Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.07.2005. Eines erfahren wir schon über Christoph Marthalers "Tristan"-Inszenierung, die heute die Bayreuther Festspiele eröffnet: An der Wand wird's 'ne Menge Lichtschalter geben, verrät die Bühnenbildnerin Anna Viebrock in der SZ. In der FAZ verrät Angela Merkel, was sie am "Tristan" so umtreibt: das Durchscheinen des bitteren Endes. In der taz wird die Diskussion über die Frage des Antisemitismus der 68er fortgesetzt. In der FR erklärt der Philosoph Lutz Wingert die wahren Gründe für das französische und niederländische "Nein".

SZ, 25.07.2005

Während von Christoph Marthalers "Tristan"-Inszenierung für Bayreuth gar nichts nach außen dringt, verrät seine Bühnenbildnerin Anna Viebrock Wolfgang Schreiber wenigstens schon mal, welche Rolle die abgebrannten Lampen aus der Elektrowerkstatt spielen. "Die Idee ist, grob gesagt, dass diese Lampen am Anfang die Sterne sind, und bei Marke sind sie in eine Raumdecke eingebaut, so wie in Erichs Lampenladen oder einer Schalterhalle, also richtig scheußlich. Die Decke ist aus der Wesendonck-Villa kopiert. Man soll sehen, dass Isolde zu Marke geführt und in ein Land verheiratet wurde, wo sie sich nicht wohlfühlt. Und dass es da zu viel Licht gibt, so wie es an den Wänden auch ganz viele Lichtschalter gibt. Die Tristan-Geschichte wird ein wenig auf elektrische Art und Weise erzählt: Zuerst sind die Lampen der Himmel, dann sind sie eingebaut, domestiziert und zu hell. Während Marke singt, gehen auch Lampen kaputt - da freuen sich Tristan und Isolde, dass dieses System kaputt geht. Im dritten Aufzug sind die Lampen alle abgebrannt, und wenn die beiden ganz viel Energie verströmen im Gesang, fangen manche von den Lampen an, noch ein bisschen zu leben."

Den Festspielen in Bayreuth und auch Salzburg sind zwei eigene Seiten gewidmet: Wolfgang Schreiber porträtiert den japanischen Dirigenten Eiji Oue, der für die Musik in Marthalers "Tristan" sorgen wird. Reinhard J. Brembeck weist auf das gemeinschaftsstiftende Erlebnis eines Konzertbesuchs hin. Reinhard J. Brembeck erfährt von Nikolaus Lehnhoff, warum die Salzburger Neuinszenierung von Franz Schrekers Oper "Die Gezeichneten" sehr aktuell daher kommt. "Diese Orientierungslosigkeit des modernen Menschen, die Schreker interessierte, an der sind wir wieder nahe dran." Christopher Schmidt stellt den Schauspielchef Martin Kusej vor. Eine Meldung besagt, dass alle Nicht-Karteninhaber das aufgrund des Andrangs wohl auch bleiben werden.

Weitere Artikel: "Mit jedem Terrorattentat stirbt ein Stück offene Gesellschaft," warnt der vielveröffentlichende Soziologe Ulrich Beck im Aufmacher. Denn "ohne Freiheit verliert Sicherheit ihren Sinn". Tobias Timm schickt einen Bericht von der Berliner Fashionweek. Karl Bruckmeyer verabschiedet den Blues-Musikers Long John Baldry, der im Alter von 64 Jahren gestorben ist. Andran Kreye schreibt von ernsthaften diplomatischen Verstimmungen zwischen den USA und Mexiko, die von einer mexikanischen Briefmarke, die das mexikanische Comicmännchen Memin Pinguin zeigt, ausgelöst worden sind.

Weiter teilt die SZ mit, dass fast sämtliche Veranstaltungen der Salzburger Festspiele schon ausverkauft sind und dass Nina Hoss im 'Jedermann' die diesjährige Buhlschaft gibt. Reinhard J. Brembeck hat Nikolaus Lehnhoff interviewt, der Franz Schrekers selten aufgeführte Oper "Die Gezeichneten" für die Salzburger Festspiele neu inszeniert hat. Christopher Schmidt lässt allerlei Salzburger Stimmungen um ein Porträt seines diesjährigen Schauspielchefs Martin Kusej ranken. Reinhard J. Brembeck schließlich beobachtet Christian Stückles Oberammergauer Versuche, ein theateruntaugliches König-David-Stück von 1906 neu zu inszenieren.

Auf der Literaturseite schreibt Burkhard Müller über den jetzt hundertjährigen Schriftsteller Elias Canetti: "Man muss ihn nicht lieben, um seine Größe zu empfinden." Und Volker Breidecker berichtet von fünf Archivkästen im Marburger Literaturarchiv mit Gutachten zu wissenschaftlichen Projekten, die Siegfried Kracauer zwischen 1951 und 1966 als "Advisor" der amerikanischen Bollingen Foundation anfertigte. Darunter finden sich auch mehrere Gutachten zu dem Projekt "Masse und Macht" des langjährigen Bollingen-Stipendiaten Elias Canetti.

Besprochen werden Shainee Gabels Debütfilm "A Love Song For Bobby Long" mit John Travolta sowie das Patricia-Highsmith-Hörbuch "Der talentierte Mr. Ripley" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 25.07.2005

Der Philosophieprofessor Lutz Wingert erklärt der wirklichkeitsfernen EU-Elite ein letztes Mal, warum die Niederländer und Franzosen die gemeinsame Verfassung abgelehnt haben: Weil sie wie eine bloße Wettbewerbsordnung des Inneren wirkt. "Die Privatisierung von Dienstleistungen und die Eliminierung von öffentlichen Gütern, die forcierte Eigenverantwortlichkeit ohne begleitenden Zuwachs an Handlungsressourcen wie Bildung oder Kapital und die Umstellung von Beziehungen wie denen zwischen Ärzten und Kranken, Lehrern und Schülern, Forschern und Universitäten auf Kundenverhältnisse sind Bestandteile dieser Politik. Die EU-Verfassung bildet in den Augen ihrer Gegner den abschirmenden Rahmen für eine solche Gesellschaftspolitik als globale Wettbewerbspolitik. Sie spricht von der 'offenen Marktwirtschaft' und entzieht ausdrücklich nichts, auch keine kollektiven Güter, dem Wettbewerbsgebot."

Weitere Artikel: Sebastian Moll erzählt die schöne, traurige Geschichte von Hilly Kristal und dem Verschwinden seines legendären Punk-Clubs "CBGB" aus Manhatten. Helmut Höge porträtiert den Heidelberger Schriftsteller Jörg Burkhard und Harry Nutt fragt sich in der Kolumne Times Mager, ob die in Berlin vermehrt auftretenden Füchse als Metapher für das politische Berlin der nächsten Wochen taugen: "Sie wollen nicht spielen, aber sie beißen auch nicht."

Besprochen werden Roy Ayers' Album "Virgin Ubiquity II. Unreleased recordings 1976 - 1981", Hermann Kants neuer Roman "Kino" sowie Maria Frises Erinnerungen "Meine schlesische Familie und ich" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 25.07.2005

Rudolf Walther beschwert sich über Vereinfachungen und Schwarzweißmalerei in der Debatte über Wolfgang Kraushaars Buch zum missglückten Bombenanschlag im Jüdischen Gemeindehaus: "Kraushaar beschönigt nichts und rechtfertigt niemanden, sondern fordert die Linken zur Selbstreflexion auf. Man glaubte damals ernsthaft, mit der Unterscheidung von legitimem Antizionismus/Antiimperialismus auf der einen und indiskutablem Antisemitismus auf der andere Seite eine brauch- und vertretbare politische Position gefunden zu haben. Aber die realen Verhältnisse gingen in diesem abstrakten ideologischen Schema nicht auf. Die vermeintliche Klarheit der Unterscheidung täuschte. Denn mit der bloßen Subsumierung von Antizionismus unter den Allerweltsbegriff Antiimperialismus ging die historische Dimension verloren, der Israel seine Entstehung und sein unbedingtes Existenzrecht verdankt."

Weitere Artikel: Heute ist Gabriele-Goettle-Tag, sie zeichnet ein Porträt der Umweltschützerin Gisela Köthke. Katja Lüthge stellt die französische Comic-Gruppe L'Association vor.

Auf der Meinungsseite erklärt der Journalist Abdel Mottaleb El Husseini, warum seiner Ansicht nach weder westliche Politiker noch die Muslime in Europa gerüstet sind für den Kampf gegen den islamischen Terrorismus. Und in tazzwei sieht Natalie Tenberg den Mythos Scotland Yard in Gefahr. "Die Bewohner Londons erkennen, dass die Fahndungserfolge keine Erfolge von Über-Ermittlern sind, sondern nur dadurch entstehen, dass alle kontinuierlich überwacht werden. Besonders raffiniert ist das nicht."

Schließlich Tom.

NZZ, 25.07.2005

Einen Blick zurück in die eigene Vergangenheit wirft der aus Marokko stammende und in Amsterdam lebende Schriftsteller Abdelkader Benali. Er fragt sich, ob er nicht schon früher hinter die Fassade der Alltäglichkeit hätte blicken können, um den Zwiespalt junger Muslime zwischen Integration und Radikalisierung zu erkennen und kommt schließlich zu der Erkenntnis: "Letztlich steht und fällt die offene westliche Gesellschaft mit der Tatsache, dass sie den Migranten zwar eine Gebrauchsanleitung an die Hand gibt, dass sie diese aber, wenn es darauf ankommt, nicht um jeden Preis durchsetzen wird. Das gibt den Migranten einerseits Raum, in der dominanten Gesellschaft aufzugehen, andererseits verschafft es ihnen auch die Möglichkeit, auf Distanz zu ihrer Umwelt zu gehen. Je nach Lage werden die Spielräume dieses Modells erweitert oder verengt. Nur so kann die offene Gesellschaft anders bleiben als andere Gesellschaften."

Weitere Artikel: Andrea Köhler bewundert Duccio di Buoninsegnas um 1300 gemalte "Madonna mit Kind", die mit zwischen 45 und 50 Millionen Dollar teuerste Neuerwerbung des New Yorker Metropolitan Museums. Gabriele Detterer fragt sich angesichts spektakulärer Bauskulpturen, "wieviel Individuelles kann und soll ein Architekt in seine Arbeit einfließen lassen?" Barbara Spengler-Axiopoulos liefert eine lange und lesenswerte Reportage aus Albanien, wo sie erste Anzeichen von Aufbruch und Hoffnung erkennt. Alfred Zimmerlin besuchte das zwölfte und stetig wachsenden Sommerfestival Verbier Festival & Academy 2005 im Walliser Kurort Verbier. Und Joachim Güntner freut sich, dass der Urteilsspruch zum juristischen Streit um die Dresdner Inszenierung von Gerhart Hauptmanns "Webern" die Urheberrechte an Theatern neu regelt.

FAZ, 25.07.2005

Eleonore Büning, Regina Mönch und Heinrich Wefing haben ein ausführliches Gespräch mit Angela Merkel geführt, in dem sie sich eher als Opernliebhaberin denn als Politikerin darstellt: Sie spricht über Bayreuth und Salzburg, ihre Zweifel an Schlingensiefs Bayreuther "Parsifal"-Inszenierung, über die Publikumsferne der Neuen Musik. Konkreter wird sie bei der Frage der Berliner Opern: "Wenn damals, als der Einigungsvertrag anstand, jemand auf die Idee gekommen wäre, man müsse die Staatsoper Unter den Linden und das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt in den Preußischen Kulturbesitz übernehmen, dann hätte gewiss niemand dramatische ordnungspolitische Bedenken angemeldet." Dennoch möchte sie das jetzige Modell der Opernstiftung nicht in Frage stellen: "Auf keinen Fall will ich jetzt einen Beitrag dazu leisten, wieder alles durcheinanderzubringen." Fast ein wenig unheimlich ist Merkels Begündung ihrer Liebe zu Wagners "Tristan": "Was mich bei Wagner immer umtreibt, ist, dass das bittere Ende schon von Anfang an durchscheint, vom ersten Ton an."

Der Historiker Wolfgang Seibel polemisiert scharf gegen Götz Alys Bestseller "Hitlers Volksstaat", obwohl ihm die Kernthese offensichtlich einleuchtet: "Wohl zu Recht führt Aly den Erfolg seines Buches darauf zurück, dass es den Abgrund zwischen dem Monströsen der Verbrechen und dem Banalen des Alltags überbrückt." Völlig falsch aber habe Aly den Charakter der französischen Kollaboration eingeschätzt, und Seibel kommt zu dem Ergebnis: "Weil Aly in der fixen Idee befangen ist, alles habe ausschließlich und unmittelbar wirtschaftlichen Interessen dienen müssen, unterschätzt er die Dynamik der Machtentfaltung und Institutionalisierung der Judenverfolgung. Damit relativiert er auch die politische und moralische Verantwortung der Verfolger."

Weiter Artikel: In der Leitglosse mokiert sich Felicitas von Lovenberg über Referenten, die Anführungsstriche gestikulierend in die Luft zeichnen. Mark Siemons beschreibt eindringlich ein gespenstisches Auftreten der tatsächlichen Jackson-Familie in einem Neuköllner Hotel und kolportiert gar Gerüchte, die Familie wolle sich endlich in dieser Stadt mit ihren prominenten Exboxern und Friseuren niederlassen. In der Reihe "Wir vom politischen Archiv" präsentiert Gehrard Keiper einen Brief Bismarcks, der über das deutsche Urverbrechen, der Annexion Elsass-Lothringens, nachdenkt. Gerhard Rohde gibt einen Überblick über Gerard Mortiers Pariser Opernpläne.

Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld über eine Sitzung des Rundfunkrats des Hessischen Rundfunks, der mit einer der zahlreichen Korruptionsaffären im öffentlich-rechtlichen System konfrontiert ist. Stefan Niggemeier meldet, dass die schicke Zeitschrift Qvest neu erscheint. Hanfeld zitiert auch neue Interviewäußerungen zum Thema der Schleichwerbung in ARD und ZDF.

Auf der letzten Seite stellt Antonie Huber eine Reise mit dem Thomas-Bernhard-Freund und -Reisegefährten Karl Ignaz Hennetmair unter tätiger Mithilfe desselben nach. Dietmar Dath porträtiert den Horrorfilmer Wes Craven, dessen letzte Hervorbringung "Cursed" er allerdings für misslungen hält. Und Lorenz Jäger macht sich Sorgen über das, was er die "Landnahme Europas durch nordafrikanische und vorderasiatische Völker, die man in Deutschland zumeist 'Migration' nennt", nennt und zitiert als Beleg eine französische Studie, wonach 70 Prozent der französischen Gefängnisinsassen muslimischer Herkunft sind.

Besprochen werden der "David" in Oberammergau und eine Ausstellung der Gemäldesammlung des Königs Philipp IV. im Prado.