Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.09.2005. In der taz wettert Marlene Streeruwitz gegen das große Welttheater von Salzburg. In der SZ schreibt der ägyptische Schriftsteller Ahmed al-Aidi über die völlig sinnlosen Wahlen in seinem Land. In der FAZ fordert Reiner Klingholz, über Menschen genauso viel wissen zu dürfen wie über Topfchrysanthemen. In der NZZ beklagt Charles Simic mangelnde Solidarität in den USA. In der FR erklärt Jean-Noel Jeanneney, Direktor der Pariser Bibliotheque Nationale, warum er nach Victor Hugo nicht bei Google Print suchen möchte.

TAZ, 07.09.2005

Die taz glänzt heute mit einem Text der unvergleichlichen Marlene Streeruwitz über das große Welttheater in Salzburg: "Die Festspiele sind ein Kontakthof der Macht. Waren das immer. Sollten das sein. Vielleicht ist beim Dinner nach der Traviata-Premiere die Idee entstanden. Zwischen Fischgang und Sorbet. Dass Heinrich von Pierer im Team von Angela Merkel mitmachen könnte. Und über die Wahlhilfe des österreichischen Bundeskanzlers für die CDU/CSU. Da kann dann genauer darüber geplaudert werden. Da kann man sich offener äußern. Da ist man weich und gerührt von der edlen Geschichte dieser Edelprostituierten. Da lässt man sich von einer schönen, skandalumwitterten Russin die Prostituierte auf der Bühne vorsingen. Draußen. In den Puffs von Salzburg und Umgebung. Da geht der Frauenhandel weiter. Um den Mythos von der edlen Prostituierten einmal mehr zu erschönern."

Weiteres: Cristina Nord registriert beim Filmfest von Venedig eine gewisse "Lust an der Maßlosigkeit und am Spektakel". Brigitte Werneburg bespricht die Retrospektive des kanadischen Fotokünstlers Jeff Wall im Schaulager Basel.

Und noch Tom.

FAZ, 07.09.2005

Reiner Klingholz, der Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, plädiert lautstark für eine Volkszählung. Denn: "Angenommen, Sie interessierten sich für die Anbaumengen von Topfchrysanthemen bei deutschen Zierpflanzenproduzenten oder für den Bestand an Gänsen, Enten und Truthühnern in landwirtschaftlichen Betrieben - kein Problem... Wer allerdings wissen möchte, wo in der Republik welche Migranten leben, welchen Krankenstand sie haben, wie es in den Kommunen um die Betreuung der unter Dreijährigen bestellt ist oder wie viele Personen kinderlos bleiben, muss lange suchen und wird wenig finden." Klingholz, selbst ein Gegner der Volkszählung der 80er Jahre, verweist auf die USA oder die Niederlande, wo die entsprechenden Daten gesammelt werden und für jedermann einsehbar sind.

Weiteres: Aus Russland berichtet Kerstin Holm über ein ihren Informationen zufolge verbotenes Buch über tschetschenische Selbstmordattentäterinnen: Julia Jusiks "Die Bräute Allahs". Ursula Rautenberg war auf der Internationalen Buchmesse in Peking und hat unter anderem von einer deutsch-chinesischen Kooperation erfahren, die Very Important Books unters chinesische Volk bringen will. Bei den Filmfestspielen von Venedig hat Michael Althen zwei schöne Filme gesehen, einen von John Turturro und einen von Patrice Chereau - und stöhnt trotzdem: "Das Problem sind die Filme, die dazwischen liegen." In der entsprechenden Serie wird weiter entrümpelt, heute das "Politikerprivileg": Der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim packt an.

In Sachen Liebe des Kanzlers zu seiner Ehefrau dekretiert Gerhard Stadelmaier: "Privatsachen gehören nicht in die Öffentlichkeit." Christian Schwägerl hat wiederum Angela Merkel dabei beobachtet, dass sie leider auch zur Rolle der Frau in der Gesellschaft ganz allgemein keine klare Meinung haben will. Paul Ingendaay klärt uns darüber auf, dass mit dem Abschied Inaki Gabilondos vom Radio in Spanien eine Ära zuende geht. Bei der Rennwoche in Iffezheim hat Judith Lembke "die Feinheiten sozialer Schichtung" sowie Michelle Hunziker beobachtet. Außerdem gibt es einen Nachruf auf den französischen Komponisten Luc Ferrari.

Der Untergang von New Orleans hat die amerikanischen Medien über die politischen Zugehörigkeiten hinweg an ihre Kritikfunktion erinnert, beobachtet Nina Rehfeld auf der Medienseite. "Von CNN bis Fox News ließen viele Journalisten angesichts der Zustände jede Zurückhaltung fahren." Und Dietmar Dath preist lang und laut die amerikanische Science-Fiction-Serie "Firefly" (mehr), die allzu früh eingestellt wurde - und jetzt ein Comeback im Kino feiern wird.

Besprochen werden Konzerte der Bamberger Symphoniker beim "Edinburgh International Festival", der Neubau des Museums für estnische Kunst inTallinn und die Eröffnungs-Inszenierungen der neuen Intendanz am Wiener Volkstheater, von Johann Kresnik und Christoph Marthaler. Und Bücher: Iris Hanikas Erzählungen "Musik für Flughäfen" und der Briefwechsel zwischen Otto und Edwig Hintze (mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 07.09.2005

"400 Millionen Euro, verteilt auf drei Jahre, finanziert aus Brüssel und den einzelnen Ländern, das wäre ein guter Anfang." Der Präsident der Pariser Bibliotheque Nationale de France, Jean-Noel Jeanneney, erläutert Martina Meister im Gespräch, wie das Projekt einer virtuellen, europäischen Bibliothek ausgestattet sein müsste und warum er bei Google print nicht nach nationalen Dichtern suchen möchte. "Die ersten zehn Bücher sind mit großer Wahrscheinlichkeit auf Englisch. Bei Victor Hugo stoßen sie nicht auf L'homme qui rit', sondern 'The man who laughs', was nicht sehr komisch ist, selbst wenn man sich für Übersetzungen interessiert. Ich verlange ja kein Monopol für unseren Blick, ich will nur, dass er nicht untergeht."

Weiteres: Das Berliner Stadtschloss kann entgegen früheren Verlautbarungen nur unter größten finanziellen Risiken wieder aufgebaut und betrieben werden, folgert die interdisziplinäre Stadtplanergruppe "Urban Catalyst" aus einer Analyse (pdf) der unter Verschluss gehaltenen Machbarkeitsstudie des Bauministeriums. Gunnar Tausch fasst die Ergebnisse zusammen. Georg-Friedrich Kühn zeigt sich vom neu gestalteten klassikbetonten Musikfest Berlin wenig beeindruckt. "Der schmale Etat erlaubt wenig mehr als ein Mitmarschieren im internationalen Gastspielbetrieb." Hans-Jürgen Linke nimmt es Angela Merkel in times mager nicht krumm, dass sie sich bei ihren Schlussworten im Fernsehduell an Ronald Reagan orientiert hat. Auf der Medienseite untersucht Tilmann P. Gangloff das Saisonprogramm von RTL und Sat 1.

Spiegel Online, 07.09.2005

Online zu lesen ist jetzt auch der Text von Elke Schmitter über Martin Walser, seine Opferhaltung und den vermeintlichen Antisemitismus in seinem Werk: "Wer trotzt, trauert nicht. Walser hat sein Lebenswerk den kleinen Leuten gewidmet, den Kristleins und Zürns der deutschen Provinz; später, seit 'Die Verteidigung der Kindheit', den Übergangenen der Geschichte wie Alfred Dorn und dem Ministerialbeamten Fink. Sein Schreiben kreiste immer um die Empfindung des Mangels, um das Gefühl, ein Opfer zu sein: der Umstände, der Intrigen von Kollegen, des Hochmuts der Chefs und schließlich der Historie. Seine Protagonisten scheitern in der Welt, doch sie behaupten sich im Selbstgespräch - sie trotzen ihrem Schicksal in Gedanken. Und sie brauchen so viele Sätze, um ihr von außen kaum sichtbares Leid plausibel zu machen." (Mehr zur neuen Debatte um Martin Walser hier).

NZZ, 07.09.2005

Wütend kommentiert der amerikanische Dichter Charles Simic die Geschehnisse rund um New Orleans und den mangelnden sozialen Zusammenhalt der USA: "Wenn amerikanische Journalisten nun betonen, wir seien alle Teil der Nation, egal, welcher Klasse und Rasse wir nun zufällig angehören - dann ist das nur eine weitere schöne Fabel, die uns zum Trost verabreicht wird. Sogar die breite Welle von Mitleid mit den Flutopfern wird früher oder später versanden. Schon jetzt fürchte ich, dass ihre Gesichter bald wieder aus den Tagesaktualitäten verschwinden. Kein Land wird gern an seine Schattenseiten erinnert, und wir machen da keine Ausnahme. Zudem wird es weitere Katastrophen, weitere Hurrikane und anderlei Zerstreuungen für das Publikum geben. Wo Bilder fehlen - das wissen wir inzwischen -, da können sich Stumpfheit und eine schreckliche Ignoranz breit machen; und mit ihnen die schönen Lügen, die unser Tagesgeschehen verbrämen, so dass dahinter die vom Schicksal Geschlagenen nicht länger sichtbar sind."

Vom bisherigen Programm des Filmfestivals in Venedig kann Marli Feldvoss "nur Gutes" berichten: "Schon in den ersten Tagen zeichnete sich ein überdurchschnittlich guter Jahrgang ab, wenn man vom Eröffnungsfilm, 'Seven Swords' des Hongkong-Regisseurs Tsui Hark, einmal absieht. Die Geschichte über mordlüsterne mittelalterliche Kopfgeldjäger ging ohrenbetäubend und säbelrasselnd, doch ohne nachhaltiges Echo auf den Lido nieder. Hingegen hat der erste Wettbewerbsfilm, 'Good Night. And, Good Luck', George Clooneys zweite Kinoregie, gleich hohe Maßstäbe gesetzt."

Besprochen werden ein Konzert mit Lorin Maazel und den New Yorker Philharmonikern beim Lucerne Festival und Bücher, darunter eine Studie zu Mussolini als Hitlers Förderer, Hans Thills Gedichtband aus England "Wozu Vögel, Bücher, Jazz?" und Josef Skvoreckys Jazzgeschichten (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr)

SZ, 07.09.2005

Heute sind die Ägypter aufgerufen, ihren Präsidenten zu wählen. Der Schriftsteller und Fernsehmacher Ahmed al-Aidi schildert die Stimmung in seinem Stammcafe. "Die meisten sind überzeugt, dass die Wahl völlig sinnlos ist, weil das Ergebnis längst feststeht. Jemand sagt: 'Gott herrscht im Himmel und Mubarak auf der Erde.' Ein anderer: 'Und dazwischen Amerika.' Wir haben nie einen anderen Präsidenten erlebt als unseren geliebten Mubarak, und wir werden vielleicht nie einen anderen kennen lernen. Wer einmal in die Kloake gefallen ist, heißt ein Sprichwort, der kann nie wieder etwas riechen."

Holger Liebs erzürnt den Fotografen Wolfgang Tillmans, als er ihm im Gespräch über seinen neuen Band "Truth Study Center" eine Schnappschuss-Ästhetik nachsagt. Einfach so fotografiert keiner durch eine zerkratzte Flugzeugscheibe. "Im Flieger muss ich auf der sonnenabgewandten Seite sitzen. Ich muss den Bereich abdunkeln, von wo aus ich fotografiere, weil sonst Reflexionen auf der Scheibe auftauchen. Dann benutze ich eine ganz offene Blende, die keine Tiefenschärfe hat, so dass das Fenster nicht scharf erscheint. Ich darf nicht so sitzen, dass ich in den Abgasstrom der Düse hineinfotografiere, sonst entstehen Hitzeschlieren. Ich nenne beim Einchecken fast immer schon die genaue Platznummer, dritte Reihe von hinten, Platz A, so etwa."

Weitere Artikel: Die Komponistin Isabel Mundry unterrichtet Jürgen Otten im Interview über die Universalität ihres Musiktheaterstücks "Ein Atemzug - Die Odyssee", das heute abend an der Deutschen Oper Berlin erstmals aufgeführt wird. "Odyssee ist etwas, dem wir nicht entrinnen können, egal für welche Lebensform wir uns entscheiden." Nach New Orleans hat die Kritik von Medien und Prominenten an der US-Regierung deutlich an Fahrt aufgenommen, weiß Andrian Kreye. Alexander Menden meldet, dass William Turners "Fighting Temeraire" das offiziell beliebteste Bild der Briten ist. Gemeldet wird auch, dass der Heidelberger Kunsthistoriker und Ostasienexperte Lothar Ledderose mit dem Balzan-Preis (Wikipedia) ausgezeichnet wurde. Renate Klett stellt das japanische Phänomen der "Takarazuka Revue Company" vor, eine 1913 gegründete Theatertruppe,die nur aus Frauen besteht. SZ-Wahlbeobachter Alfred Dorfer hat das TV-Duell in einer Leipziger Kneipe goutiert.

Auf der Literaturseite wird Carlos Fuentes' (mehr) Eröffnungsrede zum 5. Internationalen Literaturfestival in Berlin abgedruckt. Fuentes verteidigt den Roman als Bastion der Wahrheit, die heute ebenso vonnöten ist wie zu Cervantes' Zeiten. Denn "auch wir sehen uns einer entwürdigten Gesellschaft gegenüber, die in unser Leben einsickert, uns umgibt und uns fortwährend abverlangt, auf das Passieren der Geschichte mit der Passion der Literatur zu antworten." Im Medienteil mutmaßt Christopher Keil über die Auswirkungen der Spielplanänderungen, die im DFB gerade ausgetüftelt werden. Peter Fahrenholz stellt "serviceplan" vor, die natürlich in München beheimatete Werbeagentur der CSU.

Besprochen werden Jim Jarmuschs "zärtliches" Roadmovie "Broken Flowers" mit Bill Murray, das Album "Für die nicht wissen wie" der Kölner Band "Erdmöbel", und Bücher, Azar Nafisis "gefälliger" Bericht "Lolita lesen in Teheran" sowie "KlarsichtHüllen", ein Zwiegespräch zwischen Burkhard Spinnen und Eberhard Posner über Sprache in der Wirtschaft. (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).