Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.08.2005. Die NZZ vermisst unkonventionelle Lebendigkeit in Schanghai. Die FAZ stellt apokalyptische Visionen über die Zukunft der französischen Tagespresse vor. Die SZ jubelt über hochdissonante Reibeflächen bis zur Emanation bei einer Aufführung von Bruckners Dritter. Die FR feiert Christoph Schlingensiefs Geschichtsrevue "Odins Parsipark". In der Welt untersucht der Kunsthistoriker Klaus Honnef die Folgen der Digitalisierung für die Fotografie. Die taz fordert eine interkulturell modifizierte Leitkultur.

NZZ, 22.08.2005

Claudia Kramatschek gibt einen recht instruktiven Einblick in die pakistanische Literatur - pardon: in die Urdu-, Sindhi-, Pashto-, Panjabi- und Belutschi-Literaturen. "Die Situation scheint insgesamt so paradox wie das ganze Land: Aufbruch - und Stagnation zugleich. Das gilt auch für die Gretchenfrage der Zensur unter dem Banner eines Generals, der angelegentlich auch einmal Schriftsteller in großer Runde zum Essen einlädt. Manche der einst regimekritischen Literaten behaupten daher: Nie war die literarische Freiheit größer als unter Musharraf. Sie, die einst wie Fahmida Riaz das Regime bekämpften, gehören zu den Befürwortern der jetzigen Regierung. In den Augen ihrer früheren Leser haben sie damit ihre Ideale und die eines linken Schriftstellers verraten - während viele linke Autoren nunmehr unter dem Schutz einer NGO die Feder führen. Ajmal Kamal zieht daher, was die gegenwärtige Urdu-Literatur anbelangt, ein eher düsteres Resümee: 'Es kommt eine Literatur auf, die sowohl hinsichtlich der Form als auch des Inhalts vorhersagbar ist, weil sie genau die politische Linie vertritt, die einer literarischen Karriere nicht im Wege steht.'"

Urs Schoettli vergleicht seine Eindrücke von Schanghai und New York. Nur auf den ersten Blick, meint er, schneidet die chinesische Primadonna besser ab: "Eine richtige Weltstadt und vor allem eine kulturell lebendige und zukunftsträchtige Metropole benötigt jedoch nicht nur Beton, Stahl und Glas. Vielmehr kommt es darauf an, welcher Geist in ihr weht, und hier kann Schanghai nur voller Neid auf New York blicken. Die Yankees waren einst aus der Sicht der Europäer die neureichen Emporkömmlinge. Heute ist es Schanghai, wo das Kulturleben im Vergleich mit dem 'Big Apple' zweitrangig und bescheiden ist... Schanghai fehlt allem Aufbruch, aller Modernisierung und aller unkonventionellen Lebendigkeit seiner jungen Bevölkerung zum Trotz die Freiheit."

Weiteres: Jürgen Bräunlein erinnert daran, dass das Guinness-Buch der Rekorde seit nunmehr fünfzig Jahren den "inszenierten Größenwahn" pflegt. Ursula Seibold-Bultmann besichtigt Egon Eiermanns Erweiterungsbau für die ehemalige Total KG von 1938 in Apolda bei Weimar. Besprochen werden zwei Konzerte mit dem Lucerne Festival Orchestra und Claudio Abbado und eine Flamenco-Nacht ebenfalls in Luzern.

TAZ, 22.08.2005

Brigitte Werneburg beklagt bei ihrem Blick auf die Amtszeit der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien Christina Weiss deren Hang, die Kultur vor den Karren der Nation zu spannen. "Es scheint, dass ausgerechnet die parteilose Staatsministerin in seltsam sozialdemokratischer Art allergisch auf die Eigenständigkeit von Institutionen reagiert. Stets braucht es ein Dach darüber, ein politisch geführtes Gremium, das die Leitung des jeweiligen Hauses kontrolliert. (...) Kultur freilich lebt von der Eigenständigkeit ihrer Institutionen und von der Eigenwilligkeit der leitenden Personen. Wer hin und wieder an die Endlichkeit der eigenen Konzepte bei einer nächsten Wahl denkt, wird gerade im Bereich der Kultur die Eigenständigkeit der Institution befördern - damit sie den Zumutungen von Seiten der Politik widerstehen, vielleicht auch nur ausweichen können."

In den Tagesthemen plädiert Christoph Türcke für eine interkulturell modifizierte Leitkultur, aber vor allem für eine Leitsprache. Denn die durch das babylonische Sprachengewirr hervorgerufene "kulturelle Buntheit ist auch der Nährboden für neue Ghettos und Parallelgesellschaften, zu denen russische, türkische, arabische Subkulturen in Mitteleuropa ebenso tendieren wie in den USA lateinamerikanische oder ostasiatische."

Das Fernsehen, nicht das Internet, ist das wirkungsvollste Propagandamittel islamistischer Fundamentalisten, erklärt Florian Harms ebenfalls in den Tagesthemen. Eva Behrendt wandelt im Wald von Neuhardenberg durch Odins Parsipark, und kommt im Feuilleton zu der tröstenden Erkenntnis, dass bei Christoph Schlingensief nichts verlorengeht, "geschweige denn die Wäschespinne oder die isländische Erdspalte". In der zweiten taz porträtiert Susanne Lang den Schauspieler Ludwig Trepte, der mit "Kombat Sechzehn" bekannt wurde. Steffen Grimberg kolportiert im Medienteil, dass zwischen Bill Keller, Chefredakteur der New York Times, und dem konservativen Richter und Publizisten Richard A. Posner öffentlich die Fetzen fliegen.

Besprochen werden das Album "Maestro" der für ihre Live-Auftritte gerühmten norwegischen Band Kaizer Orchestra, ein Diavortrag, auf dem Fotograf Markus Mauthe seine im Auftrag von Greenpeace gemachten Aufnahmen der letzten Urwälder präsentierte und Dietmar Daths "plot- und figurenreicher" Roman "Für immer in Honig".

Schließlich Tom.

FR, 22.08.2005

Elke Buhr hat sich Christoph Schlingensiefs neueste Inszenierung am Schloss Neuhardenberg in Brandenburg angesehen, den sagenumwobenen Animatografen: "Schlingensief hat den Animatografen nicht erfunden Mit dem Begriff bezieht er sich auf Experimente mit beweglichen Fotografien auf der Bühne, die bereits am Ende des 19. Jahrhunderts stattfanden. Seine Drehbühne ist alles andere als ein High-Tech-Gerät; zugemüllt, beschmiert und von Freaks und Göttern bevölkert, erinnert sie an einen alten Jahrmarkt. Für sein Theater aber scheint dieser Animatograf eine Zukunftsmaschine zu sein. Hier ist Brechts Traum von der Auflösung der Differenz zwischen Akteur und Betrachter verwirklicht, und vor allem: Hier ist endlich der Apparat gefunden, der Schlingensiefs Assoziations-Chaos die angemessene Form gibt."

Weiteres: Anton Thuswaldner berichtet, wie bei den Salzburger Festspielen Romane von Antonio Lobo Antunes und J. M. Coetzee in Szene gesetzt wurden (zum Beispiel von Blixa Bargeld). In Times Mager hofft Michel Tetzlaff, dass sich Hunter S. Thompsons mit einer Kanonenkugel in dem Himmel geschossene Asche weit über Amerika verbreiten wird. Besprochen wird Matias Bizes Hochzeitsdrama in Echtzeit "Sabado".

Welt, 22.08.2005

In der Welt untersucht der Kunsthistoriker Klaus Honnef die Folgen der Digitalisierung auf die Fotografie: "Der Übergang von der analogen zur digitalen Fotografie ist alles andere als ein Übergang in kontinuierlichen Schritten. Dahinter verbirgt sich nichts weniger als ein vollständiger Bruch mit der gewohnten Form von Wahrnehmung und Darstellung der sichtbaren Realität."

Berliner Zeitung, 22.08.2005

Die österreichische Hautpstadt leistet sich mit dem nun wieder seiner ursprünglichen Bestimmung zugeführten "Theater an der Wien" ein drittes Opernhaus (Spielplan 2006 hier). Wie kann das sein, fragt Wolfgang Fuhrmann angesichts der Berliner Opern-Probleme. Durch Bundeszuschüsse. "Der musikalische Reichtum Wiens ist nur zum geringsten Teil ein Verdienst der Kommune selbst. Die Wiener Staatsoper und die Wiener Volksoper werden - wie das Burg- und das Akademietheater (hier) - vom Bund finanziert. Das berühmteste Orchester der Stadt, die Wiener Philharmoniker, ist ein privater Verein. (...) Das ist ein Mit- und Nebeneinander von Staat, Stadt und privatem Unternehmertum, wie es der deutschen Subventionstrennkost erstaunlich scheinen muss. Gesetzt den Fall, Christina Weiss entschlösse sich, die Berliner Staatsoper und das Deutsche Theater zu finanzieren - das Aufheulen deutscher Ministerpräsidenten wäre noch bis Timbuktu vernehmbar."

FAZ, 22.08.2005

Zwei Medienthemen aus dem befreundeten Ausland. Dirk Schümer berichtet, dass Nanni Moretti einen Film über Silvio Berlusconi plant: "Der Titel ..., 'Il caimano' (Der Kaiman), spielt nicht nur auf einen beliebten Schimpfnamen für den bissigen Medienunternehmer an, sondern richtet den Blick auch auf modische Finanzparadiese wie die Kaiman-Inseln, wohin italienische Finanzjongleure gern ihre schwer durchschaubaren Erträge umleiten. (...) Vier Jahre hat sich der Regisseur mit dem Projekt Zeit gelassen - Zeit, die er vor allem in politische Aktivität investierte und nun mit einem durch und durch politischen Film abschließen möchte. Kein Zufall wohl auch, dass der 'Caimano' pünktlich zum Wahlkampf im kommenden Frühjahr herauskommen soll."

In Frankreich kursieren währenddessen apokalyptische Visionen über die Zukunft der Tagespresse, wie Jürg Altwegg in seiner Zeitschriftenschau berichtet. "Zwei oder drei europäische Medienkonzerne und ein paar regionale Monopolisten werden das Geschäft mit den Inhalten beherrschen. Dieses Szenario skizziert eine Expertengruppe - Chefredakteure, Verleger, Publizisten - des französischen 'Commissariat au Plan'. So werde es kommen, fürchten die Weisen, falls der Staat nicht durch eine aufwendige Presseförderung der grassierenden Verblödung und der 'weltweiten Konzentration' entgegentrete." Das wird dann vor allem zu einer großen Freiheit von Meinung gegenüber dem Staat führen!

Weitere Artikel: Popkritiker Edo Reents bewundert im Aufmacher die geradezu protestantische Askese, mit der Papst Benedikt XVI. jede Pop-Anmutung von seinen Kölner Zelebrationen fernhielt. Gina Thomas glossiert Gerüchte über Tony Blairs Urlaub in der Karibik. Gemeldet wird, dass im Neubau der Berliner Akademie der Künste wegen der Probleme mit der Klimatisierung vorerst keine Ausstellungen stattfinden können. Jordan Mejias berichtet, dass das Team Peter Sellars und John Adams im Oktober in San Francisco eine Oper über den Bau der ersten Atombombe zur Uraufführung bringen. Rüdiger Klein besucht die historischen Erlachhöfe in Franken, welche durch den Architekten Reinhold Jäcklein zum Teil saniert wurden. Kerstin Holm schreibt in ihrer Reihe über russischen Provinzmuseen über das Kunstmuseum in der Hafenstadt Taganrog. Andreas Rossmann gratuliert dem Regisseur Hansgünther Heyme zum Siebzigsten. Gina Thomas schreibt zum Tod des Direktors des Warburg Institutes in London, Joseph Burnley Trapp.

Auf der Medienseite schrebit Walter Filz in der Reihe "Stimmen" über die Stimme Marilyn Monroes. Katharina Iskander porträtiert den Fernsehschauspieler Claus Theo Gärtner ("Matulla"). Gina Thomas meldet, dass der britische Sender Channel 4 seine Zuschauer zur Erstellung einer Hitliste der am meisten verhassten Gebäude auffordert. Und Martin Kämpchen berichtet über die enormen Erfolge der Show "Wer wird Millionär" in Indien (mehr hier).

Auf der letzten Seite schildert Paul Ingendaay eindringlich die Vernachlässigung musikhistorischer Schätze in Spaniens Kirchen und Archiven - allenfalls praktizierenden Musikern wie Michael Noone ist es zu verdanken, wenn unbekannte Werke Cristobal de Morales' wiederentdeckt werden. Und Robert von Lucius porträtiert den schwedischen Künstler Carl Frederik Reuterswärd, dessen berühmtestes Werk - die Pistole mit dem verknoteten Lauf - jetzt nicht mehr nur vor dem Gebäude der Uno in New York, sondern in weiterer Kopie auch im Garten des Bundeskanzleramts steht.

Besprochen werden eine Ausstellung des Fotografen Robert Adams in München, Christoph Schlingensiefs an seine Bayreuther "Parsifal"-Inszenierung anknüpfende Geschichtsrevue "Odins Parsipark" in Neuhardenberg, die Ausstellung "Crossart" mit Meisterwerken der Moderne aus deutschen und niederländischen Museen in Bonn, der Film "Sabado - das Hochzeitstape" von Matias Bize und einige Sachbücher, darunter Frederick Coopers bisher nur auf englisch erschienener Band "Colonialism in Question".

SZ, 22.08.2005

Hingerissen berichtet Reinhard Schulz von Peter Jan Marthes in Linz vorgetragener Neufassung von Bruckners dritter Symphonie. "Er hat Bruckners Material neu zusammengestellt und das schon immer als problematisch angesehene Finale zu verblüffender Dimension erweitert. Der grandiose Schluss mit dem nach Dur gewendeten Eingangsthema der Symphonie wird hier verzögert, so als müsse der Klang sich durch riskante Engen zwängen und letzte heikle Hindernisse nehmen, ehe er zunächst noch als Vorahnung, dann in gewaltiger Erscheinung ins Offene tritt. Psychische Verlaufskurven vom Gemächlichen über erregte Zwischenwürfe, dazwischenfahrende Blöcke, hochdissonante Reibeflächen bis zur Emanation wurden hier in extenso ausgetragen. Dieser Satz geriet zum Purgatorium, das schließlich in der Befreiung endet. Nach dem Verklingen dieser Klanggewalt war das Publikum sprachlos, erschüttert. Der Beifall setzte erst nach atemloser Stille ein, fast ängstlich, um die Wirkung nicht zu zerstören, dann aber frenetisch."

Gestern wurde im Park des Bundeskanzleramts die Skulptur "Non Violence" (Bild) enthüllt, die der schwedische Künstler Carl Fredrik Reuterswärd zuerst den UN und nun auch Gerhard Schröder geschenkt hat. Die SZ druckt die kurze Rede von Günter Grass ab, in der noch einmal das Nein der Regierung zum Irakkrieg gelobt wird. "Hier ist der richtige Ort für den verknoteten Revolver. Hier in Berlin vorm Kanzleramt, hier, in Nähe zum Parlament, hier, wo Ja und Nein von Gewicht sind, hier, wo über vieles, das der politische Alltag fordert, aber auch direkt und indirekt über Krieg und Frieden entschieden wird, ich wüsste keinen besseren Blickpunkt."

Weiteres: Der Kirchentag war kein Pop-Event, zeigt Dirk Peitz, und fragt sich, ob der Vatikan sein Motto "One World" im Umgang mit den Gläubigen umsetzen kann. Alex Rühle beschäftigt die Überalterung der Gesellschaft, die sich wie ein Gletscher auf uns zubewegt, bei zunehmender Erhitzung der Diskussionsatmosphäre. Der österreichische Kabarettist Alfred Dorfer beginnt seine Tätigkeit als Wahlbeobachter der SZ in Münchens Fußgängerzone. "Manche sehen aus wie daheim und doch nicht unsympathisch." Oliver Herwig beklagt den Verfall des Braun-Designs, das nach 50 Jahren nun zu musealen Ehren kommt (Homepage mit Flash-Animation). Karl Bruckmaier veranlasst das verregnete Calypso-Revival in diesem Sommer zu einem Geschichtsüberblick und Durchhalteparolen. "Die Schrift ist da. Wir müssen sie nur lesen. Während wir dazu tanzen." Fritz Göttler berichtet vom Begräbnis des Gonzo-Journalisten Hunter S. Thompson, dessen Asche mit Feuerwerksraketen in den Abendhimmel geschossen wurde. Werner Burkhardt erlebt Werke des japanischen Komponisten Toru Takemitsu auf dem Schleswig-Holstein Musik Festival. Und Claus Heinrich Meyer fürchtet um das von der Einstellung bedrohte Berliner Museumsjournal.

Auf der Medienseite berichten Korrespondenten, wie es Amerikaner, Franzosen, Italiener und Briten mit dem Fernsehduell halten. Besprochen werden Matias Bizes "Liebeskatastrophenfilm" "Sabado" und Bücher, darunter das Traktat "Mindsight" des Philosophen Colin McGinn, in dem er (auf Englisch) die menschliche Vorstellungsgabe zur "größten evolutionären Entdeckung seit den Warmblütern" erklärt sowie Nick Flynns "wahre und großartige" Erinnerungen an die vielen "Bull Shit Nights" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).