Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.08.2005. In der NZZ will der Autor David Lodge den Irak-Krieg nicht als Grund für die Londoner Attentate ansehen. Die FAZ kritisiert die Museen für zeitgenössische Kunst, die sich zu Geiseln der Sammler machen. In der Welt fürchtet Ralf Dahrendorf, dass die Sozialmodelle in Deutschland und Frankreich mehr Traum als Wirklichkeit seien. Die taz entdeckt eine ganz neue Zwillingsschwester der Freiheit: die Gleichheit. Die SZ bringt eine ganze Seite über Hiroshima. Im Guardian fordert Hanif Kureishi einen Multikulturalismus des Konflikts.

NZZ, 05.08.2005

Es ist ein Irrtum, schreibt der englische Schriftsteller David Lodge, anzunehmen, dass die Londoner Attentate ausschließlich oder auch nur mehrheitlich der Beteiligung Großbritanniens am Irakkrieg zuzuschreiben sei. "Es ist wichtig, dies hervorzuheben - denn gewisse Apologeten in der muslimischen Gemeinschaft wie auch einer der Attentäter selbst versuchen nun, den Krieg im Irak als alleiniges Tatmotiv vorzuschieben und sich damit die Sympathien der liberalen britischen Linken zu sichern. Der Feldzug gegen den Irak aber, wie irregeleitet er letztlich auch sein mochte, hätte ohne den 11. September nie stattgefunden; und dieser suizidale und wahllos mörderische Angriff auf die vermeintlichen Symbole der demokratischen und kapitalistischen westlichen Gesellschaft gründete nicht in politischen, sondern in rein ideologischen Motiven."

Weitere Artikel: Alfred Zimmerlin war beim 20. Davos-Festival "young artists in concert". Sgl. wirft einen Blick ins neue Kursbuch, das von "neuen Ritualen" handelt.

Besprochen werden eine Ausstellung zur zukünftigen Stadtentwicklung von Paris im Pavillon de l'Arsenal, die Wanderausstellung zum Fall Dreyfus, die zur Zeit im Moses- Mendelssohn-Zentrum in Potsdam gezeigt wird, und eine Ausstellung zur spätklassizistischen Parkanlage von Arenenberg im Schloss Arenenberg.

Auf der Filmseite zeichnet Ralph Eue anlässlich der Orson Welles gewidmeten Retrospektive beim Filmfestival in Locarno ein Porträt des Filmregisseurs. Besprochen werden Michael Bays Klon-Thriller "The Island", der Film "L.A. Crash" von Paul Haggis und Bert Rebhandls Orson-Welles-Biografie.

"Smart home" - hinter diesem Begriff verbinden sich neue Wunder der Technik. Eine Waschmaschine, die automatisch dem Installateur mitteilt, was ihr fehlt, oder eine Haustür, die sich per Gesichtserkennung öffnet, oder die Heizung, die vom Auto aus gestartet wird, oder Sensoren, die Einbrecher und Wassereinbruch melden. Auf der Medien- und Informatikseite beschreibt Manfred Weise, wie weit die Entwicklungen sind, was sie kosten, und wem sie nützen.

Außerdem: Georg David erklärt, wie das Internet den Berufsstand der Sportjournalisten bedroht: Wozu einen Artikel lesen, wenn man das komplette Spiel 90 Minuten nach Abpfiff online sehen kann?

FAZ, 05.08.2005

Der Doyen der deutschen Kunstkritik, Eduard Beaucamp, rüttelt in seiner Kolumne "Kunststücke" kräftig an den bestehenden Institutionen und liefert einige Ideen zu weiterführenden Recherchen. Die Museen seien allzuoft zu bloßen Geiseln der Selbstdarstellung und der kommerziellen Interessen von Sammlern geworden, schreibt er. Er nennt viele Beispiele und als schlimmstes Berlin: "Dass die Staatlichen Museen zu Berlin im Weltstadtstil auf Pump leben, dass sie sich auf zeitgenössischem Sektor von einer in Liechtenstein verwalteten Stiftung dominieren lassen und deren Agenten, der sich mit Fleiß auch händlerisch betätigt, Eingriffe in Museumskompetenzen ermöglicht, gehört zu den dubiosesten Phänomenen, passt aber glänzend ins marode Erscheinungsbild der Republik." Einen Trost hat Beaucamp: "Es beruhigt, dass in den Berliner Museen, die so raffgierig Sammlungen an sich ziehen, der Bundesrechnungshof seit Monaten recherchiert."

Weitere Artikel: Regina Mönch fragt im Aufmacher, inwieweit die Mentalität der ehemaligen DDR Fälle wie die der Kindsmörderin aus Frankfurt an der Oder erklärt. Kerstin Holm schreibt über einen höchst bedenklichen Anstieg der Aidsfälle im demografisch ohnehin schon ausgezehrten Russland. G.P. wirft der Nasa angesichts der jüngsten Reparaturspaziergänge im All Schlamperei vor. Martin Scorsese schickt einen kurzen Geburtstagsgruß zum Siebzigsten seines Kameramanns Michael Ballhaus. Der Kunstsammler Heinz Berggruen erzählt eine seiner beliebten Anekdoten aus seiner Zeit als Kunsthändler in Paris - diesmal geht's um seinen Kollegen Pierre Loeb und um den Verkauf eines "schwierigen" Gemäldes von Miro. Heinrich Wefing beklagt mangelnden Schwung beim an sich beschlossenen Wiederaufbau des Stadtschlosses in Berlin. Erika Pomsel zieht Erkenntnisse aus der Ausgrabung von Überresten einer antiken Villa bei Jülich. Joseph Croitoru stellt ein vorbildliches israelisch-palästinensisches Geschichtsbuch für die Schule vor. Jenny Hoch macht einen Stadtrundgang in München unter Zuhilfenahme einer stadtführerischen CD aus einem spezialisierten Hörbuch-Verlag.

Auf der Medienseite porträtiert Olaf Sundermeyer den bedauernswerten Heinz Dieter Walter, seines Zeichens "Pressesprecher von Frankfurt an der Oder, wo derart grausame Dinge passieren, dass sie für Kinofilme taugen". Erna Lackner schildert Auseinandersetzungen im Wiener Kurier, der seinen Chefredakteur Peter Rabl verliert. Aus einer epd-Meldung geht hervor, dass nun auch in Privatsendern wie RTL Fälle von Schleichwerbung erforscht werden. Michael Hanfeld annonciert einen unmittelbar bevorstehenden Kauf von Pro Sieben Sat 1 durch den Springer-Konzern.

Auf der letzten Seite lesen wir gelehrte Digressionen des Rechtsphilosphen Walter Grasnick über einige Lieblingsmetaphern von Juristen wie etwa die "Rechtsquelle" oder die "Rechtsfindung". Hannes Hintermeier berichtet, dass der Börsenverein des deutschen Buchhandels in seiner Online-Datenbank buchhandel.de auf die Angabe der ISBN-Nummern verzichten will, um die Buchhändler zum Abonnement seiner kostenpflichtigen Ausgabe zu bewegen. Und Felicitas von Lovenberg annonciert die neue "Bridget Jones"-Folge , die im Independent abgedruckt wurde.

Besprochen werden Iciar Bollains Film "Öffne meine Augen" und einige Sachbücher, darunter Richard Taruskins "Oxford History of Western Music", der der Musikwissenschaftler Reinhold Brinkmann bei aller guten Lesbarkeit doch eine bedauerliche Vernachlässigung von Schriften deutscher Kollegen vorwirft.

FR, 05.08.2005

"Palast weg, Schloss kommt. Aber in die Stille nach dem letzten Machtwort kann ja trotzdem noch mal jemand 'Ja, aber...!' rufen", findet Silke Hohmann. Sie freut sich deshalb über Benjamin Foerster-Baldenius' Architekturprojekt "Der Berg" im Berliner Palast der Republik. "Das 'Aber' liegt auf der Hand, denn nicht 'Schloss statt Palast' steht auf dem Plan, sondern zunächst nur: Palast weg, für Schloss kein Geld. Sicher wäre der entstehende leere Raum günstig aufzufüllen mit Campingfreunden aus anderen Teilen Europas, wenn man nur in den entsprechenden Reiseführern annoncierte. Eine einzigartige Sehenswürdigkeit wäre dann allerdings dahin. Denn der Palast ist an sich ein Spektakel, und Eingriffe wie der von Foerster-Baldenius sind mehr als kostenpflichtige Events. 'Der Berg' könnte, wenn auch nicht zum stadtplanerischen Gipfeltreffen, so doch zur diskursiven Hochebene des Berliner Sommers werden."

Weiteres: Harry Nutt entlädt in der Kolumne Times Mager einigen Ärger über Jörg Schönbohms Thesen über die Ursachen der Neugeborenenmorde in Brieskow-Finkenheerd und weist darauf hin, dass sie weniger mit der Zwangsproletarisierung durch die DDR als dem Transformationsprozessen der Nachwendezeit zu tun haben könnten, die teilweise auch in Schönbohms Amtszeit fallen.

Besprochen werden eine Orson-Welles-Retrospektive beim Filmfestival Locarno, die den legendären Regisseur als ersten wahren Multimediakünstler würdigt, und die Bremer Hölderlin-Gesamtausgabe "Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Reihenfolge" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 05.08.2005

In einem sehr schönen und traurigen Text im gestrigen Guardian beschreibt Hanif Kureishi, Schriftsteller und Filmemacher, geboren als Sohn eines pakistanischen Vaters und einer britischen Mutter seine Eindrücke bei verschiedenen Besuchen Londoner Moscheen. Er beobachtete dort einen beunruhigenden Mangel an Diskussion und kritischem Geist. "Es gab passionierte Redner, die eine Gruppe von am Boden sitzenden Leuten mit einem Wortschwall überschütteten. Die Demagogen lösten einander ab, aber die 'Predigt' wurde nicht unterbrochen, während Zuhörer unterschiedlichster Herkunft kamen und gingen." Kureishi fordert einen Multikulturalismus, der sich nicht "auf den oberflächlichen Austausch von Festivals und Speisen beschränkt, sondern auf dem engagierten Austausch von Ideen beruht".

Welt, 05.08.2005

Ralf Dahrendorf macht tief sitzende kulturelle Prägungen für die Ablehnung von Marktwirtschaft und Globalisierung in Deutschland und Frankreich aus und mag an den hier gepflegten Sozialstaat nicht glauben: "In Wahrheit ist Europas vielgerühmtes Sozialmodell mehr Traum als Wirklichkeit. Der Traum einer behaglichen Welt, in der sich ein wohlmeinender Staat um uns kümmert. Diese Welt ist allerdings größtenteils aus demografischen Gründen nicht mehr realisierbar, da immer mehr Anspruchsberechtigte die Kosten dafür unerschwinglich machen. Manche Menschen - sogar ein paar Politiker - ziehen daraus die richtigen Schlüsse... Andere wiederum betrachten eine derartige Haltung wie einen Cartoon, dessen Bildunterschrift auf Französisch oder Deutsch lauten könnte: 'Eigenverantwortlichkeit ist absolut wichtig. Wir verlassen uns dabei auf die Politik.'"

Auf den Kulturseiten lesen wir eine Reportage von Tanja Dückers aus dem "verschlafenen Wendover zwischen Utah und Nevada", wo die Flieger mit der Atombombe für Hiroshima starteten.

TAZ, 05.08.2005

Auf einmal ist sie wieder da, die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit, und Robert Misik begibt sich auf einen Ausflug durch verschiedene Gerechtigkeitskulturen und -diskurse. Am Ende kommt er zu dem Ergebnis, dass soziale Gerechtigkeit nicht der Antipode der Freiheit ist, "sondern deren Zwillingsschwester: Schlussendlich ist es ihr um Gleichverteilung von Lebenschancen zu tun, um wirkliche Wahlfreiheit für so viele wie möglich. Wie man dazu kommt, darüber kreist neuerdings wieder die politische Debatte. Die Antworten sind umstritten - aber wenigstens das Thema ist wieder da."

Weiteres: Gerrit Bartels läutet mit dem heutigen Anpfiff des Fußballspiels Bayern München gegen Borussia Mönchengladbach das Projekt Deutschlandrettung ein. Arno Raffeiner stellt neue CDs vor, auf denen sich für ihn der Techno im Zeitalter von Hartz IV manifestiert. Besprochen wird außerdem Carlos Sorins, mit Laiendarstellern gedrehter Spielfilm "Bombon - el perro".

Schließlich Tom.

SZ, 05.08.2005

Eine ganze Feuilletonseite ist dem sechzigsten Jahrestag der amerikanischen Atombombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki gewidmet. Der Hamburger Politikwissenschaftler Peter Reichel (mehr hier) beschreibt, welche politischen Auswirkungen der Abwurf der Bombe hatte: "Auch für die Besiegten hatte das Verhängnis einen politischen Nutzen. Die japanische Kriegsführung erkannte schnell, dass 'der Einsatz der Atombomben und der Kriegseintritt der Sowjetunion Geschenke des Himmels' (Marineminister Mitsumasa Yonai) waren. Die Bombe stabilisierte das Land innenpolitisch und entlastete die Japaner von einer Auseinandersetzung mit den Gewaltverbrechen, die ihre eigenen Soldaten und Offiziere zu verantworten hatten: insbesondere das Massaker von Nanking, die sexuelle Versklavung koreanischer 'comfort women' und der Todesmarsch von Bataan auf den Philippinen. Der Bombenabwurf der Amerikaner machte aus einem Tätervolk buchstäblich mit einem Schlag eine Opfernation."

Der Duisburger Japanologe Florian Coulmas (mehr hier) erklärt, warum das Leid der Opfer der zweiten amerikanischen Atombombe in Nagasaki niemals angemessen gewürdigt wurde. "Nagasaki war immer die zweite Bombe. Zur Chiffre für die Gefahr der atomaren Vernichtung wurde Hiroshima viel mehr als Nagasaki. Dabei war die Vernichtung Nagasakis, wenn ein solcher Vergleich überhaupt zulässig ist, noch schlimmer als die Hiroshimas. Den verschiedenen Gründen, die für den Einsatz der Atombombe immer wieder angeführt worden sind - Japan zur Kapitulation zu zwingen, Stalin einzuschüchtern, die wissenschaftlich-technische Meisterleistung ihrer Bestimmung zuzuführen - können manche Apologeten der Regierung Truman im Bezug auf Hiroshima noch eine gewisse Plausibilität abgewinnen. Nagasaki versucht heute kaum noch jemand zu rechtfertigen."

Weitere Artikel: Willi Winkler schreibt über reale und absurde Auswüchse der Atom-Angst in den sechziger Jahren. Narvid Kermani versucht, die Geburt des islamistischen Terrorismus auch aus dem Geist der westlichen Moderne zu erklären. Fritz Göttler gratuliert dem Kameramann Michael Ballhaus zum siebzigsten Geburtstag. Steffen Kraft hat am Rande der ersten Internationalen Wikipedia-Konferenz den Gründer des erfolgreichsten Internet-Lexikons der Welt, Jimmy Wales, zu einem kurzen Interview getroffen. "bgr" reagiert leicht kulturgeschockt auf die neue Maus von Apple - es ist die erste mit zwei Tasten. Eva-Elisabeth Fischer war bei der Eröffnungsvorstellung der 15. Münchner Tanzwerkstatt Europa, nämlich VA Wölfls Choreografie "Revolver". Irmgard Bernrieder schließlich erinnert sich an die erste Kunstausstellung nach Kriegsende in Prien am Chiemsee vor sechzig Jahren: ein "Rückzug in abstrakte Traumwelten".

Besprochen werden die Ausstellung "Ansichten Christi. Christusbilder von der Antike bis zum 20. Jahrhundert" im Kölner Wallraf-Richartz-Museum und Bücher, darunter zwei neue Heidegger-Studien, Julian Barnes Erzählband "Der Zitronentisch" und Kinderbücher (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).