Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.07.2005. Die NZZ polemisiert am Beispiel von A. L. Kennedy gegen die linke Sucht, schuld zu sein. In der taz erklärt Ian Buruma, warum der europäische Wohlfahrtsstaat die Integration von Migranten erschwert. Die FR widmet sich der Vollwertkostrepublik Deutschland. In der SZ nimmt Andrzej Stasiuk dem polnischen Klempner jeglichen Nimbus. Die FAZ erkennt in den Attentaten auf London eine Radikalisierung des Attentätertums. In der Welt schreibt Michael Maar eine tagesprophetische Rezension über Harry Potter 7, und Niall Ferguson denkt über die Londoner Attentate nach.

NZZ, 23.07.2005

Warum die Attentäter von London handelten wie sie handelten, weiß Andreas Breitenstein auch nicht. Die Erklärungen ausgewiesener Linker wie der Londoner Bürgermeisters Ken Livingstone oder die schottische Schriftstellerin A. L. Kennedy - der eine gibt Israels Palästinenserpolitik die Schuld, die andere der britischen Beteiligung am Irakkrieg - leuchten ihm jedenfalls nicht ein: "Statt der Verbesserung der Welt hat sich die (zumal europäische) Linke längst einen Kulturrelativismus auf die Fahnen geschrieben, der sich der moralischen Bewertung des 'Fremden' enthebt und auf eine isolationistische Verteidigung der eigenen 'bourgeoisen Gemütlichkeit in den westlichen Metropolen' (Michael Ignatieff) hinausläuft. In Umkehrung der Abläufe wird hier der Irak-Krieg immer wieder als Ursache statt als Folge des weltweiten Terrorfeldzugs von al-Kaida angeführt und dieser so als Gegenwehr in einem asymmetrischen Krieg gerechtfertigt. Gewiss ist es paradox, mit den Mitteln der Gewalt Frieden in Gang setzen zu wollen, doch war Dialektik ja einst eine Stärke der Linken."

Weitere Artikel: Paul Jandl meldet die Entdeckung von Briefen der Stauferkaiser in Innsbruck. Felix Philipp Ingold stellt zum Abschluss der russischen Werkausgabe von Kasimir Malewitsch fest, dass dessen Schriften in höchstem Maße kommentarbedürftig sind. Sieglinde Geisel stellt den neuen Merkur vor.

Besprochen werden Verdis "Troubadour" bei den Bregenzer Festspielen und Bücher, darunter Manfred Gregors Antikriegsroman "Die Brücke" und Jonathan Franzens Roman "Schweres Beben" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In Literatur und Kunst schreibt Martin Mayer zum hundertsten Geburtstag von Elias Canetti. Franz Haas stellt Canettis "Aufzeichnungen für Marie-Luise" aus Londoner Kriegstagen vor. Aldo Keel porträtiert den dänischen Schriftsteller Herman Bang (1857-1912), der "in doppelter Weise, als Autor und als Homosexueller", ein Außenseiter war. Abgedruckt ist ein Vortrag von Wolf Lepenies zur 150-Jahr-Feier der ETH Zürich über Gottfried Keller, der einst dem "Ruf an das Polytechnikum in Zürich Gottfried Keller etwas indigniert ausgewichen war" - solche Tätigkeit war ihm zu bürgerlich.

Welt, 23.07.2005

Michael Maar bringt schon mal eine prophetische Vorabrezensein von "Harry Potter 7": "Der letzte Saal des Riesenbaus ist geöffnet worden. Der finale, langersehnte Band ist erschienen, die Septologie ist beendet, der größte Bucherfolg in der Geschichte hat seinen Höhepunkt und Abschluss gefunden."

Außerdem in der Literarischen Welt ein Essay des Canetti-Biografen Sven Hanuschek zum hundertsten Geburtstag desselben und natürlich Krauses "Klartext". Und Marko Martin empfiehlt sehr Claus Christian Malzahns Reportagenband "Die Signatur des Krieges": "Malzahns altbundesdeutsche Sozialisation hat ihn nicht zu einem naiven, über die böse Welt entsetzten Softie werden lassen, auch nicht zu einem relativistischen Zyniker: Sein Blick geht noch immer über die Mauer, die sich der Mainstream-Blick selbst gebastelt hat." (Hier eine Leseprobe.)

Im Forum denkt der Historiker Niall Ferguson über die Londoner Terroristen nach, die scheinbar so gut in die westliche Gesellschaft integriert waren, und er fordert ein stärkeres Engagement der muslimischen Minderheiten gegen den Terrorismus: "Es ist sicherlich kein Zufall, dass mindestens zwei der Londoner Terroristen Reisen nach Pakistan unternommen haben. Die offizielle Lesart lautet, dass die Gewaltakte das Werk einer kriminellen Minderheit sind und dass man den Islam oder die moslemische Gemeinde nicht dafür verantwortlich machen kann. Ganz recht. Das Problem ist nur, dass diese kriminelle Minderheit fest glaubt, auf der Grundlage des Islam zu handeln. Ferner scheint sie ihre Pläne unter den Augen der moslemischen Gemeinde auszuhecken."

SZ, 23.07.2005

Der Schriftsteller Andrzej Stasiuk kann nur staunen: Ganz Europa zittert plötzlich vor dem "polnischen Klempner". Dabei war in kommunistischen Zeiten war in Polen auf keinen weniger Verlass als ihn. "Heute, gut fünfzehn Jahre später, raubt diese Allegorie der Pfuscherei, das Symbol der Unredlichkeit und Arroganz, die Verkörperung der Gewissenlosigkeit und Unprofessionalität unserem Kontinent den Schlaf. Holland zittert vor ihm, Österreich fürchtet ihn. La douce France erstarrt bei dem Gedanken, dass er mit seinen Zangen, Rohren und Schraubenziehern anrückt, als wären die englischen Bogenschützen von Crecy im Anmarsch."

Weitere Artikel: "Not amused" ist Gustav Seibt in seiner politisch-feuilletonistischen Nachbetrachtung der Bundespräsidenten-Rede: Köhler begab sich, findet er, in ungute Nähe zu Carl Schmitt. Petra Steinberger warnt am Beispiel London vor einer "Architektur der Angst". Tim B. Müller war auf einer Tagung des Einstein-Forums, die Antworten auf die Frage suchte, wie man böse Regimes bekämpft. Von der Renovierung des künstlichen Vulkans in Wörlitz berichtet Dieter Wulf. Groß, klein, recht schreiben: Das jüngste Gerücht von Johan Schloemann. Vorabgedruckt wird ein Essay von Milan Kundera (mehr) über Kafka und die Moderne. Einen kurzen Nachruf gibt es auf den Historiker Stephane Yerasimos. Noch kürzer gemeldet wird, dass Werner Herzog einen Film über einen Kampfpiloten dreht, mit "Batman"-Darsteller Christian Bale in der Hauptrolle.

Besprochen werden die Ausstellung "Les Grands Spectacles" in Salzburg, eine Ausstellung über den Beginn der Renaissance in Urbino, die Bregenzer "Trovatore"-Inszenierung mit Ölraffineriehintergrund ("ein Spektakel, aber ein gutes"), Dieter Fahrers Film "Que sera?" und die Dokumentation "Deutschland gegen Deutsch".

Im Aufmacher der SZ am Wochenende veröffentlicht Stefan Klein, der nach 24 Auslandsjahren als Korrespondent nach Deutschland zurückkehrt, Tagebuch-Ausschnitte. Im "Sprachatlas Deutsch" denkt die Autorin Marlene Streeruwitz über Sätze nach, die Urteile sind. Aus dem Orchestergraben, der eine "Schlangengrube" ist, berichtet Stephan Handel. Martin Zips macht einen Besuch bei einem alten Auto: dem britischen Kinderbuch- und Filmstar Chitty Chitty Bang Bang. Von einer womöglich echten Caspar-David-Friedrich-Gouache und dem Mann, der fest an sie glaubt, erzählt Holger Liebs. In der "Es war einmal"-Reihe erinnert Willi Winkler an die Schlacht von Salamis. Im Interview spricht Abba-Star Bjoern Ulvaeus über Schicksal - und über Abba: "Stellen Sie sich vor, Sie sind mit der Frau, die Sie über alles lieben, und mit Ihrem besten Freund und der Frau, die er über alles liebt, in einer Band. Und Sie dürfen den ganzen Tag Musik machen. Das ist eine feine Sache."

TAZ, 23.07.2005

Im Interview auf der "Themen des Tages"-Seite erklärt der Publizist Ian Buruma, warum in den USA die Integration von Migranten leichter gelingt als in Europa: "In Amerika dagegen wird alles gemacht, um die Leute vom ersten Moment an zu gleichberechtigten Staatsbürgern zu machen. Weiter kommt dazu, dass es in den USA kein so entwickeltes Sozialsystem gibt. Jeder ist gezwungen, am Wirtschaftsleben teilzunehmen. Wer das nicht tut, geht unter. In Europa dagegen kann man vom Wohlfahrtsstaat abhängig werden, ohne sich in das Wirtschaftssystem einzuleben."

Im Kulturteil wird die große Goya-Ausstellung in der Berliner Alten Nationalgalerie groß besprochen. Dazu kleinere Besprechungen zur neuesten, nun schon XII. Ausgabe von "Rohkunstbau" (Website) im brandenburgischen Groß Leuthen und zu Wes Cravens Film "Verflucht".

In der zweiten taz setzt der Amerika-Korrespondent Michael Streck seine Abschlussbilanz fort und hat Beruhigendes über die Bürger der USA zu sagen: "Dennoch existiert eine dramatische Kluft zwischen einer Politikerkaste, die zunehmend extreme Positionen vertritt, und einer Bevölkerung, die sich davon nicht beeindrucken lässt. Umfragen und Studien belegen, dass Amerikaner insgesamt moderate Ansichten pflegen zu Themen wie Waffenkontrolle, Abtreibung, Homosexualität und zu außenpolitischen Fragen wie der Mitarbeit der USA in internationalen Organisationen." Außerdem weiß Barbara Oertel zu berichten, dass die lettische Schwulen-und Lesben-Parade "Rigas Parade" jetzt doch stattfinden darf. Außerdem stellt sie Maris Sants vor, einen schwulen Gemeindevorsteher in Riga.

Im taz-mag-Dossier berichtet Anne Hufschmid aus Mexiko von den Kindern in den Siebziger Jahren ermordeter Oppositioneller: "Lange Jahre waren es vor allem die Mütter der desaparecidos, die gegen das staatliche Schweigen mobil machten; ihre Galionsfigur ist die Gründerin der Gruppe Eureka, Rosario Ibarra, deren Sohn im April 1975 als mutmaßlicher Guerillero entführt wurde und von dem sie seither nie wieder etwas gehört hat. Nun machen sich die erwachsen gewordenen 'Waisen der Repression' auf die Suche. 300 solcher 'Waisen' soll es geben, für die Zusammenkunft im April konnten aus einer Liste von 100 Namen 35 kontaktiert werden. 25 sind gekommen."

Weitere Artikel: Niels Kadritzke und Susanne Knaul erzählen, wie in Jerusalem ein Skandal um einen Pachtvertrag zum Rücktritt des Oberhaupts der orthodoxen Christen führte. Als "Nadelöhr des Alkoholtourismus" bezeichnet der auf Fehmarn lebende Autor und Dramaturg Peter Schanz seine Heimatinsel im Porträt.

Besprochen werden Bücher, darunter Christa Wolfs neue Erzählsammlung "Mit anderem Blick" (mehr in der Bücherschau des Tages).

Und Tom.

FR, 23.07.2005

Ursula März sieht Deutschland als Vollwertkostrepublik: "Wir leben ja nicht nur im Land mit der selbstquälerischen Hochschätzung wertvoller Kost. Sondern der idealistischen Hochschätzung von Werten ganz allgemein. Mit Grundwertekommission. Werteunterricht an den Schulen. Und vor allem mit allseits beliebten, monatlich erneuerten Wertedebatten. Diese Debatten leben davon, dass sie ständig, wirklich ständig irgendwelche Werte gefährdet sehen."

Weitere Artikel: Vorabgedruckt wird ein bisher unveröffentlichter Brief von Elias Canetti an seinen Bruder aus dem Jahr 1935. Der Pantomime Marcel Marceau erzählt im Interview von einem Alptraum: "Jetzt im Alter träume ich oft, dass ich auftrete und es ist kein Publikum im Saal. Ich bin dann völlig außer mir und frage mich: Warum kommen sie nicht mehr? Bin ich zu alt? Ist das Ende meiner Karriere gekommen?" In Times Mager gibt Peter Michalzik den nicht so guten Eindruck wieder, den er von des Präsidenten Ansprache (und seinem Anzug) hatte.

Besprochen werden die Eröffnungspremieren der Bregenzer Festspiele, Verdis "Troubadour" und Carl Nielsens "Maskerade", ein Wiesbadener Konzert der Kremerata Baltica, das italienische Programm der Virtuosi della Scala, ein Auftritt der hr Bigband im Frankfurter Palmengarten, ein Band mit Gedichten von Erika Burkart und einer mit neuen Erzählungen von Navid Kermani. (Mehr in unserer Bücherschau des Tages.)

Im Magazin - Link zum ePaper - gibt es unter anderem ein Interview mit der mongolischen Filmemacherin Byambasuren Davaa ("Die Geschichte vom weinenden Kamel").

FAZ, 23.07.2005

Für Joseph Croitoru weisen die Attentate in London auf eine Radikalisierung des Attentätertums hin: denn ein Attentäter war Vater eines kleinen Mädchens, zwei andere haben schwangere Frauen hinterlassen, auch haben sich alle von den Überwachungskameras filmen lassen. Dies ist kein Hinweis darauf, dass die Attentäter gar nicht sterben wollten, wie die Londoner Polizei behauptet, es dient vielmehr der "Steigerung des Schockeffekts", meint Croitoru.

Frank Schirrmacher lobt den Bundespräsidenten Horst Köhler, der in seiner Rede zur Auflösung des Bundestags das zentrale, von Frank Schirrmacher bereits in dem Buch "Das Methusalem-Komplott" (bestellen Sie hier) dargelegte zentrale Thema dieser Gesellschaft erkannt hat: "Die Tatsache, dass wir als einzelne immer älter werden und dass unsere Gesellschaft als Ganzes immer schneller altert, hat Horst Köhler an die gleiche Stelle gesetzt wie die Globalisierung oder die epochale Staatsverschuldung." (Als einschneidend empfinden wir vor allem die Erkenntnis, dass wir auch als einzelne immer älter werden.)

Weitere Artikel: Eleonore Büning kennt nur einen Grund, auch in diesem Jahr wieder nach Bayreuth zu fahren: "die direkt gerichtete, trennscharf klare, unübertroffene und offenbar unkopierbare Akustik des Festspielhauses mit seinem verdeckten Graben". Hannes Hintermeier berichtet, dass die Tour de France globalisiert wird: Spätestens in zwanzig Jahren sollen fünf ProTour-Serien auf fünf Kontinenten stattfinden. Timo John beschreibt das neue "Van Technology Center" (VTC) von Daimler-Chrysler in Stuttgart-Untertürkheim. Jürg Altwegg blättert in französischen Zeitschriften, die sich dem "unmöglichen Frankreich" widmen. Christian Meier porträtiert den syrischen Philosophen Sadik Al-Azm, der sich seit Jahrzehnten mit der "Spannung zwischen religiös überformter Tradition und gesellschaftlichem Fortschritt" in den arabischen Ländern befasst..

Auf der Medienseite erzählt Karen Krüger, was alles rausgeschnitten werden musste, damit der Tatort am Sonntag, "Bienzle und der Sizilianer", frei von Schleichwerbung ist. Auf den Seiten der ehemaligen Tiefdruckbeilage schreibt Michael Maar zum hundertsten Geburtstag von Elias Canetti. Und Patrick Bahners würdigt die amerikanische Verfassungsrichterin Sandra Day O'Connor, die jetzt in Pension gegangen ist.

Besprochen werden die Ausstellung "Big Bang - Destruction et Creation dans l'Art du 20e Siecle" im Centre Pompidou ("haarsträubend", findet Niklas Maak), Flüchtlingsgeschichten von Ariane Mnouchkine im New Yorker Lincoln Center, eine Wanderausstellung der wohl größten Dreyfus-Privatsammlung der Amerikanerin Lorraine Beitler (zur Zeit im Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien in Potsdam), die Aufführung von Carl Nielsens "Maskerade" und Verdis "Troubadour" in Bregenz und Bücher, darunter politische Bücher, Abbas Maroufis Geschichte einer Liebe "Im Jahr des Aufruhrs" und Evelyn Grills Roman "Vanitas oder Hofstätters Begierden" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Schallplatten- und Phono-Seite geht's um Aufnahmen des Gesangsensembles Singer Pur, Sufjan Stevens' Illinois-Album "Come On Feel the Illinoise", Alben von Jazzvokalisten wie Sonja Kandels, Philip Weiss oder Torsten Goods, eine CD mit Liedern von Ernst Krenek, gesungen von der amerikanischen Sopranistin Ilana Davidson, und Frank Blacks "Honeycomb".

In der Frankfurter Anthologie stellt Barbara Hahn ein Gedicht von Else Lasker-Schüler vor:

"Heimweh

Ich kann die Sprache
Dieses kühlen Landes nicht,
Und seinen Schritt nicht gehn.
Auch die Wolken, die vorbeiziehn,
Weiß ich nicht zu deuten.
Die Nacht ist eine Stiefkönigin.
..."