Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.07.2005. In der Berliner Zeitung erklärt Michael Walzer, warum er nicht glaubt, dass der islamische Terrorismus eine Reaktion auf den Irak-Krieg sei. In der FR schreibt Micha Brumlik über die unheimliche Allianz von antisemitischen Achtundsechzigern und dem Verfassungsschutz im Jahre 1969. Die FAZ hat deutsche Schulbücher gelesen - der Völkermord an den Armeniern kommt praktisch nirgends vor. Die SZ hat kein Mitleid mit den Franzosen, die gezwungen werden, amerikanisches Joghurt zu essen. In der NZZ lernen wir Englisch mit Samuel Johnson: "Giglet, Fopdoodle, Dandiprat, Jobbernowl".

FR, 22.07.2005

Für Micha Brumlik, Direktor des Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts, reihen sich Wolfgang Kraushaars Enthüllungen zur "Bombe im Jüdischen Gemeindehaus" ein in die lange Geschichte des linken Antisemitismus. Brumlik will deshalb das Attentat auch nicht als wirre Aktion randständiger Polit-Desperados verstehen, sondern "als Anfangssequenz eines Textes, als Ouverture zu einer Oper gleichsam, in der sämtliche späteren Motive - wenn auch unbewusst und noch verhüllt - schon vorliegen, als Grundierung, die die Strahlkraft des Bildes noch lange bestimmen sollte: Vom Termin der geplanten Bombenexplosion, dem 9. November, der ja nur wiederholt hätte, was einunddreißig Jahre zuvor massenhaft geschehen ist, über die offene Verbindung von Gewaltphantasie, geplantem bewaffneten Kampf und Judenhass zur Wahnideee, das eigene Bewusstsein sei von Juden besetzt; von der Herkunft einiger Täter aus dem notorisch antisemitischen Franken bis zu Vorstufen der Planung des Anschlags auf die israelischen Olympioniken; vom Zusammenspiel des westdeutschen Verfassungsschutzes mit einer terroristischen Linken, die wiederum von der DDR unterstützt wurde. Von einem Plan des Verfassungsschutzes also, der noch 1969 den Tod von Juden in Kauf zu nehmen bereit war."

Weiteres: Martina Meister hängt sich an die Menschenmassen, die von Dan Browns Thriller angetrieben zu Mona Lisa in den Pariser Louvre strömen: "Sechs Millionen Menschen haben vergangenes Jahr die Mona Lisa gesehen. 90 Prozent der Louvre-Besucher. Das macht 20.000 am Tag. 2222 in der Stunde, 37 in der Minute. 'Sie kommen in Wellen', sagt die Wächterin." Christian Schlüter kommentiert etwas verschlafen die politischen Ereignisse des gestrigen Tages. In Times mager erzählt Hans-Hürgen Linke, wie er einmal in Lebensgefahr schwebte.

SZ, 22.07.2005

London gewinnt die Olympischen Spiele, Lance Armstrong zum siebten Mal die Tour de France, beim Festival in Avignon zwingt der belgischer Regisseur Jan Fabre die Franzosen, unverdauliche konzeptkünstlerische Inszenierungen zu sehen, und jetzt will auch noch ein amerikanisches Unternehmen, PepsiCola, den Joghurt-Hersteller Danone kaufen. Die Franzosen sind entsetzt. Johannes Willms versteht nicht, warum. "Danone ist ein global operierendes Wirtschaftsunternehmen mit Verwaltungssitz in Frankreich. Von den mehr als 90.000 Beschäftigten arbeiten aber gerade einmal rund 10.000 in Frankreich. 74 Prozent aller Mitarbeiter sind überdies in Ländern tätig, die nicht zu Westeuropa gehören. Ähnlich bunt gestreut ist der Aktienbesitz, dessen Löwenanteil von 71 Prozent auf so genannte institutionelle Anleger, also Banken und vor allem Pensionsfonds, entfällt." Nebenbei erinnert Willms noch daran, dass Danone 1919 in Barcelona von einem aus Griechenland stammenden Olivenölhändler namens Isaac Carasso gegründet worden war.

Das ist noch nicht alles! Moliere wird in der Comedie Francaise mit englischen Untertiteln gespielt, meldet Alex Rühle. Auch andere müssen Abschied nehmen von lieben Gewohnheiten: Oliver Herwig verteidigt die Münchner Bundesgartenschau gegen den Vorwurf, sie sei eine "depressiv verstimmte Grünzone, in der das Geodreieck regiert": Das, so Herwig, ist eben "Stadtnatur". Und Wolfgang Schreiber tröstet das verstörte Baltimore Symphony Orchestra, dem eine Frau, Marin Alsop, als Chefdirigentin vorgesetzt wurde: "Wer Marin Alsop einmal bei einer Mozart-Probe beobachten konnte, vor drei Jahren an der Komischen Oper Berlin, erhielt von der Professionalität, Energie und Einfühlungskraft dieser Musikerin jedenfalls einen glaubhaften Eindruck."

Weitere Artikel: Harald Eggebrecht lauscht gebannt einem Meisterkurs des Cellisten Tsuyoshi Tsutsumi beim Schleswig-Holstein Musik Festival. Jörg Später war auf einer Gedenkfeier für die die Nürnberger Prozesse. Klaus Lüber berichtet, dass Hacker mit einem Zusatzprogramm deaktivierte Sexszenen im Computerspiel San Andreas reaktivieren konnten. Das Spiel, ein "Megaseller", soll jetzt verboten werden. Ira Mazzoni erklärt, warum das im Pergamonmuseum rekonstruierte Ischtar-Tor gefährdet ist, in einem zweiten Artikel erklärt Julia Thurau die Details. Gemeldet wird, dass Pamela Rosenberg, Chefin der Oper San Francisco, die neue Intendantin der Berliner Philharmoniker wird.

Besprochen werden Carl Nielsens Oper "Maskerade", mit der die Bregenzer Festspiele eröffnet wurden, und Bücher, darunter Ian McEwans Roman "Saturday", ein Variantenwörterbuch des Deutschen und Herfried Münklers Band "Imperien" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und in einem Artikel des SZ-Magazins, dem Blatt fürs feinere Ressentiment, lassen Mitarbeiter des SZ-Feuilletons aus einigen "Hohlkörpern, die sich gern aufplustern". Dazu zählen sie: "Markus Lüpertz, Frank Schirrmacher, Christoph Schlingensief, Daniel Brühl, Elfriede Jelinek, Klaus Biesenbach, Bruno Ganz, Hans Magnus Enzensberger, Wim Wenders, Guido Knopp."

Berliner Zeitung, 22.07.2005

Im Interview mit Christian Esch erklärt der amerikanische Philosoph Michael Walzer (mehr hier), warum er nicht glaubt, dass der islamische Terrorismus eine Reaktion auf den Irak-Krieg sei: "Die Terroranschläge auf die Vereinigten Staaten am 11. September gingen Afghanistan und der jetzigen Invasion des Iraks voraus. Ich glaube nicht, dass darin eine Erklärung für Terrorismus legt. Überhaupt glaube ich nicht, dass das amerikanische Auftreten in der Welt irgendetwas erklärt, und der Beleg ist: die Orte auf der Welt, wo wir uns am schlechtesten aufgeführt haben - wie Vietnam - haben keine terroristischen Anschläge auf Zivilisten hervorgebracht. Es gab keine Versuche, die Familien amerikanischer Beamten in Saigon anzugreifen oder amerikanische Schulen dort."

TAZ, 22.07.2005

Dieter Grönling berichtet über den neuen Streit um die Internet-Vormacht der ICANN, der für die Domain-Vergabe zuständigen Internet Corporation for Assigned Names and Numbers. Und er stellt klar: "Die Icann war zu keinem Zeitpunkt so etwas wie eine autonome Internetregierung mit demokratischen Strukturen. Sie war und ist bis heute einfach eine Firma nach kalifornischem Recht."

Reines Rezensionsfeuilleton heute in der taz: Besprochen werden zwei neue Choreografien von Anne Teresa de Keersmaeker, CDs von John Fahey, Steffen Basho-Junghans und Charlie Schmidt und Sven Hanuscheks Canetti-Biografie (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

NZZ, 22.07.2005

Vor zweihundertfünfzig Jahren erschien das "Dictionary of the English Language" (hier der Link zu einem verheißungsvollen Projekt), der Autor Philip Blom geht vor dessen Schöpfer, Samuel Johnsons, auf die Knie: "Der Farbenreichtum ist der eigentliche Reichtum des Werkes für moderne Leser. Erst das zähl- und klassifizierwütige neunzehnte Jahrhundert machte aus Lexika die Kompendien formaler und oft blutleerer Definitionen, die wir heute kennen. Besonders im achtzehnten Jahrhundert aber waren Lexika unendlich lebendig, voller Satire, Poesie und Provokation. Giglet, Fopdoodle, Dandiprat, Jobbernowl: Wie konkrete Poesie blitzt die Umgangssprache aus Londons Straßen auf, bevor der Autor mit all seinen Vorurteilen, aber auch seiner Menschlichkeit selbst in seinen Definitionen auftritt: Puppet: 'ein hölzerner Tragöde', Oats (Hafer): 'ein Korn, das in England normalerweise an Pferde verfüttert wird, aber in Schottland Menschen ernährt', und Lexicographer: 'ein Schreiber von Nachschlagewerken, ein harmloser Trottel, der sich beschäftigt hält, indem er die ursprüngliche Bedeutung von Wörtern und ihre Variationen sucht'."

Weiteres: Marc Zitzmann fand enttäuschend bis entsetzlich, was ihm diesmal beim Theaterfestival in Avignon an "beliebigen Bildern und flachen Visionen" präsentiert wurde. Christine Wolter meldet aus Mailand, dass die Scala - personell und spielplantechnisch - noch immer in Trümmern liegt. Iso Camartin huldigt seinem Lieblingstextil aus der Literatur: dem Mantel des Philosophen Colline aus "La Boheme". Marianne Zelger-Vogt bespricht Carl Nielsens Oper "Maskerade" bei den Bregenzer Festspielen.

Auf der Filmseite schreibt die Filmwissenschaftlerin Yvonne Zimmermann über die verborgenen Qualitäten des Auftragsfilms. Besprochen werden Katsuhiro tomos Animationsfilm "Steamboy" und Serik Aprimow Film "Der Jäger".

Das Fernsehen als "mediale Müllkippe der Spaßgesellschaft" soll ausgedient haben, jetzt ist Good TV angesagt, berichtet Heribert Seifert auf der Medienseite: Fernsehen, das sich kümmert und Probleme wirklich ernst nimmt. Seiferts Begeisterung hält sich in Grenzen: "Mustert man die Programmbeispiele, die als Belege des neuen Trends ins Feld geführt werden, so findet man kaum Grund zu freudiger Aufregung. 'Good TV' in Großbritannien und den USA ist vor allem ein dramatisiertes und aktionsgeladenes Service-Fernsehen, das die Inhalte, die in biederen deutschen TV-Ratgebern abgehandelt werden, in agonale Geschichten packt."

Uwe Paul kann gar nicht fassen, dass Gottesdienstübertragungen, einst öffentlichrechtliches Pflichtprogramm für Alte und Kranke, inzwischen zum Medienevent ersten Ranges geworden sind.

FAZ, 22.07.2005

Das Land Brandenburg hat den Völkermord an den Armeniern wieder in den schulischen Lehrstoff aufgenommen, nachdem es ihn auf Druck der Türkei daraus entfernt hatte. Regina Mönch hat nun herausgefunden, dass es damit nun unter allen deutschen Ländern ziemlich isoliert dasteht: "Nur wenige Schulbücher haben sich bisher dieses Themas angenommen und, wenn überhaupt, wird es - eine Ausnahme ist hier der Schroedel Verlag - mit ein paar kurzen, lapidaren Sätzen abgehandelt, die im Falle des Genozids an den Armeniern zum Teil sogar missverständlich sind. Diese fragwürdige Praxis wurde von deutschen Schulbehörden bislang mit Rücksichtnahmen auf türkische Schüler begründet, denen man historische Wahrheiten meinte ersparen zu müssen - eine, bei Lichte besehen, diskriminierende Entmündigung. Eine andere, nicht minder fadenscheinige Begründung lautete, ein solches Unterrichtsthema könnte Vorbehalte gegen Migranten verstärken, worauf es jedoch keinerlei Hinweise gab." Zum Aufmacher gehört ein Interview mit dem Genozidforscher Mihran Dabag, der für das Land Brandenburg eine Handreichung zum Thema schrieb.

Weitere Artikel: Zhou Derong berichtet, dass "Harry Potter 6" in China alle Verkaufsrekorde bricht: Und "einen anderen Rekord bietet die Raubkopie des neuen Potter dar, bei der man so schnell war, dass sie schon vor dem offiziellen Verkaufstermin herauskam." Gerhard Stadelmaier bekennt in der Leitglosse, nicht zu wissen, wen er wählen soll - am 16. September, wenn die deutschen Theater neun wichtige Premieren bringen. Wiebke Huester meldet, dass Portugals bedeutendstes Ballett, das Ballet Gulbenkian, abgeschafft wird. Der Philologe Joachim Latacz stellt ein bisher unbekanntes Lied der Sappho vor, das in der Kölner Papyrus-Sammlung entdeckt und entziffert wurde: "Ihr nun eilt zu der Musen, der veilchenbusigen, schönen Geschenke, ihr Mädchen,/eifrig hin - und hin zu der liederverliebten hellklingenden Lyra..." Andreas Kilb hat in Potsdam eine Tagung zum sechzigsten Jahrestag der Potsdamer Konferenz verfolgt.

Auf der Medienseite würdigt Thomas Thiel den Reader's Digest, dessen tausendste Ausgabe erschienen ist. Und Felicitas von Lovenberg porträtiert die Nachrichtensprecherin Petra Gerster.

Für die letzte Seite wurde Tilman Spreckelsen von seiner keine Kosten scheuenden Zeitung nach Korea gesandt, wo er den Stand der Vorbereitungen für den koreanischen Buchmessenschwerpunkt auskundschaftete: "Mit einem Budget von zehn Millionen Euro, dem zweithöchsten, seit es derlei auf der Buchmesse gibt, finanziert Korea eine Reihe interessanter Konzerte, Ausstellungen, Theateraufführungen, Diskussionsforen und Lesungen." Allerdings wird es sich wohl eher um einen Südkorea-Schwerpunkt handeln. Außerdem berichtet Katja Gelinsky von wissenschaftlichen Studien, die belegen, dass intensives Beten für die Gesundheit von Herzkranken keinerlei Auswirkungen auf deren Genesung zeitigte, was wissenschaftliche "Gebetsforscher" in den USA aber nicht entmutigt. Und Martin Kämpchen berichtet, dass Arundhati Roy einen Essayband mit ihren globisierungskritischen Äußerungen der letzten Jahre herausgebracht hat.

Besprochen werden Schillers "Maria Stuart" in Phyllida Lloyds Londoner Inszenierung, die überraschender Weise eher mit der Figur der Elisabeth zu sympathisieren scheint, der Film "El Abrazo Partido" des argentinischen Regisseurs Daniel Burman, die Ausstellung "Exil und Moderne" mit Werken der klassischen Avantgarde aus der Sammlung der Washington University in St. Louis, USA im Erfurter Angermuseum und Aribert Reimanns Oper "Melusine" in Weimar - außerdem Sachbücher, darunter das Buch "Blink!" des psychologischen "Business Gurus" Malcolm Gladwell (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).