Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.08.2005. In der Welt bekennt sich Mario Vargas-Llosa trotz allem irgendwie doch zu Sartre. Die taz versucht Slavoj Zizek zu verstehen, der Darth Vader zu verstehen versucht. Die NZZ fühlt sich durch unsere engagierten Literaten an Musterknaben aus der Staatsbürgerkunde erinnert. Die FAZ lauschte einem Scherz von Lech Walesa. In der FR träumt Marcia Pally von einem Weltjugendtag für aufgeklärte Jugendliche.

Welt, 31.08.2005

In der Welt porträtiert Wolf Lepenies den jetzt in London lebenden Schriftsteller Mario Vargas-Llosa: "Wann wurde er zum politischen Schriftsteller? 'Ende der fünfziger Jahre, als Sartres Schlagwort von der 'engagierten Literatur' Karriere machte. Da war viel Naivität mit im Spiel - wir glaubten damals jedes Wort, das Jean-Paul Sartre schrieb. Wir waren überzeugt: Spiegelte ein Roman nur die richtige Gesinnung wider, ließ sich schreibend die Welt verändern. Die politischen Irrwege Sartres kühlten meine Begeisterung aber schnell ab.' Dennoch sieht Vargas Llosa sich selbst immer noch als engagierten Schriftsteller: 'Literatur muss für mich mehr als Unterhaltung sein. Wenn ich schreibe, möchte ich damit etwas bewirken. Darin bin ich ein Jünger Sartres geblieben!'"

Eckhard Fuhr würdigt den von der Würde seines Amtes durchdrungenen Bürgermeister und Grußwortschreiber Klaus Wowereit: "Als es jetzt seines Amtes war, ein Grußwort an die internationalen Gäste eines Berliner Treffens der schwulen Fetisch-Szene zu richten, schrieb er nicht: 'Nun fickt euch mal schön das Hirn aus dem Leib, wir Berliner haben dafür jedes Verständnis', sondern: 'Das erste Septemberwochenende steht ganz im Zeichen von Lebensfreude pur. Berlin ist eine tolerante und weltoffene Metropole'."

NZZ, 31.08.2005

Joachim Güntner spöttelt über die engagierten Literaten, die in diesem Wahlkampf ihre Verehrung für Kanzler und Staat zu entdecken scheinen: "Der Literat als Staatsfreund, den der Altlinke Peter Rühmkorf verblüfft in sich entdeckte, begegnet uns bei Michael Kumpfmüller in seiner jüngeren Gestalt. Es gehe ihm, sagt er (Ähnliches sagt Juli Zeh über die ihr im Grunde unbekannte sozialdemokratische Idee), erst einmal gar nicht so sehr um die SPD oder um Rot-Grün, 'sondern dass ich allmählich - das hat auch mit dem Älterwerden zu tun - erfasse, dass dies mein Staat ist, der jetzt bestimmten Gefährdungen unterliegt'. Seltsame Verschiebung der Fronten: Auf der rot-grünen Seite treten uns parteipolitisch engagierte Autoren wie Musterknaben aus der Staatsbürgerkunde entgegen, doch kein Schriftsteller weit und breit, der sich für das klassische bürgerliche Lager, vertreten durch CDU und FDP, so stark exponieren möchte, wie Grass & Co. dies tun."

Weiteres: Marli Feldvoss gibt einen Ausblick auf das Filmfestival Venedig, das heute mit Tsui Harks Martial-Arts-Spektakel "Seven Swords" eröffnet. Besprochen werden Bücher, darunter Tim Parks Roman "Weißes Wasser", Ljudmila Ulitzkajas Roman "Ergebenst, Euer Schurik" und eine Studie zum "Augsburger Religionsfrieden" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 31.08.2005

Jan-Hendrik Wulf interpretiert einen Essay von Slavoj Zizek in "Lettre International", in dem der slowenische Philosoph in einem Verriss die dritte Star-Wars-Episode "Die Rache der Sith" analysiert. Zizek gelange "zur Einsicht, dass auch das vermeintliche Böse dem Wertneutralen vorzuziehen sei. Die wundersame Rückverwandlung des guten Anakin in den bösen Darth Vader ist für Zizek eine 'Popform des Buddhismus': 'Er verwandelt sich in Darth Vader, weil er den Dingen verfällt. ? Das macht ihn gierig. Und wenn man gierig ist, dann ist man auf dem Weg auf die dunkle Seite, weil man etwas zu verlieren fürchtet.' Woraus schon einmal erhellt, warum ein gewählter Politiker, anders als der Stellvertreter Gottes oder der Dalai Lama, in einer asketischen Männergesellschaft wie dem Jedi-Orden nichts verloren hätte und man über Schröders termingerechte Nobelpreisnominierung nur herzhaft lachen kann."

Weiteres: Brigitte Werneburg stellt die letzte Station der großen Bernd-und-Hilla-Becher-Retrospektive im Hamburger Bahnhof in Berlin vor. Cristina Nord beginnt ihre Berichterstattung von den Filmfestspielen in Venedig mit Betrachtungen über das "vermeintlich verborgene asiatische Kino". Sebastian Moll wundert sich über die einjährige Verspätung, mit der das literarische Amerika den 20. Todestag von Truman Capote sowie seinen 80. Geburtstag nun plötzlich doch noch würdigt.

Und hier Tom.

FAZ, 31.08.2005

Konrad Schuller hat pünktlich zum Jubiläum der Solidarnosc den Visionär und Schwadroneur Lech Walesa in Danzig besucht und bringt ein launiges, am Ende aber auch feierliches Porträt mit: "Auf die Frage nach der Existenz einer Schicksalshand, die Männer wie ihn in Stunden des Kampfes führe, schoss er das 'Ja!' hervor wie die Pistolenkugel, wenn der Abzug gelöst wird. Hier verglich er seine Führungskraft mit der eines Lenin, Stalin oder Kim Il-sung, dort prophezeite er, wenn in der globalisierten Welt erst die Chinesen kämen, dann äßen die jeden Grashalm. - Und weil sie alle barfuß gingen, könne keiner sie hören. 'Ich scherze', schloss der Präsident."

György Konrad begeht das Holocaust-Mahnmal in Berlin und notiert seine Impressionen:"Das städtische Leben schluckt das vielleicht größte Monument der Welt. Ganz dennoch nicht. Auch dem Werk gelingt es, die Umgebung an sich zu reißen. Denn dem Besucher wird der Schock, der schön langsam kommt, kaum erspart. 'Was ist das? Wo bin ich?' Alle Worte sind in uns, stehen nicht geschrieben auf dem Stelenwald, wir haben sie mitgebracht."

Weitere Artikel: Andreas Rosenfelder beobachtet, wie sich der Gesundheitsexperte Karl Lauterbach als Bundestagskandidat für die SPD schlägt. In der Leitglosse spießt Dirk Schümer einige Skandälchen und Intrigen im Vorfeld der heute beginnenden Mostra von Venedig auf. Edo Reents gratuliert dem Sänger Van Morrison zum Sechzigsten. Eleonore Büning meldet, dass Eiji Oue, der einen verunglückten "Tristan" dirigierte, nicht wieder in Bayreuth tätig werden will. In der Kolumne "Entrümpelung" plädiert der Unternehmensberater Hendrik Leber für eine ersatzlose Abschaffung der Bundesagentur für Arbeit. Oliver Tolmein stellt eine von der Unesco geplante "Universelle Erklärung über Bioethik und Menschenrechte" vor. Jordan Mejias erzählt, wie die Amerikaner Jahr für Jahr die Hurrikane verdrängen, die sie dann durch schieres Wiederkommen doch wieder daran erinnern. Gina Thomas schreibt zum Tod des konservativen Vordenkers der Thatcher-Jahre Maurice Cowling. Und Eleonore Büning gratuliert dem Geiger Itzhak Perlman zum Sechzigsten.

Auf der Medienseite schildert Stefan Niggemeier, wie der Sender Premiere die Free-TV-Rechte an der Champions League nutzen will, um fürs Bezahlfernsehen zu werben. Die letzte Seite bringt einen Vorabdruck aus Roman Herzogs neuem Buch "Wie der Ruck gelingt". Dirk Schümer berichtet, dass Daniel Libeskind ausgerechnet in Padua ein Mahnmal für den 11. September gestalten wird. Und Jürg Altwegg schildert einige burleske Episoden aus der Kampagne um Michel Houellebecqs neuen Roman - alle für den Figaro und Zeitungen des Dassault-Konzerns geplanten Anzeigen werden wegen unbilliger Berichterstattung auf die Tierzeitschrift Chiens 2000 umgebucht.

Besprochen werden Santiago Lozas Film "Extrano", ein Konzert Cecilia Bartolis zum Auftakt ihrer Deutschland-Tournee und ein Rückblick auf Op-Art und Kinetik in Straßburg.

Berliner Zeitung, 31.08.2005

In seiner Kolumne "Unterwegs" besucht Arno Widmann unter anderem eine Wahlkampfveranstaltung in Berlin: "Dr. Norbert Reuter, ein schmaler Mann Mitte dreißig, hat einen knallroten Kopf bekommen. Er schämt sich. Er hat die Klassenfrage vergessen."

Tagesspiegel, 31.08.2005

Christina Tilmann resümiert die verkürzte Amtszeit von Kulturstaatsministerin Christina Weiss: "Es sei normal, so Weiss, dass nach drei Jahren erste Erfolge zu vermelden seien. Die Novellierung des Filmförderungsgesetzes, die Medienfonds, die Reform der Deutschen Welle zählen dazu. Doch vieles bleibt auf halbem Wege stecken: Ungelöst sind die Probleme des deutschen Theatersystems samt seiner verkrusteten Tarifstrukturen sowie der Berliner Gedenklandschaft mit ihrem geplanten Stiftungsdach, von auswärtiger Kulturpolitik wie den 'Beutekunst'-Verhandlungen gar nicht zu reden."

FR, 31.08.2005

Marcia Pally träumt in einem Flatiron-Letter von einem Weltjugendtag der Aufklärung unter der Schirmherrschaft von Superstar John Locke. "Mag die Stimmung an diesen Gedenkstätten ernst sein, überall sonst rockt die Aufklärung! 'Wir sind hier, weil Typen wie JL I. und B I. uns Hoffnung geben', sagte ein junger Mann aus Königsberg namens Immanuel Kant. B I. ist unter den Pilgern der Spitzname für Benedikt Spinoza, der an diesem Wochenende auch eine Ansprache halten wird. 'Nach den Schrecken des vergangenen Jahrhunderts', sagt Immanuel K. mit Bezug auf die europäischen Religionskriege, 'zeigen uns diese Typen eine Alternative. Sie reden von Dingen wie Kontrolle der Regierung, Religions- und Pressefreiheit.'"

Weiteres: Daniel Kothenschulte freut es, dass Festivalleiter Marco Müller die heute anlaufenden Filmfestspiele in Venedig nicht nur zum üblichen "globalen Art House-Forum" macht, sondern auch Persönliches einbringt, etwa die Liebe zum östlichen Kino. Thomas Medicus hat für Times mager in der Berliner Kneipe "Ständige Vertretung" bei den für die SPD trommelnden Schriftstellern wie Eva Menasse (mehr) und Michael Kumpfmüller (mehr) Einiges an "geistiger Verwirrung" erlebt. Stefan Keim bilanziert die bisherigen Veranstaltungen der Ruhrtriennale und entdeckt neben Romantik und Industrialisierung ein weiteres Thema: die Rückkehr zum Glauben.

Besprochen werden politische Bücher, darunter Andrea Strunks "eindringliche" Erinnerung an das Massaker von Beslan und John W. Meyers Buch über die Fiktion einer "Weltkultur" aus westlichen Werten (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 31.08.2005

Thomas Steinfeld grübelt über den Willen zur deutschen Elite (vielleicht in fünfzig Jahren), den aufgegebenen Bildungsgedanken für alle und das Ende der freien Universität. "Die kommende Universität wird wieder eine praxisbezogene, eine unmittelbar durch den gesellschaftlichen Bedarf definierte sein, eine gigantische Einheit von Kameralistik und Callcenter."

Jeanne Rubner sekundiert mit einer Darstellung des ineffizienten französischen Bildungssystems mit seiner "aberwitzigen" Elitenförderung, das in den "grandes ecoles" 30 Prozent der Mittel auf vier Prozent der Schüler verwendet. Susan Vahabzadeh bricht eine Lanze für Marco Müller und sein "spektakuläres" Programm für die Kinofestspiele in Venedig, die heute abend beginnen. Dirk Peitz tummelt sich auf Ibiza, dem Las Vegas der Tanztouristen. Katharina Wulffius berichtet von einer höchst vitalen Diskussion über Bioethik, die internationale Studenten in Mannheim geführt haben. Klaus Lüber beschäftigt sich mit der Tatsache, dass Computerdaten kaum zu löschen sind. "skoh" meldet, dass ein Paar der berühmtesten Schuhe der USA gestohlen wurden, Judy Garlands Rote Schuhe, die sie in dem Film "Der Zauberer von Oz" getragen hatte. SZ-Wahlbeobachter Alfred Dorfer veranstaltet eine Ideologiequiz.

Auf der Medienseite besucht Christina Maria Berr die ehemalige Moderatorin Bärbel Schäfer, die jetzt einen "Zopfmädchenroman" geschrieben hat.

Besprochen werden ein Auftritt der österreichischen Show-Bläsertruppe Mnozil Brass im Rahmen der Ruhr-Triennale in Bochum, Chris Nahons düsterer Film "Das Imperium der Wölfe" mit Jean Reno, der vierte Teil der Zombie-Serie von George A. Romero "Land of the Dead", eine Ausstellung zum 50. Todestag Willi Baumeisters im Hamburger Bucerius Kunstforum, eine Lesung von Thomas Braschs nachgelassenen Texten über den Mädchenmörder Karl Brunke im Jüdischen Museum, und Bücher, Astrid Schmidt-Burkhardts "umwälzende" "Stammbäume der Kunst" zur Entwicklung der Avantgarde sowie Nicole Müllers Roman "Kaufen!" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).