Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.08.2005. In der FAZ porträtiert Mario Vargas-Llosa den wahrscheinlich letzten französisch gesinnten Ästheten dieser Welt. Die SZ beschreibt, wie die Mafia respektabel wird. In der NZZ behauptet der Japanologe Florian Coulmas, dass die Amerikaner die Atombombe niemals auf die Deutschen abgeworfen hätten. In der taz erklärt Gretchen Dutschke, warum Rudi Dutschke kurzfristig mit der Gewalt kokettierte: Das Establishment war schuld.

TAZ, 08.08.2005

Gretchen Dutschke erklärt die zumindest zeitweilige Nähe Rudi Dutschkes zur Gewalt als geschichtlich verbürgte Reaktion des Revolutionärs auf die Macht des Staates. "Als es schien, dass die Herrschenden auf die Studentendemonstrationen mit Gewalt reagieren würden und sogar zu töten bereit waren, um Veränderungen zu verhindern, erkannten die Protestierenden darin Parallelen zu der Zeit vor den Nazis und Hitlers Machtergreifung. Unter diesen Umständen schien es sinnvoll, über die Bildung illegaler Verschwörungsgruppen nachzudenken, die bereit wären, das auszuführen, was den Verschwörern 1944 nicht gelungen war (nämlich ein tyrannisches Regime zu beenden). Ja, auch jene Adligen, die Hitler umzubringen versuchten, waren nach der heute gängigen Vorstellung vom Terrorismus per definitionem Terroristen. Die Baader-Meinhof-Gruppe sah sich ganz gewiss in dieser Tradition." Im Gegensatz zu ihnen habe Dutschke freilich seinen Fehler dann relativ schnell eingesehen.

Weiteres: "Irgendwo roch es nach Patchouli." Detlef Kuhlbrodt schildert seine Impressionen von der 13. "International Democratic Education Conference" an der Humboldt-Universität in Berlin. Daniel Bax schreibt zum Tod des kubanischen Musikers Ibrahim Ferrer. Die einzige Besprechung widmet sich Icir Bollains filmischem Ehe- und Emanzipationsdrama "Öffne meine Augen".

Auf der Medienseite diskutiert Steffen Grimberg in einem Selbstgespräch offene Fragen zur Expansion von Springer ins Fernsehgeschäft. Zustände wie in Italien erwarten uns demnach nicht. "Eine zu klare politische Mission würde den wirtschaftlichen Erfolg des Konzerns schmälern."

Ja, ja, die weibliche Potenz hat auch eine dunkle Seite, lässt Katharina Rutschky anlässlich der Kindstötungen in Brandenburg in der zweiten taz verlauten. "Was können Frauen, die nicht nur Opfer sind, mit ihrer spezifischen Fähigkeit zum Gebären der Kinder anrichten? Sie können, und das beweist der Fall der Sabine H., ihre weibliche Potenz genießen - und die Kinder töten." Außerdem stellt Dieter Grönling mit einiger Sympathie die Online-Enzyklopädie Wikipedia vor. Nur die potenziell unkorrigierten Fehler stören ihn.

Und Tom.

FR, 08.08.2005

Daniel Bartetzko war in der Ausstellung zum Werk des Architekten und Stadtplaners Rob Krier im Deutschen Architektur Museum: "Seine hierzulande bekanntesten Bauten hat Krier, einer der bekanntesten Protagonisten der Postmoderne, in Berlin verwirklicht, zu Zeiten der Internationalen Bauausstellung 1984. Die Blockbebauung in der Rauchstraße, an der unter seiner Leitung weitere prominente Architekten wie Hans Hollein oder Aldo Rossi mitarbeiteten, wirkt zwanzig Jahre nach ihrer Fertigstellung noch immer wie ein Manifest für die Ästhetisierung von Architektur und Städtebau. Die Gruppe von Wohnvillen, von einem geschwungenen Torbau Kriers begrenzt, formuliert jene Ursprungsforderungen der Postmoderne, die Kunst wieder über den als karg empfundenen Rationalismus der Moderne zu setzen. Und anders als diverse Bauten jener Jahre, die mit überbordenden ironischen Spielereien die bildende Kunst und die Architektur zur Zwangspaarung verdammten, blieb Krier in seinen Grundsätzen stets hochernst."

Weitere Artikel: Oliver Herwig trauert um das Schloss Elmau, das am Wochenende zum größten Teil abbrannte. Karin Ceballos Betancur schreibt zum Tod des kubanischen Sängers Ibrahim Ferrer. In Times Mager prangert Hilal Sezgin die demografische Lüge an: "Es gibt nämlich keine Gebärverweigerung. Die Deutschen sind Gebärweltmeister!"

NZZ, 08.08.2005

Florian Coulmas, Direktor des deutschen Japan-Instituts in Tokio, sucht nach Gründen für den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Militärische findet er nicht, eher schon rassistische. Dass der Einsatz in Deutschland bei einem längeren Krieg ebenso möglich gewesen wäre, hält er für unwahrscheinlich. "Dieses Argument geht darüber hinweg, dass die Japaner während des ganzen Krieges in den amerikanischen Medien als Untermenschen und Ungeziefer dargestellt wurden. Es geht darüber hinweg, dass Präsident Truman ein bekennender Rassist war. ('Für mich sind alle Menschen gleich, wenn sie ehrlich und anständig und keine Chinesen oder Neger sind.') Es geht darüber hinweg, dass die Amerikaner mit einer nach Rassen getrennten Armee gegen die Japaner kämpften und dass unter den Schwarzen wegen ihrer Diskriminierung in Amerika während des Krieges eine so starke projapanische Bewegung entstand, dass die militärische Führung das Vertrauen in schwarze Truppen verlor."

Joachim Güntner wirft einen Blick auf die "ewige Linke", die derzeit in Gestalt von Oskar Lafontaine und Gregor Gysi unerwartete Erfolge feiert und wohl auch in Zukunft feiern wird. "Deren Vorstellung, man müsse nur die Besserverdienenden schröpfen, dann wäre der Sozialstaat finanzierbar, hat wahrlich etwas Mumienhaftes (...). Aber der Hohn der Etablierten ist doch auch allzu hochfahrend. Der Linkspopulismus konfrontiert sie mit einem Erklärungsproblem. Wie soll man sich dazu stellen, wenn es (wie letzte Woche) in den Nachrichten heisst, die deutsche Arbeitslosigkeit sei erneut gestiegen, auch fehlten mehr Lehrstellen für Jugendliche als im Vorjahr, und wenn zugleich ein Rekordhoch deutscher Aktien gemeldet wird?"

Weiter Artikel: Angehende Autoren haben auf dem englischen Buchmarkt nur noch die Chance, ein Buch zu veröffentlichen, wenn sie es selbst subventionieren, erklärt Georges Waser. Klaus Englert sieht die beiden "massstabsetzenden" Botschaftsgebäude der Niederlande und Deutschlands als Vorboten eines "Architekturfrühlings" in Warschau. Und Nick Liebmann schreibt den Nachruf auf den kubanischen Sonero Ibrahim Ferrer.

Tagesspiegel, 08.08.2005

Der Salzburger Schauspieldirektor Martin Kusej hat sein diesjähriges Programm unter das Motto "Wir, die Barbaren" gestellt. Peter von Becker findet das angesichts eines "hochfeinen, hochkulturellen Festivalbetriebs" irritierend. Kusej dazu im Interview: "Warum soll sich ein Festival nicht damit konfrontieren? Es geht uns doch um Kunst. Und Künstler erzählen nicht vom Tagesaktuellen, sondern von den eigenen Abgründen. Bei den Fernsehbildern von all den Bombenattentaten der letzten Wochen ist mir plötzlich 'Der diskrete Charme der Bourgeoisie' eingefallen, dieser 40 Jahre alte Bunuel-Film: eine vermeintliche Komödie, wo ganz beiläufig auch dauernd irgendwelche Papierkörbe explodieren. Bunuel wollte bestimmt kein Hellseher sein. Aber er hat von etwas erzählt, was uns immer betroffen hat und betreffen wird: eine Unsicherheit hinter dem Alltag, eine unfassbare Bedrohung. Es geht um die Brüchigkeit unserer Zivilisationsschicht."
Stichwörter: Kusej, Martin

Berliner Zeitung, 08.08.2005

Drastische Gebührenerhöhungen der Berliner Staatsbibliothek gibt Reinhard Markner bekannt: Die Tageskarte wird abgeschafft, man muss nun mindestens eine Monatskarte für 10 Euro lösen, wenn man die Bibliothek benutzen will. Wirtschaftlich besser wird's der Bibliothek dadurch kaum gehen: "Der stagnierende Erwerbungsetat, aus dem zeitweilig auch schon Mittel für Personalverstärkungen abgezweigt wurden, entspricht angesichts steigender Buchpreise einer stetig sinkenden Kaufkraft. Selbst der vergleichsweise günstige Eurokurs in der letzten Zeit hat diese Entwicklung nicht aufgehalten."
Stichwörter: Bibliotheken

SZ, 08.08.2005

Henning Klüver berichtet, wie Bernardo Provenzano in den Neunzigern die sizilianische Mafia aus den Medien und in die Gesellschaft gebracht hat. "Während die Mafia weiterhin ihr Fußvolk aus den ärmsten Vierteln der sizilianischen Städte rekurrierte, wo sie Wasser-, Gas- und Stromversorgung garantiert, Arbeit verteilt und sich wieder fest im System der öffentlichen Bauaufträge festsetzte, bildete sich ein ganzer Speckgürtel von bürgerlichen Berufen um die 'Cosa Nuova', die 'neue Mafia' wie Oberstaatsanwalt Grasso sie nennt: Anwälte, Steuerberater, Ärzte. Das Wochenblatt Diario beklagte jüngst, dass das gesamte Gesundheitssystem Siziliens mafiös durchsetzt sei. Oberschüler nannten in einer Befragung die ermordeten Richter Falcone und Borsellino 'Helden', aber zugleich 'Dummköpfe', weil sie auf der falschen Seite gekämpft hätten.

Die Nutzer erobern das Internet zurück", prophezeit Sonja Zekri in einem Netz-Schwerpunkt, und zwar mit Software, die soziale Nähe, Wissen und Unterhaltung von Amateuren für Amateure bieten. "Eigentlich geht es auch bei all den anderen neuen Angeboten, bei Blogs (Webtagebüchern), Vlogs (Videotagebüchern im Netz) und Moblogs (auf dem Handy verfassten Blogs), beim Podcasting (Netzradio mit eigenen Dateien) und bei der kostenlosen Internet-Enzyklopädie Wikipedia, eigentlich geht es immer nur um diesen unmittelbaren, vermeintlich unabhängigen Zugriff auf die Welt." Steffen Kraft resümiert ein Treffen der Wikipedia-Kollaborateure in Frankfurt. Klaus Lüber hält die im Netz dargereichten Amateurfilme noch für recht windig.

Weitere Artikel: In der nun veröffentlichten Mitschrift einer Psychiatersitzung Marilyn Monroes, in der sie kurz vor ihrem Selbstmord frei (und so anzüglich dass die LA Times ihre Leser warnte) über Ehemänner und JFK assoziiert, entdeckt Fritz Göttler eine "durch nichts gebremste Euphorie". Jonathan Fischer schreibt zum Tod des kubanischen Sängers und Mitglieds des Buena Vista Social Club Ibrahim Ferrer.

Anlässlich der Crossmedia-Pläne von Springer gibt es auf der Medienseite einen kleinen Überblick, wie weit die Verflechtung von Print und Fernsehen in Italien, Großbritannien, Frankreich, Spanien und den USA schon gediehen ist. Der Schriftsteller Walter Kempowski ist gestern der Thomas Mann-Preis der Stadt Lübeck verliehen worden, die SZ druckt Auszüge der Laudatio des Literaturwissenschaftlers Jörg Drews auf den "demütigen Arrangeur".

Besprochen werden Iciar Bollains Film "Öffne meine Augen", die Schau "Mythos Mutter" im Frauenmuseum Bonn, Blixa Bargelds Wort- und Soundcollage aus John M. Coetzees Erzählung "Warten auf die Barbaren" im Schauspielhaus Salzburg, ein Konzert von Van Morrison im Brandenburger Schloss Neuhardenberg, eine Darbietung der h-Moll-Messe durch das Bach-Collegium Japan unter Masaaki Suzuki in Ansbach, und Bücher, darunter Viktor von Weizsäckers Schrift "Pathosophie" als zehnter und letzter Band der "Gesammelten Schriften", Charlie Higsons Roman zur Jugend James Bonds "SilverFin" sowie Werner Spies' Künstlerporträts "Duchamp starb in seinem Badezimmer an einem Lachanfall" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 08.08.2005

Mario Vargas-Llosa porträtiert den Lebenskünstler Alejandro, der wie er selbst aus Lima kommt und heute als ein Kulturbeflissener ohne jedes Geld in Paris lebt, seine Bücher einfach in den Buchhandlungen liest und mit einer Pressekarte aus Lima die besten Plätze in Theaterpremieren ergattert. Alejandro ist wahrscheinlich der "letzte so ausgeprägt französischgesinnte Ästhet" in dieser Welt, meint Vargas-Llosa, und er legt dem französischen Staat nah, ihm eine lebenslange Pension zu zahlen, denn "niemand hat so sehr wie er und unter mühseligen Anstrengungen den Mythos verteidigt, Paris sei die Hauptstadt der universalen Kultur, der Leuchtturm des Geistes, der moderne Parthenon der Ideen und der Künste. Er hat das sein ganzes Leben lang getan, ohne eine Gegenleistung zu erwarten und ohne dass es den französischen Steuerzahler etwas gekostet hätte - aus reiner Liebe zur France eternelle, zu Frankreichs Denkern, Dichtern, Schriftstellern und Künstlern. Und er muss das tun, denn so wie es aussieht, fürchte ich, dass es nicht mehr viele Menschen seiner Gesinnung gibt..."

Weitere Artikel: Heinrich Wefing besucht das neu eröffnete Auswandererhaus in Bremerhaven. "Rh" freut sich in der Leitglosse über die allgemeine Anerkenneung des Leids der Vertriebenen, die er auf dem Vertriebenentag in Berlin spürte. Robert von Lucius schreibt zum Tod der lettischen Dichterin Vizma Belsevica. Martin Otte beklagt anhand der geplanten Schleifungen der Deutschlandhalle und des ICC die andauernde Abrissneigung der Berliner (ähnliche Klagen haben wir beim Palast der Republik allerdings nicht vernommen). Wolfang Sandner schreibt zum Tod des Sängers Ibrahim Ferrer aus dem Buena Vista Social Club.

Auf der Medienseite klagt Michael Hanfeld: "Auf ein Wort - Haim Saban hat Pro Sieben Sat 1 verschaukelt". Auf der Wirtschaftsseite der Sonntagszeitung lesen wir übrigens bewegende Worte der Friede-Springer-Biografin Inge Kloepfer zur Übernahme der Sender durch den Springerkonzern: "Friede Springer denkt nur an das, was kommt. Das hat sie immer getan und sich so oft gefragt, wie es wohl weitergeht mit Springers Lebenswerk, das längst zu ihrem geworden ist. " Thomas Thiel entdeckt für die FAZ die Internet-Enzyklopädie Wikipedia, findet aber auch gleich einiges zum nörgeln. Jürgen Kaube wirft der "Sportschau" mangelnde Sachkunde vor.

Auf der letzten Seite untersucht Wolfgang Schneider die Auswirkungen der Bombe von Hiroshima auf die deutsche Literatur. Dietmar Dath greift die drastischen Worte an die Leser auf, mit denen der Bestseller-Autor Terry Pratchett vor der Vertreibung von Raubkopien seines neuen Buchs warnt. Und Hannes Hintermeier inspiziert den beim Weltjugendtag der Katholischen Kirche verkauften Pilgerrucksack.

Besprochen werden die Ausstellung "Atmosphären der Demokratie" im ZKM Karlsruhe, ein Konzert Placido Domingos in der Berliner Waldbühne, der Film "Johannes XXIII." und einige Sachbücher, darunter Herfried Münklers Band "Imperien".