Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.08.2005. George Tabori erzählt im Tagesspiegel, wie er Thomas Mann einst beim Gebrauch volkstümlicher Ausdrücke beobachtete. In der Welt erklärt Andrea Breth, wie sie das Theater gerne hätte, aber immer seltener vorfindet. Die NZZ streitet über Xiao Yus "Fötus-Objekt". Wim Wenders' neuer Film "Don't Come Knocking" bekommt laue bis freundliche Kritiken. Die SZ beklagt die herzlose Selbstgerechtigkeit der Künstler beim SPD-Kulturforum.

Tagesspiegel, 24.08.2005

Der Tagesspiegel bringt einen wunderhübschen Artikel von George Tabori, der sich an seine Begegnungen mit Thomas Mann erinnert, zum Beispiel an eine Lesung Lion Feuchtwangers in seiner prunkvollen Villa in Los Angeles, bei der Mann einschlief: "Am Ende haben wir alle enthusiastisch applaudiert, worauf Thomas Mann erwachte und höflich klatschte. Später hat er mich freundlich zur Seite genommen und auf Feuchtwangers tolle Villa, die wertvolle Einrichtung, den herrlichen Garten gedeutet: 'Alles von ihm verdient, alles erschrieben. Mit nichts als Scheiße.'"

FR, 24.08.2005

Thomas Medicus resümiert die Berliner Bilanzveranstaltung von Wolfgang Thierse zur Kulturpolitik des Bundes und gewann den Eindruck, Zeuge eines "letzten Aufgebots" geworden zu sein. Günter Grass war dabei, Jürgen Flimm, Günther Uecker und Klaus Staeck: "Nichts gegen alte Kämpen, ohne die es bei einer Wahlveranstaltung wie dieser nicht geht. Aber ließen sich denn um Himmels nicht ein, zwei Künstler der Nachkriegsgeneration auftreiben, die vielleicht einen etwas anderen Kultur- oder Politikbegriff besitzen als das sozialdemokratische Urgestein, Ideen, Konzepte, Visionen gar? Inbrünstig klebte man stattdessen am Modell des engagierten Schriftstellers bzw. Künstlers, der sich gerne übers große Ganze verbreitet, aber nur selten spezifisch wird."

Weitere Artikel: Helmut Höge berichtet über den hauptstädtischen Trend zum künstlerisch gemeinten Hüttendorf. In Times mager beklagt Daniel Kothenschulte die Leere der Stadt nach dem Abzug der Pilger aus Köln. Zu lesen ist außerdem ein Nachruf auf den Synthesizer-Erfinder Robert Moog (hier seine Homepage).

Besprochen werden eine Ausstellung des Künstlers Phillip Zaiser im 1822 Forum in Frankfurt und Bücher, darunter der Band "Lolita lesen in Teheran" der iranischen Literaturdozentin Azar Nafisi, die im Iran einen "subversiven Lesezirkel für Studentinnen" gegründet hat. (siehe hierzu unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

NZZ, 24.08.2005

Marli Feldvoss hat den Film "Dear Wendy" gesehen, eine Gemeinschaftsarbeit von Lars von Trier (Buch) und Thomas Vinterberg (Regie). Es geht um sechs Jugendliche, die einen Geheimbund gründen, den "Club der Dandies", "in einer stillgelegten Mine ihre Schießkünste perfektionieren und mit Phantasiekostümen eine Gegenwelt zur Entfaltung bringen: erklärte Pazifisten, trotzdem Waffenträger, mit einem Verhaltenskodex, der ihnen vorschreibt, die Waffe nie ausserhalb ihres Terrains zum Einsatz zu bringen." Für Feldvoss ist das ganze eine "scharfsinnige politische Allegorie, die sich meilenweit von Vinterbergs moderner Orestie 'Festen' und von der längst verabschiedeten 'Dogma'-Bewegung entfernt hat. 'Dear Wendy' setzt einerseits den Aufstand der Rechtlosen und Unterdrückten - der Unschuldigen eigentlich - mit ihrer ganzen faschistischen Verblendung und fundamentalistischen Radikalität in Szene. Mit seinem blutrünstigen Showdown steht der Film dann anderseits ganz im Schatten des 11. Septembers."

Mb. war bei einer Diskussion über das das sogenannte "Fötus-Objekt" des Künstlers Xiao Yu im Kunstmuseum Bern. Xiao Yu hatte dafür präparierte Teile von Tierkadavern und den Kopf eines menschlichen Fötus benutzt (Bild), das Objekt wurde vorübergehend aus der Ausstellung "Mahjong" entfernt. "Die Mitglieder des Podiums waren sich jedenfalls weitgehend einig, dass mit dem Werk keine Verletzung der Menschenwürde stattfinde. Mit seiner Drastik, so könnte man den Grundtenor zusammenfassen, sei das Objekt eben Spiegel unserer Gegenwart mit all ihren Brüchen und Verwerfungen - ob nun in China oder in der westlichen Welt."

Auch die Historikerin und Kuratorin Kaba Rössler ist offenbar nicht der Ansicht, dass Xiao Yus Objekt aus der Ausstellung verbannt bleiben sollte. "Die Beziehung zwischen dem Tier und dem Menschen ist heute vielfältig und komplex. Tiere gelten als Heilige oder als Nutztiere und werden in der Werbung und in den Massenmedien instrumentalisiert. Die Kultur der Heuchelei macht auch vor ihnen nicht Halt. Der Appetit nach Fleisch ist heute so groß wie nie zuvor. Gestillt wird er durch möglichst billige Züchtung, Haltung und Schlachtung, Vorgänge, die aus dem Blickfeld einer zivilisierten urbanen Bevölkerung an den Rand der Wahrnehmung gedrängt werden. Wenn es dem Journalisten und Ankläger de Riedmatten in Sachen 'Ruan' um Gewaltdarstellung, Störung des Totenfriedens und Verletzung des Tierschutzgesetzes ginge, böte sich ihm hier ungleich mehr Anlass, sich zu beschweren, als am Kunstobjekt, das in einem sorgfältig gewählten Kontext präsentiert wird."

"Wenig Erhebendes" hat Peter Hagmann im Konzertprogramm der Salzburger Festspiele gefunden. Die Salzburg-Passagen mit ihrem Programm für Neue Musik haben ihm gar Kopfschmerzen bereitet. "Als eine Zentralfigur in den acht Konzerten, die an vier Abenden 32 Werke zur Diskussion stellten, trat der in den USA lebende Brite Brian Ferneyhough auf, der als Begründer der Neuen Komplexität gilt. In seiner Musik wird das serielle Denken der Ersten Moderne mit Hilfe von Rechnern bis in die feinsten Verästelungen ausdifferenziert, was zu einer hohen, um nicht zu sagen: unmenschlichen Abstraktion führt."

Besprochen werden Bücher, darunter drei Erinnerungsbände von Julius Wolfenhaut und Margit Bartfeld-Feller über die Schrecken der sibirischen Verbannung und ein Band über Pionierinnen in der Architektur (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 24.08.2005

Im Kulturteil resümiert Annett Gröschner eine Bilanzveranstaltung mit Wolfgang Thierse über die vergangene und zukünftige Kulturpolitik des Bundes in der Berliner Kulturbrauerei. Außerdem lesen wir einen Nachruf auf den Erfinder des Synthesizers Robert Moog.

In tazzwei porträtiert Christian Schneider die Kanlzerkandidatin unter besonderer Berücksichtigung der von ihr propagierten "Ehrlichkeit" und ihrer Glaubwürdigkeit. Stefan Kuzmany erklärt an gleicher Stelle, weshalb die Verschränkung von Pop und Politik nicht funktionieren könne.

Besprochen wird der neue Roman von Philip Roth "Verschwörung gegen Amerika" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Schließlich Tom.

Welt, 24.08.2005

Im Interview mit Reinhard Wengierek erklärt Andrea Breth, wie sie das Theater gerne hätte, wie sie es aber nicht mehr vorfindet: "Wir stellen uns 60 Zentimeter über andere Menschen. Und wenn wir da nichts zu vermelden haben, dann sollten wir uns da nicht hinstellen. Ich rede von der Anwesenheit oder Abwesenheit Gottes, ich rede von der Anwesenheit oder Abwesenheit der Utopie. Alles ist abwesend. Wir haben nichts mehr. Und in dieser Hohlheit wackeln wir von einem Event zum nächsten. Mein Bedürfnis ist Stille. Ich will zurück zu den Ursprüngen. Auf die Haut, ein Tasten, die Augen, da ist was, ein Klang, ein Wort. Das Herbstblatt fällt. Aber alles ist nur noch laut. Eine tumbe Eventgesellschaft."

Weitere Artikel: Eckhard Fuhr schreibt über Günter Grass im Wahlkampf ("Das alte Reptil hat Sonne getankt und die ideale Betriebstemperatur erreicht"). Peter Zander findet Wim Wenders' neuen Film "Don't Come Knocking" schön und leicht.

FAZ, 24.08.2005

"Bei diesem Film konnte eigentlich nichts schiefgehen", schreibt Michael Althen zu Wim Wenders' neuem Film, "Don't Come Knocking", der wie "Paris, Texas" auf einem Drehbuch Sam Shepards beruht. Aber trotz der bewährten Kräfte bleibt Althen lau: "Die beiden wollten sich verständlicherweise nicht wiederholen, konnten aber doch nicht so recht aus ihrer Haut. In der Figur des Mannes, der wie Odysseus dauernd unterwegs ist und doch nur nach Hause will, treffen sich die Sehnsüchte des Amerikaners und des Deutschen offenbar auch heute noch."

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil empfand beim Weltjugendtag die "elementare Kraft, die der Glaube in früheren Jahrhunderten noch hatte". Sein Kollege Ulrich Holbein beklagt dagegen die "kollektive Unfähigkeit, Scham zu entwickeln angesichts der Anmaßung, wimmelnder Bodenbelag könne einem als amusisch vorausgesetzten Gott 'gefallen'". Regina Mönch beobachtete Angela Merkel bei Wahlkampfauftritten in Ostdeutschland, während Eberhard Rathgeb Außenminister Joschka Fischer in Kassel reden hörte und sah. In der Leitglosse meditiert "G.R.K." über die "metageologische Bedeutsamkeit" von Bergen. "Rh" meldet, dass 60 Millionen Bände in deutschen Bibliotheken durch Tintenfraß und andere Verfallserscheinungen gefährdet seien. Martin Kämpchen stellt in einer Zeitschriftenschau indische Nachrichtenmagazine wie Outlook, The Week und Frontline vor. In der Serie "Entrümpelung" plädiert die Arbeitsmarktforscherin Jutta Allmendinger für die "Entrümpelung" des irgendwie mit Hartz IV verbundenen "Aussteuerungsbetrags". Martin Kämpchen meldet, dass in Kalkutta die handgezogenen Rikschas verboten werden.

Auf der letzten Seite schreibt Christian Schwägerl über Maßnahmen zur Abwehr der Vogelgrippe. Andreas Rossmann berichtet, dass sich die Stadt Aachen eine größere denkmalschützerische Kompetenz zulegen will. Und Alexander Jürgs porträtiert den "Adbuster" Kalle Lasn, der mit parodistischen Werbespots von sich reden macht.

Besprochen werden Konzerte der Salzburger Avantgardereihe "Passagen" und die Ausstellung mit chinesischer Gegenwartskunst aus der Sammlung Sigg in Bern, die jüngst durch Xiao Yus auf den Körper einer Möwe montierten Kopf eines Fötus einen gewissen Skandal erregte.

SZ, 24.08.2005

Fritz Göttler freut sich über Wim Wenders' Western "Don't Come Knocking", "ein kleines amerikanisches Märchen, von einem, der auszog, zu sich selbst zu finden und der dabei einem Sohn begegnet, von dem er nichts wusste, und einer Tochter, von der niemand ihm je erzählt hat. Wie einen Hans im Glück sieht man diesen Howard gleich am Anfang bei einem merkwürdigen Tauschgeschäft mit einem Oldtimer, in einer verlassenen Poststation in der Wüste von Utah. Seine edlen Sporen bietet Howard im Tausch gegen das Hemd und die Weste des Alten, dann gibt er ihm noch seine Stiefel dazu, seine Jacke und seinen Hut, und schließlich auch das Pferd, auf dem er gekommen ist, ein Klasse Wallach." Vielleicht kein Meisterwerk, so Göttler, aber doch ein "Märchen, das wunderschön ist in seiner Verwandlungsfähigkeit und seiner Unbegreiflichkeit".

"Heiter und einverständig" ging es zu beim SPD-Forum "Kultur als Lebensmittel", berichtet Gustav Seibt. Dennoch wurde ihm ganz beklommen zumute beim Geplauder von Wolfgang Thierse und Kulturstaatsministerin Christina Weiss mit Günter Grass, Günther Uecker, Klaus Staeck und Jürgen Flimm. "Das lag an der schockierenden, geradezu herzlosen Selbstgerechtigkeit, mit der vor allem die künstlerischen Protagonisten auftraten. Da saßen sie, die weltläufigen, teuer angezogenen, erfolgreichen Herren; und schwärmten davon, wie angenehm es beim Kanzler stets war ... Flimm zeigte sich begeistert, dass im Ruhrgebiet, wo er die Triennale leitet, die Fabriken zu wunderbaren Spielstätten wurden - dass genau darin, dass Industrieanlagen zu Theatern wurden, vielleicht ein Problem Deutschlands besteht, kann ein staatlich subventionierter Theatermacher sich offenbar nicht vorstellen."

Thomas Steinfeld verreißt den neuen Roman von Michel Houellebecq "Die Möglichkeiten einer Insel": "Er ist ein Lamento, ein einziges großes Dokument der Wehleidigkeit, mit der ein fast Fünfzigjähriger quittiert, dass zuerst seine Lebensgefährtin runzlig wird, und dass dann er selbst, nachdem sie ihn verlassen hat wie ein zum Sterben sich zurückziehendes Tier, nicht einmal mehr für die willigsten Frauen begehrenswert ist."

Weitere Artikel: Richard Chaim Schneider sieht nach der Räumung des Gaza-Streifens eine Verschärfung des Kulturkampfes in Israel kommen, bei dem nicht weniger auf dem Spiel stehe als die "Bewahrung des liberalen Gesellschaftssystems". Ingo Petz berichtet über die Verhaftung eines russischen Filmemachers, der es wagte, den weißrussischen Diktator Aleksander Lukaschenko in einer animierten Satire aufs Korn zu nehmen. Willi Winkler denkt über den so genannten "Piano-Mann" nach. Arnd Wesemann berichtet über das Internationale Tanzfest Berlin. Und Andrian Kreye beschreibt noch einmal den Kampf der Musikindustrie gegen privat zusammengestellte CDs und DVDs.

Besprochen werden ein Benefizkonzert der Bayreuther Festspiele, CDs von Ananda Shankar, der norwegischen Trommlertruppe Batagraf und diverser Gospel-Gruppen wie Campbell Brothers und Sounds of Blackness. In einer Randspalte geht es um deutsche Produktionen, darunter von Element of Crime, Kommando Sonnenmilch und Junges Glueck. Außerdem werden Bücher besprochen, darunter der Briefwechsel von Ernst Jünger und Friedrich Hielscher, ein Band mit hebräischen Quellen zur Judenverfolgung und ein Hörbuch mit Franz Kafkas "Verwandlung", 1961 gelesen von Bernhard Minetti (siehe unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).