Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.09.2005. In der SZ erklärt Günter Grass, warum er für die Rot-Grünen stimmt. "Ein starkes Stück" findet Frank Schirrmacher in der FAZ, wie Paul Kirchhof aus seinen eigenen Reihen gemobbt wird. In der FR beschreibt der israelische Historiker Tom Segev, wie Tel Aviv über Jerusalem triumphierte. In der Berliner Zeitung lästert Regisseur Peter Stein über seine lieben Kollegen. In der taz entdeckt Georg Seeßlen in Bach die "Antwort auf die Niedergeschlagenheit in Mitteleuropa".

FAZ, 14.09.2005

Die schlechten Nachrichten zuerst: Auf der Medienseite wird gemeldet, dass das Internet-Angebot der New York Times ab nächsten Montag nicht mehr vollständig kostenlos ist (hier die Ankündigung der NY Times).

Frank Schirrmacher wirft sich in die Bresche für Paul Kirchhof und attackiert den politischen Betrieb: "Die Causa Kirchhof füllt das Vakuum eines politischen Diskurses, der entweder nicht sagt, was er will, oder nicht weiß, was er will oder wollen darf. Seitdem er von der Partei, der er nicht angehört hat, aber auf ihre Bitte beigesprungen ist, so sonderbar allein gelassen wird, betrifft dies längst nicht mehr die Regierungsparteien allein. Die kann man sogar bewundern dafür, dass es ihnen ein weiteres Mal gelang, aus einem Arzt einen Giftmischer zu machen. Aber dass ein Mann des Wortes und des Geistes aus den eigenen Reihen gleichsam exemplarisch zum professoralen Phantasten gemacht wird, das ist ein starkes Stück."

Weitere Artikel: Vom Streit der Schriftsteller ums politische Engagement, das sich an einem Email-Aufruf mit dem Titel "Unterschreiben!.doc" entzündete, berichtet Richard Kämmerlings: "Es ist merkwürdig: In diesem Wahlkampf lehnen sich diejenigen am weitesten aus dem Fenster, die für die geringsten Veränderungen eintreten und die kleine Münze der 'schmerzhaften Reformen' in beschwörende Appelle wechseln. Wer - wie Uwe Timm oder Ingo Schulze - die WASG ins Spiel bringen will oder - wie Burkhard Spinnen oder Tanja Dückers - jede 'Verhaftung' für politische Lager oder Personen ablehnt und Utopien und Zukunftsvisionen für den genuinen Wahlbezirk des Schriftstellers hält, ist dagegen kaum zu hören."

Heinrich Wefing kommentiert die Tatsache, dass die Giftliste aus dem Hause Eichel, die auch die Abschaffung der Bundeskulturstiftung vorsieht ("entbehrlich"), jetzt mal wieder keiner verantworten mag. Kerstin Holm freut sich: "Endlich gibt es nun auch in Moskau ein Deutsches Historisches Institut". Schlicht für "informationsfrei" hält Jürgen Kaube den jüngsten OECD-Bildungsbericht. Kurz und knapp entrümpelt Götz Aly in der entsprechenden Reihe das "Kindergeld bis siebenundzwanzig". Als Institution mit durchaus glorreicher Vergangenheit und krisen- und skandalgeschüttelter Gegenwart stellt Alexandra Kemmerer die UNO vor. Andreas Rossmann berichtet von einer sicherheitskraftgeschützten Lesung des Autors Michel Houellebecq in Köln. Camilla Blechen erinnert an den Babylon-Ausgräber Robert Koldewey. Dazu gibt es Nachrufe auf den Lyriker und Übersetzer Henryk Bereska und den "Schauspielmusiker" Hansgeorg Koch.

Besprochen werden Christian Petzolds "märchenhafter" neuer Film "Gespenster", das Konzert von "Wilco" in Hamburg, eine Ausstellung mit neuen Bildern von Gottfried Helnwein im Schloss Oberhausen und konzertante Aufführungen von Janaceks Opern "Sarka" und "Jenufa" in Berlin.

Rezensiert werden Daniel Katz' Roman "Treibholz im Fluss" und Peter Niesens philosophische Studie "Kants Theorie der Redefreiheit" (mehr in der Bücherschau des Tages).

TAZ, 14.09.2005

Große Filmkritik mit Georg Seeßlen: Er wertet den neuen Film "Gespenster" von Christian Petzold entgegen meist anders lautenden Einlassungen als einen "glücklichen Film". Und schreibt dabei zu Beginn seines Textes wohl Rezensionsgeschichte: "Die Antwort auf die Niedergeschlagenheit in Mitteleuropa ist Johann Sebastian Bach. Seine Musik öffnet einen hohen Raum über dem Elend. Als Materialist könnte man wohl sagen, dass sie erklärt, dass es keine 'Privatsachen? gibt. Man kann natürlich auch Transzendenz sagen. Jedes Bewegungsbild, das mit der Musik von Johann Sebastian Bach verbunden wird, erhält eine zweite Räumlichkeit, eine euphorische Gewissheit (so wie man mit Schubert, zum Beispiel, dem Film eine zweite Bewegung verleihen kann). Es gibt Kino-Bilder, die ohne Bach nicht zu ertragen wären."

Weiteres: Martin Zeyn bespricht den letzten Comic des Anfang des Jahres verstorbenen Zeichners Will Eisner, der sich in "Das Komplott. Die wahre Geschichte der Protokolle der Weisen von Zion" mit der Frage nach den Wurzeln des Antisemitismus beschäftigt. Und Daniel Bax kommentiert die Neuorganisation der Sammlung, die das Ethnologische Museum in Berlin jetzt mit der Ausstellung "Kunst aus Afrika" präsentiert, die bereits über eine Million Brasilianer gesehen haben.

Und hier Tom.

FR, 14.09.2005

In einem Interview spricht der israelische Historiker Tom Segev über die Bedeutung des Abzugs der Israelis aus dem Gaza-Streifen. Zum Vorwurf, Sharon habe den Zionismus zerstört, den die Linke respektive die Siedler moralisch erneuern wollten, sagt er: "Was wir derzeit beobachten, ist ein Konflikt zwischen grundsätzlichen Werten, eine Art Kulturkampf, in dem sich die verschiedenen Ansätze des Zionismus spiegeln. Einer ist der mehr originale: pragmatisch, realistisch und kompromissbereit. All das, was der Zionismus bis 1967 vertrat. Seitdem hat sich aber ein neuer Zweig herausgebildet, eine messianisch, religiöse, ideologische Form." In der Konsequenz hätten jedoch "die pragmatischen rationalen Israelis über die messianischen Siedler gesiegt. Wenn man so will, hat Tel Aviv Jerusalem geschlagen, die 5000 Jahre alte, auf Fels gebaute Stadt. Tel Aviv ist gerade hundert Jahre alt, zudem auf Sand gebaut. Sie verkörpern zwei Welten, die eigentliche Teilung in Israel. Einen Großteil der israelischen Gesellschaft hat die Räumung kaum tangiert. Sie hat dadurch kein Trauma davon getragen, nur die Siedler."

Weiteres: Thomas Medicus berichtet vom "internationalen literaturfestival berlin" . Besprochen werden die Uraufführung von Moritz Eggerts neutestamentarischem Fußball-Oratorium "Die Tiefe des Raumes" in Bochum und eine Retrospektive auf Max Bill im Kunstmuseum Stuttgart. Außerdem Bücher, darunter Hans Ulrich Treichels neuer Roman "Menschenflug", eine "anstrengende Poetologie" von Josef Czernin (hier) und der erste "gültige Roman" über den 17. Juni 1953 von Erich Loest (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 14.09.2005

"Ich liebe den Staat", bekennt Hortensia Völckers, Direktorin der Bundeskulturstiftung, in einem Gespräch mit Eckard Fuhr und Uta Baier. Verständnis zeigt sie für Finanzminister Hans Eichel, in dessen Haus eine Streichliste kursieren soll, die auch die Abschaffung der Kulturstiftung vorsieht: "Ein Finanzministerium, das nicht auch eine solche Liste hat, ist sein Geld nicht wert. Wir haben es im Stiftungsrat mit einer bunten Politikerrunde zu tun und ich habe dort Kontinuität und ein auf Inhalte konzentriertes Arbeiten erlebt. In der Kulturpolitik gibt es zwischen den Parteien im Allgemeinen Konsens. Natürlich existieren Nuancen."

NZZ, 14.09.2005

Mit einer Prise Schadenfreude registriert Karolina Dankow die Aufregung, die das Kunstforum Ostdeutsche Galerie mit einer Ausstellung polnischer Gegenwartskunst nach Regensburg gebracht hat. In der ehemaligen Schnupftabakfabrik gehen die jungen Künstler auch gegen einen Intimfeind vor, die katholische Kirche. "Wo seit dem Fall des kommunistischen Regimes die katholische Kirche mit nicht minder harten Bandagen gegen subversive Positionen ankämpft, hat die zeitgenössische Kunst mitunter einen schweren Stand. Das Resultat sind Überwachung und Zensur. So wurde zum Beispiel die ebenfalls in der Ausstellung vertretene Dorota Nieznalska, eine ehemalige Schülerin Klamans, 2003 zu sechs Monaten gemeinnütziger Arbeit verurteilt, nachdem sie ihr Werk 'Passion' (mehr) ausgestellt hatte. Dieses bestand aus einem Leuchtkasten in Form eines Kreuzes, auf dem männliche Genitalien abgebildet waren. In der Regensburger Ausstellung ist die Künstlerin mit einer Videoinstallation vertreten, die sie selbst nackt in betender Position zeigt."

Weiteres: Leider unverlinkt schwärmt Christine Wolter vom festivalletteratura, dem Literaturfest in Mantua. Ansonsten herrscht das Rezensionsfeuilleton: Besprochen werden ein nicht durchweg überzeugendes Gastspiel der Wiener Philharmoniker beim Lucerne Festival, ein Film und eine Ausstellung über den Schriftgestalter Adrian Frutiger (der nicht nur die "elegant-kühle Univers", sondern auch die die "griffige Frutiger" geschaffen hat) in der Aargauer Kantonsbibliothek, und Bücher, darunter die Erinnerungen des jüdischen Historikers Simon Dubnow sowie Jacques Derridas "mit bemerkenswerter Verspätung" nun auch in Deutsch vorliegender Reise- und Kongressbericht "Rückkehr aus Moskau" über seinen zehntägigen Aufenthalt in der sowjetischen Hauptstadt 1990 (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 14.09.2005

Der Theatermacher Peter Stein macht aus seinem Herzen keine Mördergrube und verrät Ulrich Seidler gerne seine Meinung über die Kollegen: Christa Wolf ("Wie hieß die noch, die auch etwas über Medea zusammengeröchelt hat?"), Frank Castorf ("kreativer Minderwertigkeitskomplex") und Peter Zadek, der jetzt zu Tom Stromberg aufs Land zieht, um seine eigene Kompagnie zu gründen. "Das mit Stromberg wird nicht lange halten. Der hielt mich und das Faust-Projekt für eine Designer-Handtasche, die er für sein armseliges Expo-Programm brauchte. Die Theater werden gerade übernommen von solchen Typen, die nicht wissen, was ein Ensemble ist, die nie mit Schauspielern gearbeitet haben."

SZ, 14.09.2005

Zu lesen ist eine gekürzte Fassung der Rede, die Günter Grass zu Wahlkampfzwecken für Gerhard Schröder derzeit in einigen Städten hält. "Ich stimme für die Rot-Grünen, weil sie uns vor Krieg bewahrt und den Mut zu schwierigen und schmerzhaften Reformen bewiesen hat, und weil wir weit und breit nicht Besseres haben. Ich stimme für die Sozialdemokraten, weil sie auf Seiten der sozial Schwachen stehen und uns vor dem Absturz in amerikanische Klassenverhältnisse zu schützen wissen."

In der Textreihe "Der große Graben" über das Ende der Konsensgesellschaft beschäftigt sich Willi Winkler heute mit dem Kampf "Arm gegen Reich". "Der Abbau des Sozialstaats mag eine wirtschaftliche Notwendigkeit sein, es beginnt aber damit eine unverhoffte Revolution. Die Besitzenden fürchten den Makel der Armut nicht weniger als die Armen und sind deshalb entschlossen, den Gesellschaftsvertrag aufzukündigen. Anders als es die Romantiker seit Babeuf erwartet haben, ist heute eher mit einer Rebellion der Reichen gegen die Ärmeren zu rechnen."

Drei Beiträge diskutieren den "Fall Chodorkowskij als Modell": Margareta Mommsen beschreibt, wie der Kreml die Gerichte zur "Knebelung" von Oppositionellen benutzt. Daniel Brösler sieht einen Selbststilisierung Chodorkowskijs als "Erbe adliger Zaren-Gegner". Und Sonja Zekri kommentiert "Kriminalität als Kultur" in einem Land, in dem jeder vierte Hafterfahrung habe.

Weitere Artikel: Johan Schloemann kommentiert den Streit um Paul Kirchhof. Ijoma Mangold informiert über die Übernahme von DVA, Manesse und Kösel durch Random House. Dirk Peitz berichtet von der Popkomm Berlin, auf der es eher "gesichtslos, lustlos und ratlos" zugehe. In einem Interview spricht Patrick Wagner, der Gründer von Louisville Records, einem der "innovativsten" Independent-Labels in Deutschland, über den "langen Atem" kleiner Labels. Andrian Kreye berichtet, wie Politiker aus Louisiana um die Filmindustrie werben. Gewürdigt wird der verstorbene Architekturzeichner Helmut Jacoby. Und auf der Medienseite beklagt Hans Leyendecker in einem weiteren Nachruf auf Erich Kuby den "Verlust der großen Alten" im Journalismus.

Auf der Schallplattenseite geht es heute um die "Glaubensfrage", auf welchem Instrument ein Komponist gespielt werden müsse, genauer: Hammerklavier oder moderner Flügel. In zwei Beiträgen debattieren Reinhard J. Brembeck und Jürgen Otten die Frage, in einem Interview spricht sich der Pianist Gerrit Zitterbart klar für den Hammerflügel aus, auf dem er gerade Sonaten und Fantasien von Mozart eingespielt hat, und besprochen wird eine Einspielung von Beethovens Klavierkonzerten in der originalen Kammerbesetzung. Besprochen werden des Weiteren Christian Petzolds Film "Gespenster" und Bücher, darunter zwei Bände über Ernst Litfaß, den Erfinder der gleichnamigen Säule (siehe dazu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).