziehen muss. Joseph Hanimann berichtet, dass ein neues Centre Pompidou in Metz entsteht. Hannes Hintermeier meldet, dass Amazon Deutschland nun in Tausenden von Büchern die "Search inside the book"-Funktion freigeschaltet hat. Timo John stellt eine ökumenische Kapelle des Architekten Rolf R. Bürhaus auf der Raststätte Hegau-West vor.

Aur der Kinoseite resümiert Bert Rebhandl eine Retrospektive zum brasilianischen Film in Wien. Hans-Jörg Rother verfolgte ein Kolloquium zum frühen deutschen Film in Berlin. Und Verena Lueken kommentiert die mageren Kinoergnisse in den USA in diesem Sommer.

Auf der Medienseite meldet Michael Hanfeld einen Sieg der Bunten gegen den monegassischen Fürsten Albert II. vor Gericht.

Auf der letzten Seite erinnert Holger R. Stunz an Gastspiele der Bayreuther Festspiele in Francos Spaniern vor fünfzig Jaghren. Andreas Rossmann begutachtet archäologische Fundstellen in Köln, die man per U-Bahn besuchen kann.

Besprochen werden die französische Filmkomödie "Meeresfürchte" und Dieter Schnebels Oper "Majakowskis Tod" am Münchner Gärtnerplatztheater.

SZ, 21.07.2005

Die gegenwärtigen Enthemmungen bei der Wahl politischer Schmähbegriffe machen Alex Rühle zu schaffen. Gerade erst hat der SPD-Spitzenkandidat Ottmar Schreiner Guido Westerwelle als "Dr. Föhn" und "Dr. Schwesterwelle" bezeichnet. Klagen, früher hätten solche Schmähungen mehr Substanz gehabt, hält Rühle für ästhetische Nostalgie. "Das Niveau ist seit Jahrzehnten konstant niedrig ... Unheimlich ist eher der Ton, mit dem zuweilen auf empörte Reaktionen geantwortet wird. Als Hasso Müller-Kittnau, der saarländische Landesvorsitzende des Lesben- und Schwulenverbandes, Ottmar Schreiner wegen seiner Westerwelle-Schmähungen zur Rede stellte, antwortete dieser achselzuckend: 'Dr. Föhn' und 'Dr. Schwesterwelle' sei doch nicht diskriminierend. Es heißt ja oft, political correctness sei zur bloßen Rhetorik und verlogenen semantischen Verrenkungsübung verkommen, die inzwischen so antiquiert wirke wie Batikbeutel. In Gesellschaft Ottmar Schreiners sehnt man sich nach politisch korrekt bedruckten Batikbeuteln zurück."

Weitere Artikel: Sonja Zekri stellt Zahi Hawass vor, den ebenso streitbaren wie geltungsbewussten Generalsekretär der ägyptischen Antikenbehörde (mehr hier) in Kairo. Susan Vahabzadeh informiert über neue Hollywood-Projekte. Kristina Maidt-Zinke feiert den Opernbassisten Kurt Moll nach seinem Liederabend im Rahmen des Münchner Opernfestivals. Aus dem Bürokratiesumpf von Venedig kolportiert Henning Klüver eine kostspielige Posse um eine von Santiago Calatrava entworfenene Fußgängerbrücke über den Canale Grande. Gernot Wolfram berichtet von den Verrenkungen, welche die Städte Görlitz und Zgorzelec unternehmen, um in den Rang einer "Kulturhauptstadt Europas" zu gelangen. Renate Klett schickt einen Bericht vom Festival Castel dei Mondi in Apulien.

Besprochen werden Olivier Ducastels und Jacques Martineaus Film "Meeresfrüchte", Doug Limans Film "Mr. and Mrs. Smith" mit Brad Pitt und Angelina Jolie, die Ausstellung "Chaplin et les Images" im Pariser Jeu de Paume, ein Martha-Argerich-Konzert zu Ehren Friedrich Guldas während der Opernfestspiele in München und Bücher, darunter Svenja Leibers Erzählungsband "Büchsenlicht" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).