Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.09.2005. Die NZZ ist entsetzt über die Todesdrohungen gegen den ägyptischen Intellektuellen und Islamtheoretiker Sayyid al-Qimni. In der FAZ porträtiert Julia Jusik den tapferen russischen Abgeordneten Aleksandr Torschin. Die FR fragt sich, warum deutsche Politikerinnen wie Männer aussehen wollen. Und die SZ lauscht verzückt Windgöttern, antiken Junkies und Menschenfresserriesen in Isabel Mundrys Oper "Ein Atemzug - die Odyssee".

NZZ, 09.09.2005

Der ägyptische Intellektuelle und liberale Islamtheoretiker Sayyid al-Qimni hat sich überraschenderweise öffentlich von seinen Schriften distanziert, in denen er den Islam als geschichtlichen und damit unterschiedlich interpretierbaren Text behandelt, berichtet Fakhri Saleh. Grund war eine Todesdrohung via E-Mail der Fundamentalisten. Qimnis Kollegen sind besorgt. "Ahmad Abdul Muti Hijazi, zurzeit einer der berühmtesten ägyptischen Lyriker, schrieb in der Tageszeitung 'Al-Ahram', dass sich nun offenbar illegale terroristische Formationen anmaßen könnten, die Menschheit in 'Gläubige' und 'Ungläubige' aufzuteilen und darüber zu bestimmen, was zu sagen oder zu schreiben erlaubt sei. Hijazi sieht al-Qimnis Rückzug als eine traurige Farce, ein zynisches Manifest, das letztlich zum Ausdruck bringe, wo die Araber am Beginn des 21. Jahrhunderts stünden."

Weiteres: Nach vier Jahren ist das Kunsthaus Zürich nun fast fertig saniert. Samuel Herzog fühlt sich in den "elegant und wohnlich restaurierten Kabinetten und Sälen" schon ganz heimisch. Auf der Filmseite schreibt Marc Hairapetian zum hundertsten Geburtstag der Schauspielerin und einstigen femme fatale Claudette Colbert. Im Medienteil weiß "snu" von Steven Bochcos Fernsehserie "Over There" über die Soldaten im Irak, dass die sehr realistische Darstellung des Krieges die Zuschauer eher abschreckt. Auf der IFA in Berlin registriert S. B. das noch zögerliche Zusammenwachsen von Computertechnik und Unterhaltungselektronik, stellt Handys fürs Musikhören vor und präsentiert die "Rosinen" der Unterhaltungssparte.

Besprochen werden George A. Romeros Zombiefilm "Land of the Dead", Kazushi Watanabes Groteske "19", Ron Howards Boxerstreifen "Cinderella Man", Pawel Pawlikowskis Mädchenliebe "My Summer of Love", die Ausstellung "Directions" über neue Bieler Architektur in der Salle Poma des Centre PasquArt, die Uraufführung von Isabel Mundrys Oper "Ein Atemzug - die Odyssee" an der Deutschen Oper in Berlin ("Alles andere als eine Literaturoper", versichert Georg-Friedrich Kühn) sowie zwei Vorstellungen Kurt Masurs mit dem London Philharmonic Orchestra auf dem Lucerne Festival (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 09.09.2005

Sandra Kegel referiert die Ergebnisse einer Studie von Meike Dinklage mit dem Titel "Der Zeugungsstreik" - die darauf hinweist, dass oft genug die Männer der Grund für Kinderlosigkeit in Deutschland sind: "Häufiger als diesem Typus des Totalverweigerers begegnete Meike Dinklage jenen 'Später vielleicht'-Männern, bei denen sich die Kinderlosigkeit einfach eingeschlichen hat. Sie hegen keinen gesteigerten Pessimismus gegen die Welt wie noch in den achtziger Jahren, als man die Umweltverschmutzung zur Begründung gegen Nachwuchs bemühte, oder die Folgen der Globalisierung in den Neunzigern. Diese Männer verschleppen die Vaterschaft, schieben den Gedanken auf, sind sich nicht sicher, ob sie wirklich Nachwuchs wollen."

Die russische Journalistin Julia Jusik ("Die Bräute Allahs") berichtet über den tapferen russischen Abgeordneten Aleksandr Torschin, der als Parlamentarier für die Aufklärung vieler Ungereimtheiten rund um das Massaker von Beslan zuständig ist, mit seinen unangenehmen Fragen aber auf zunehmend taube Ohren stößt. "Wenn man alle Puzzleteile der Tragödie von Beslan zusammenfügt, dann bietet sich in der Tat ein erschreckendes Bild. Dann sieht es so aus, als ob Beslan absichtlich als 'Fehlschlag' geplant war mit einer hohen Zahl an Opfern. Dann sieht es so aus, als ob das grauenhafte Chaos, das die Sicherheitsorgane und Soldaten nach der Erstürmung der Schule angerichtet haben, nötig war, damit die Angreifer entkommen (wir hatten das schon in der russischen Geschichte, man denke an Budjonnowsk oder Kisljar) und russische Soldaten anonym den Befehl erhalten konnten, die Schule mit Flammenwerfern und Panzern zu beschießen."

Weiteres: Aus Venedig berichtet Michael Althen von französischen Filmen von Laurent Cantet und Philippe Garrel, die beide zeigen, "warum es keine Koexistenz von Sex und Politik geben kann." Und Dirk Schümer fragt, ob Venedig das "nächste New Orleans" werden könnte. In der Reihe der Wahlkampfreportagen hat Judith Lembke Hans Eichel morgens um halb sechs an den Kasseler VW-Werktoren beobachtet. Hannes Hintermeier hat die wieder eröffnete Schrannenhalle am Münchner Viktualienmarkt besucht.

Über Geisterseherisches und Medien im Umfeld Edmund Husserls informiert Frank-Rutger Hausmann. Andreas Rossmann verabschiedet die traditionsreiche Kölner Buchhandlung Lempertz. Andrea Oster berichtet, dass Stephen Hawking seinen Sprachcomputer nur noch mit Hilfe seiner Augen steuern kann. Glossiert wird die Auseinandersetzung zwischen Gerhard Richter und seinem Biografen. Dazu gibt es einen Nachruf auf den Geiger Rudolf Koeckert.

Besprochen werden die Berliner Uraufführung von Isabel Mundrys Oper "Ein Atemzug - Die Odyssee" und Cyril Tuschis Film "SommerHundeSöhne" und Bücher, darunter gleich drei Reisebücher von Cees Nooteboom, Andre Glucksmanns Studie über "Hass" und eine Geschichte der Litfasssäule (mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr.)

FR, 09.09.2005

Condoleeza Rice tritt als kesse "Läuferin" auf, Madeleine Albright als herrschaftliche Lady und Angela Merkel - als "zuverlässige Haushälterin". Hannelore Schlaffer mokiert sich teils recht böse über den schlechten Geschmack der deutschen Politikerinnen, stellt das spezifisch deutsche Phänomen aber auch als notwendige Reaktion auf die gesellschaftlichen Erwartungen hierzulande dar. "Die deutschen Politikerinnen, die einer halben Nation vormachen, wie sich der Traum von der Emanzipation verwirklicht hat, vertreten am allerwenigsten das Ideal der emanzipierten Frau - und gerade deshalb sind sie emanzipiert. Sie haben begriffen, dass sich ihr Aussehen der männlichen Erscheinung anpassen muss, dass sie jegliches weibliche Signal, jegliche modische Spielerei aufzugeben haben. Sie leisten dieselbe Arbeit wie Männer, und wenn irgend Sein und Schein zusammenhängen, so haben sie auch auszusehen wie Männer."

Weiteres: "Wir müssen in dieser traditionslosen Stadt, sie ist gerade 150 Jahre alt, neu beginnen." Hansgünther Heyme, frischgebackener Leiter des Theaters im Pfalzbau, erklärt Peter Michalzik, wie er das Theater in Ludwigshafen reanimieren will. In Times mager fordert Karl Grobe nach der wirtschaftlichen nun auch eine verstärkte kulturelle Zusammenarbeit zwischen Russland und Deutschland. Im Medienteil berichtet Harald Keller von dem Gerangel um die Neubelegung der Kabelplätze in Niedersachsen. Besprochen wird einzig und allein die Uraufführung von Isabel Mundrys Oper "Ein Atemzug - die Odyssee" an der Deutschen Oper Berlin "Neuartige Wege geht sie, zwischen Oper, Konzert und Tanz: ein lohnender Versuch", bilanziert Georg-Friedrich Kühn).

TAZ, 09.09.2005

Daniel Bax stellt die guten, Rot-Grün-kompatiblen Rapper aus Berlin vor, die "Posterboys der gelungenen Integration": Culcha Candela (Website). Thomas Winkler schwärmt vom "schönstmöglichen Gitarrenpop" der New Yorker Band Nada Surf und ihrem neuen Album "The Weight Is A Gift". Detlef Kuhlbrodt hält es für einen unbedingten Vorteil des Wahlomaten der Surfpoeten, dass er im Gegensatz zum Wahlomaten der Bundeszentrale für politische Bildung auch die "lustigen Kleinparteien" berücksichtigt. Cristina Nord bemerkt erste Anzeichen der Melancholie beim allmählich zu Ende gehenden Filmfest in Venedig. Besprochen wird Cyril Tuschis Spielfilmdebüt "SommerHundeSöhne".

Und hier noch TOM.

SZ, 09.09.2005

Großen Jubel erntete Isabel Mundry an der Deutschen Oper Berlin für ihre uraufgeführte Oper "Ein Atemzug - die Odyssee". Wie Reinhard J. Brembeck findet, völlig zu Recht: "Ob Mundry nun von den Rindern des Helios erzählt, von den Lotophagen, diesen antiken Junkies eines süßen Vergessenheitskultes, vom Windgott Äolus oder von Menschenfresserriesen wie Lästrygonen oder Kyklop - nie lässt sie sich zur platten Handlungsverdoppelung herab. Sie schreibt vielmehr eine Vielzahl meist kurzer Orchestermeditationen, die sich eines ruhig ausschwingenden und sich geradezu ins Unendliche verästelnden Klangkosmos versichern. Sicherlich ist Mundrys Ansatz auf den ersten Blick hochmütig intellektuell." Aber nicht auf den zweiten, versichert Brembeck: "Denn Mundry produziert mit ihren nie aufgeregten, nie die Regionen des Aparten, Hysterischen oder Provokanten aufsuchenden Klängen ein eigenständiges Pendant zu Homers Text, in dem sich archaische Elemente mit Alltäglichem, Übernatürlichem und streng Aristokratischem mischen."

Und wieder einmal werde - nach Babylon, Troja, Sodom und Gomorrha - einer Stadt selbst die Schuld an ihrem Untergang gegeben, meint Petra Steinberger mit Blick auf New Orleans. "So wird die von Menschen gebaute Stadt zu einer eigenständigen Gestalt, die die Wesenszüge der jeweils für schuldig Gehaltenen annimmt: als Stadt der Händler, als Stadt der Sünder, als Stadt der Schwarzen, Stadt der Kriminellen, der Faulen, des Laisser-faire. Bürgerliche Moralisten fallen über sie her ebenso wie puristische Ökologen und Kapitalismuskritiker. Ein seltsamer Hass bricht sich Bahn auf das, was man Zivilisation nennt."

Weiteres: Arne Boecker besucht Angela Merkels "schön-schaurigen" Wahlkreis im Norden Mecklenburg-Vorpommerns. Ijoma Mangold glossiert "ständische Reflexe" im Wahlkampf. Jens Bisky berichtet von neuem Streit um David Chipperfields Pläne zur Restaurierung des Neuen Museums, die der Gesellschaft Historisches Berlin nicht originalgetreu genug sind.

Gestern wurde die Shortlist des britischen Man Booker Prize bekannt gegeben. John Banville, Julian Barnes, Sebastian Barry, Kazuo Ishiguro, Ali Smith und Zadie Smith sind drauf, nicht aber John M. Coetzee, Salman Rushdie und Ian McEwan. Die Literaturseite widmet sich mit Texten aus den USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland der Frage, wie man erfolgreich Literaturpreise lanciert - oder auch nicht.

Besprochen werden Wes Cravens Flugangst-Thriller "Red Eye", die Ausstellung "50 Jahre Documenta" in Kassel, die Douglas-Gordon-Schau "The Vanity of Allegory" in der Deutschen Guggenheim und Adalbert Stifters Erzählung "Brigitta" als Hörbuch (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

Welt, 09.09.2005

Michael Pilz erinnern die Beschwerden der amerikanischen Rapper über die Benachteiligung des schwarzen Bevölkerungsteils bei den jüngsten Überschwemmungen an die Jahrhundertflut vom April 1927, die den "Blues als Popmusik" und dann den Rock'n Roll zeitigte. "Bereits im Februar sang Bessie Smith den 'Back Water Blues' (Text) in Anbetracht des Dauerregens, was sie Wochen später in den Rang der Seherin erhob. Blind Lemon Jefferson befasste sich in seinen Klageliedern obsessiv mit Schlamm und Wasser. Verzweifelt rief Charlie Patton 'High Water Everywhere' (Text), was Bob Dylan 2001 dazu trieb, 'High Water' (Text) aufzunehmen, einen Song, den er ausdrücklich Patton widmete. Und Memphis Minnie greinte 'When the Levee Breaks' (Text und kurze mp3) der Dammbruch wurde 40 Jahre später von Led Zeppelin wieder bejammert."