Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.09.2005. SZ und FR beschäftigen sich weiterhin mit dem in Flut und Chaos untergehenden New Orleans. Die FAZ spürt einen Hauch von Nordkorea durchs deutsche Fernsehen wehen. In der NZZ reist Bora Cosic in ein bedrohlich aufgerissenes Serbien. Die Welt hat sich von Andre Glucksmann überzeugen lassen: Der Hass existiert. Und die taz spekuliert über die Zukunft der Bundeskulturstiftung

FAZ, 03.09.2005

Das TV-Duell Schröder-Merkel wird kein Duell, nicht einmal ein Drama, baut Gerhard Stadelmaier in der Randglosse falschen Hoffnungen vor: Draufgehen werde da niemand. "Es werden nur zwei völlig harmlose, undramatische Leutchen, ein abgewrackter, grauer Kanzler-Zausel und ein etwas nervöses Kandidaten-Füllen, im Abenddämmerfernsehstudioschein beieinanderstehen und sich total belanglose Sachen sagen, die jedermann schon lange bis zum Überdruss kennt und die sie sich sonst auch immer sagen und deren Sagerei völlig folgenlos sein wird." Stefan Niggemeier erwartet dagegen "Einen Hauch von Nordkorea" angesichts der Entscheidung diese "Sagerei" auf allen Kanälen zu übertragen.

Andreas Rossmann war im nun endlich eröffneten Max-Ernst-Museum und verspürte bei all den Vexierbilder, Albtraumlandschaften, Mythologien und Angstträumen eine geradezu "kosmische Heiterkeit". Angesichts der Meldung, dass ein Teil der Berliner Kochstraße nun in Rudi-Dutschke-Straße umbenannt wird, wendet Martin Otto ein, dass weder für Willy Brandt noch für Heinrich Albertz ein solcher Aufwand betrieben wurde.

Andreas Platthaus preist anlässlich der neuen FAZ-Comic-Reihe Jerry Siegels und Joe Schusters Meisterwerk "Superman". Beim Filmfest in Venedig hat Dirk Schümer Filme von Manoel de Oliveira und Jaume Balaguero gesehen. In der Entrümpelungsreihe knöpft sich Jürgen Kaube die Filmförderung vor, die er, wenn überhaupt, nur noch als Standortförderung gelten lassen möchte: "Wenn Filme nicht Güter privaten Konsums sind, dann sind sie, wie in vielen Fällen der geförderten Produkte, Güter privaten Nichtkonsums." Jürgen Dollase stellt in seiner Kolumne "Geschmackssache" die neue spanische Gourmetzeitschrift Apicius vor. Robert von Lucius resümiert das von Esa-Pekka Salonen auf die Beine gestellte Ostsee-Festival.

Auf den Seiten der ehemaligen Tiefdruckbeilage erinnert Henning Ritter an den großen Arthur Koestler, der vor hundert Jahren geboren wurde. Zu lesen ist Felicitas von Lovenbergs Laudatio auf Amos Oz anlässlich der Verleihung des Goethe-Preises.

Besprochen werden George A. Romeros "Land of the Dead" ("als Zombiefilm solides oberes Mittelmaß, als misanthropischer Actionfilm mit Zombies ganz vorzüglich", findet Dietmar Dath), Terry Gilliams Halluzination "The Brothers Grimm" ("so etwas wie 'Fear and Loathing in Old Germany', übersetzt ins Esperanto des elektronischen Bilderbuchs" erklärt Jordan Mejias), eine Ausstellung zu "Fünfzig Jahre documenta" im Kasseler Fridericianum, das Abba-Musical "Mamma Mia" in Köln, eine neue Aufnahme von Mendelssohn Bartholdys "Elias"-Oratorium, Arvo Pärts neue Komposition "Lamentate" sowie neue Platten von Jaguar Wright und Keren Ann. Und Bücher, darunter A.L. Kennedys neuer Roman um eine Trinkerin "Paradies" und Thomas Lehrs "42" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 03.09.2005

Zum ersten Mal seit seiner Emigration nach Deutschland im Jahr 1992 ist der Schriftsteller Bora Cosic nach Serbien gereist: Seine Eindrücke schildert in der Beilage Literatur und Kunst: "Weshalb sind die Straßen unserer früheren Städte so uneben, die Trottoirs so grob aufgewühlt? Es gibt bereits viele erneuerte Fassaden, die Trümmer des vergangenen Krieges verschwinden langsam, Sonnenschirme tauchen vor den Cafes auf und Blumenmotive auf den Kleidern der Mädchen, irgendwo summt irgendeine Musik, aber die Fahrbahn, auf der wir gehen, die Bürgersteige, auf denen wir entlangspazieren, sind gefährlich aufgesprungen, verwandelt in unzählige Löcher und bedrohliche Risse. Das wiederholt sich von Stadt zu Stadt, im gesamten Alaska unserer Reise. Wie ein Merkmal, ein allgemeines, des Lebens dort, diese Aufgewühltheit des Bodens, auf dem die Menschen gehen. Als wären die Bewohner selbst mit Spitzhacken in den Händen aus ihren Häusern gekommen und wie rasend auf den Bürgersteig losgegangen, obwohl ihnen dieser nichts zuleide getan hat. Als hätte sich der ganze Gram und der ganze Hass dieser Menschen, deren Schicksal oft so brutal vernichtet wurde, über diese Oberfläche ihres Lebens ergossen."

Ansonsten werden in der Beilage Bücher besprochen, darunter etliche Publikationen zur Arktis, zur Kybernetik, Karl Markus Gauß' Reiseessays "Die versprengten Deutschen" und Michael Maars Untersuchung "Lolita und der deutsche Leutnant" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Im Feuilleton stellt Friedrich Dieckmann zur Situation in Ostdeutschland fest: "Die Lage ist von Grund auf brüchig." Rolf Urs Ringger berichtet vom Septembre musical in Montreux-Vevey am Genfer See. Besprochen werden Christina Viraghs Stück "Chaostheorie" in Luzern, eine Ausstellung des bulgarischen Künstlers Nedko Solakov im Kunsthaus Zürich und Elsa Morantes Erzählungen "Das heimliche Spiel".

Welt, 03.09.2005

In der Literarischen Welt fragt der Publizist Matthias Horx, woher eigentlich das Schreckensbild des Klons stammt: "In der Natur kommen Klone ständig vor, ohne daß das Universum auseinander bricht (ich kenne eineiige Zwillinge, die mit ihrem klonierten Dasein auf raffinierte Weise spielen). Andererseits hat der Klon auch etwas Lächerliches. 'Wenn eine Generation geklonter Einsteins geschaffen würde, könnte das nur im Chaos enden', bemerkte Ernst Mayr, der große Evolutionsbiologe, einmal trocken.100 Hitlers hätten nicht die Nazi-Weltherrschaft bedeutet, sondern eine planetare Lachnummer. Warum fürchten wir uns so?"

Hannes Stein empfiehlt dringend Andre Glucksmanns Buch "Hass. Die Rückkehr einer elementaren Gewalt": "Vielleicht ist dies hier sein bedeutendstes Buch seit der "Philosophie der Abschreckung", jedenfalls ist es sein zornigstes. Der führende Kopf der 'nouvelles philosophes' - also jener französischen Linksradikalen, die ihren Solschenizyn gelesen haben, um sich danach von allen totalitären Utopien zu verabschieden - sagt etwas sehr einfaches: Den Hass gibt es. Und die Versuche, ihn wegzuerklären (etwa indem man ihn rationalisiert, ihn zur vielleicht übertriebenen, aber berechtigten Reaktion auf eine vorangegangene Kränkung erklärt, ihn verniedlicht) stoßen mit hartem Schlag gegen die Wirklichkeit: Der Hass existiert."

Weiteres: Ein leider nicht genannter Autor erinnert an den vor hundert Jahren geborenen Arthur Koestler. In seiner Kolumne "Klartext" schreibt Tilman Krause über die Freuden des Bildungserlebnis.

TAZ, 03.09.2005

Katrin Bettina Müller spekuliert über die Zukunft der Bundeskulturstiftung (Website) unter einer wahrscheinlichen konservativen Regierung: "Auf jeden Fall haben Hortensia Völckers bisher keine Signale erreicht, die mehr repräsentative Events, mehr Hochkultur, mehr Absicherung des Bestehenden statt Anstoß für neue Strukturen und mehr Bespielung prominenter Orte von der Stiftung wünschen. Dennoch ist vorstellbar, dass sich die Gewichte verschieben könnten, wenn die Mittel der Stiftung mehr in Anspruch für kompensatorische Leistungen genommen werden: da einzuspringen, wo Länder und Kommunen an der Kultur einsparen. Bisher hat sie dem programmatisch entgegengesteuert."

Weitere Artikel: In ihrem Bericht von den Filmfestspielen in Venedig schreibt Cristina Nord über Ang Lees schwules Western-Melodram "Brokeback Mountain" und den Überraschungsfilm: "Takeshi's" von Takeshi Kitano mit mehreren Takeshi Kitanos. Sabine Leucht stellt den vom Arbeitsamt finanzierten Theaterverein inkunst e.V. vor.

Besprochen werden die Retrospektive der Künstlerin Martha Rosler in Berlin und der brasilianische Film "O homem que copiava".

In der zweiten taz schreibt Robert Misik in der Reihe "Auch nicht mehr das, was sie mal waren?" über die Kritisch-Solidarischen: "In den Zeiten, als linke Orthodoxie und Nichtorthodoxie noch fließend ineinander über gingen, war, neben Sektierer und Dogmatiker, eine weitere Figur stilbildend: die des solidarischen Kritikers oder kritischen Solidarischen. Der solidarische Kritiker hielt Distanz - und doch nahezu jeder linken Sache die Treue." Und Misik bekennt: "Dennoch, wenn ich kurz persönlich werden darf: Ich ticke immer noch altmodisch kritisch-solidarisch. Ich bin in diesem Wahlkampf sogar extrem kritisch-solidarisch. Ich bin kritisch-solidarisch mit der SPD. Ich bin kritisch-solidarisch mit den Grünen. Und ich bin kritisch-solidarisch mit der Linkspartei."

Weitere Artikel: Reichlich geschmacklos findet Robin Alexander angesichts der Katastrophe in New Orleans die Benzin-und-Trittin-Wut-Kampagne der Bild-Zeitung. David Denk war bei der Vorstellung des Pflegeheim-kritischen Buches "Abgezockt und totgepflegt" zugegen.

Im taz mag berichtet Maria G. Baier-D'Orazio über brutalste Vergewaltigungen, die im Kriegsalltag des Kongo an der Tagesordnung sind: "Seit über zehn Jahren wird der Osten des Kongo von kriegerischen Auseinandersetzungen heimgesucht. Seit über zehn Jahren werden dort Frauen von Soldaten und Milizionären bedroht, genötigt, vergewaltigt, verschleppt, in sexueller Sklaverei gefangen gehalten. Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen haben die Strukturen dieser Gewalt recherchiert und aufrüttelnde Berichte darüber veröffentlicht. Meist gipfeln ihre Schlussfolgerungen in der Forderung, die Täter vor Gericht zu stellen. Niemand zweifelt ernstlich daran, dass vergewaltigte Frauen die Täter bestraft sehen möchten. Doch für Kongolesinnen gibt es noch eine andere Realität."

Weitere Artikel: Gesine Kulcke schreibt über die zunehmende Verschiebung vom Strafvollzug zum Maßregelvollzug. Aus einem Hoyerswerda nach der Kohle berichtet Susanne Götze. Im Interview gibt Joey DeMaio Auskunft, der Chef von Manowar, der laut Guinness-Buch lautesten Band der Welt.

Rezensionen gibt es zu Azar Nafisis Erfahrungsbericht "Lolita lesen in Teheran", die Studie "Für eine Kultur der Differenz", die die Berichterstattung alternativer Medien untersucht, der schlagwortkritische Sammelband "Wir kündigen! Und definieren das Land neu". Literarisches: Inka Pareis Roman (Leseprobe) "Was Dunkelheit war", Jugendromane von Sarah Weeks und An Na, der Band "Die Hölderlin Ameisen", in dem Lyriker erzählen, wie ihnen Gedichte einfallen. (Mehr dazu in der Bücherschau des Tages.)

Und Tom.

FR, 03.09.2005

Peter Iden erinnert sich an das untergegangene New Orleans, und zwar mit William Faulkners Hilfe: "Von den großen Romanen des Dichters bringt die aktuelle Katastrophe besonders einen in Erinnerung, The Wild Palms: Es ist die Geschichte einer verheerenden Flut des über seine Ufer getretenen Mississippi, die als Naturgewalt metaphorisch gleichgesetzt wird mit der nicht weniger verheerenden Leidenschaft, durch die der Assistenzarzt Harry und die verheiratete Charlotte weggerissen werden aus den ruhigen Bahnen des Lebens, das sie bis dahin geführt hatten."

Weitere Artikel: Beim Filmfestival von Venedig hat sich Daniel Kothenschulte mit dem Überraschungsfilm von Takeshi Kitano amüsiert - und Ang Lees schwuler Western "Brokeback Mountain" sowie George Clooneys zweite Regiearbeit "Good Night, and Good Luck" haben ihm auch gefallen. Silke Hohmann informiert über das Kulturprogramm zur Fußball-WM. Die Preisträger des "Preises der Nationalgalerie für Junge Kunst" stellt Elke Buhr vor. Sandra Danicke berichtet über den Verleihdienst für moderne Videokunst "E-flux video rental". Daniel Bartetzko war bei einem Vortrag der Architektin Annette Gigon, die die Meinung vertritt, dass Architektur nicht Kunst sein kann. Dorothee Baer-Bogenschütz gratuliert dem Kunsthistoriker Jochen Sander zum Erhalt des Johann-David-Passavant-Preises.

Besprochen werden der biedere Ausklang der "Jazz im Palmengarten"-Saison mit Chico Freeman und Antonio Farao und ein Konzert des New York Philharmonic Orchestra in der Alten Oper.

Das Magazin - schön bunt und schlecht navigierbar auf ePaper - hat heute unter anderem ein Interview mit dem Krimi-Schriftsteller Andrea Camilleri und einen Bericht über das Roald-Dahl-Museum zu bieten.

SZ, 03.09.2005

In New Orleans, meint Andrian Kreye, stößt die amerikanische Zivilgesellschaft an ihre Grenzen. Er erinnert an eine ähnliche Katastrophe vor achtzig Jahren - und ihre Folgen: "Es bleibt abzuwarten, wie die amerikanische Wählerschaft auf das Versagen in New Orleans reagiert. Die Flut von 1927 war ein entscheidender Faktor, dass Huey Long 1928 die Wahl zum Gouverneur von Louisiana und Herbert Hoover 1929 die Wahl zum Präsidenten gewannen. Mit ihnen kamen zwei hartnäckige Kämpfer gegen die Armut ins Amt. Ob das derzeitige Versagen der Bundesregierung zu politischen Veränderungen führt, ist noch schwer abzuschätzen." Zum selben Thema: Unkommentierte Zahlen und Daten zum Unglück, die Relationen herstellen zum Tsunami wie zum Irak-Krieg.

Weitere Artikel: Tobias Kniebe fragt, ob mit dem neuen HDTV-Fernsehen die mediale Zweiklassengesellschaft entsteht. Harald Eggebrecht stellt das in Hameln eröffnete multimediale Projekt "Erlebniswelt Renaissance" (Website) vor. Die Markteinführung von Sonys "PlayStation Portable" kommentiert Jürgen Schmieder. Vorabgedruckt wird ein Essay des Autors Daniel Kehlmann über das Schreiben eines historischen Romans. Ijoma Mangold erklärt, dass Matthias Polityckis (mehr) in der letzten Ausgabe der Zeit erschienenen Aufsatz "Weißer Mann - was nun?" der "ultimative Abgesang auf das Abendland" ist. Von der Vorstellung des Kultur-Rahmenprogramms der Fußball-WM berichtet Benjamin Henrichs. Der österreichische Kabarettist Alfred Dorfer setzt seine Deutschland-Wahlkampf-Feldforschungen fort. Hermann Unterstöger erzählt die Geschichte einer jüngst wiederentdeckten Bach-Arie. Die Geschichte des nun aufgetauchten einzig bekannten Fotos von Vincent Van Goghs Schlafzimmer erzählt Stefan Koldehoff. Eine Reihe von Artikeln ist er Eröffnung der Auktionssaison gewidmet.

Besprochen werden das neue Stones-Album "A Bigger Bang", Jonathan Notts konzertanter "Tristan" mit den Bamberger Symphonikern in Edinburgh, Konstantin Faigles Film "Die große Depression", Hubertus Siegerts Dokumentarfilm "Klassenleben" und die Ausstellung zum Berliner "Preis der Nationalgalerie für junge Kunst".

Literatur: Eine einzige Rezension, zu einem von Jürgen Trabant herausgegebenen Band über die "Sprache der Geschichte" (dazu mehr in der Bücherschau des Tages).

In der SZ am Wochenende schreibt Annette Rammelsberger über die Angst des Politikers vor dem Volk: "Als SPD-Chef Franz Müntefering vergangenen Sommer plötzlich von Rechtsradikalen eingekreist wurde - da muss er sie gefühlt haben, die Angst. Nie würde Müntefering es so nennen. 'Schwummrig' sei ihm geworden angesichts der Aggression, sagt er heute. Das ist für einen wie ihn bereits eine massive Gefühlsbekundung."

Weitere Artikel: "Zwei Wochen vor der Bundestagswahl kann es nicht verkehrt sein, über den Staat nachzudenken" - meint Klaus Podak. Und also denkt er über den Staat nach, mit Platons und Aristoteles' Hilfe. In der Reihe "Sprachatlas Deutsch" schreibt der Autor Feridun Zaimoglu über seinen toten Lieblingsonkel. Benjamin Henrichs zeigt sich in gleich zwei Artikeln völlig vom Fernseh-Wahlkampf gefesselt. Sven Siedenberg stellt das "World Orchestra for Peace" vor. Im Interview spricht der Biolloge Prof. Dr. Dr. Hanns Hatt über den "Geruch": "Es ist wissenschaftlich nachweisbar, dass bei der Beurteilung eines Menschen sein Duft eine Rolle spielt."