Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.09.2005. In der SZ malt sich Georg Klein aus, wie Tick, Trick und Tück ihrer Tante im Kanzleramt das Leben schwer machen. Die FAZ geht mit Günter Grass auf Tour für die Espede und gegen das arrivierte Feuilleton. Die NZZ beschreibt, wie China den Nachwuchs an Internet-Zensoren ausbildet. Die Welt registriert eine gestiegene Nachfrage an antisemitischer Literatur auf der Moskauer Buchmesse. Und die FR empfiehlt, Hubert Fichte in einer Hamburger Bahnhofskneipe zu lesen.

NZZ, 16.09.2005

China besitzt das umfassendste und technologisch ausgeklügeltste Internet-Filtersystem der Welt, wie Jürgen Kahl aus einer umfassenden Studie der Open Net Initiative erfährt. Nachwuchs für die 50.000 Zensoren wird unverblümt per Stellenanzeige gesucht. "So im Fall eines von amtlicher Seite aufgegebenen Inserats, in dem der Job eines sogenannten Netzkommentators für das Bulletin Board System (BBS) der Universität Nanjing, die hochschuleigene Online- Pinwand, ausgeschrieben wurde. 'Hauptaufgabe studentischer Netzwerkkommentatoren ist es, über das BBS der Universität Nanjing positive Informationen zu verbreiten. Wenn sie auf Veröffentlichungen antworten, sind sie verpflichtet, negative Einträge abzuwehren oder diese zu eliminieren', heißt es da mit dem ergänzenden Hinweis, dass alle beobachteten Auffälligkeiten der Universitätsleitung zu melden seien."

Außerdem skizziert Detlef Borchers auf der Medienseite die Entwicklung der Wahlcomputer. Christian Meier kolportiert, dass das Wall Street Journal in den USA eine Wochenendausgabe plant, während in Europa und Asien das Format kompakter werden soll.

Im Feuilleton: Der Kulturhistoriker Thomas Macho gibt im Feuilleton anlässlich der orangenen Revolution der CDU einen Abriss der politischen Farbenlehre. "Wurde darum Orange seit 2004 politisiert, in der Annahme, dass diese Farbe - zumindest außerhalb der Niederlande - noch 'frei' ist? Eine Farbe, die in den Farbtrend-Prognosen für 2006, die von der einflussreichen amerikanischen Color Marketing Group herausgegeben werden, als 'hybrid color' mit der wenig schmeichelhaften Bezeichnung 'Ignorange' erwähnt wird?"

Die Qualität der Beiträge im aufgefrischten Kursbuch (Inhalt) steigt zum Ende hin stetig an, wenn man Sieglinde Geisel glauben darf. Urs Heftrich würdigt den Prager Dichter Vladimir Holan, der "Dichter für Dichter", der heute hundert Jahre alt geworden wäre.

Besprechungen gelten Nigel Lowerys teils "plakativer" Version der Oper "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" von Bertolt Brecht und Kurt Weill sowie den beiden Auftritten von Riccardo Chailly mit dem Gewandhausorchester Leipzig beim Lucerne Festival, bei denen Mendelssohn und Bruckner intoniert wurde.

FAZ, 16.09.2005

Hubert Spiegel hat den "Schneckenreiter" Günter Grass auf seiner Wahlkampfreise für die "Espede" durch die Republik begleitet. "In Hamburg scheint niemand etwas dabei zu finden, dass der Wahlkampf der ehemaligen Arbeiterpartei im Museum für Arbeit stattfindet. Aber kann man den engagierten Dichter, der sich solidarisch zeigt und Bündnisse ausruft - mit der Arbeiterklasse, mit der SPD, mit den Opfern von Stasi oder Hartz IV und nicht zuletzt mit anderen Autoren -, nicht gleich mit in die Vitrine stellen? Grass weiß, wie groß die Gefahr ist, dass er zum Symbol eines Auslaufmodells wird. Deshalb ist ihm so wichtig, dass mit Benjamin Lebert, Eva Menasse, Juli Zeh und Michael Kumpfmüller junge Autoren am Wahlkampf teilnehmen, deshalb wettert er bei jeder Gelegenheit gegen das Feuilleton, dem er vorwirft, die jungen Kollegen einzuschüchtern und ihnen das politische Engagement auszutreiben."

Weitere Artikel: Klaus Ungerer stellt fest, dass einzig die Bayernpartei und die MLPD den Lyrik-Test bestehen. Michael Gassmann wagt sich nach Freiburg, wo die grüne Vision "Stein, Geld und Macht" geworden ist. Zum Abschluss der "Entrümpelungs"-Reihe darf der FDP-Politiker Hermann Otto Solms (hier sein Wahlkampfweblog) ran, das entschlossen fordert: "Nicht ändern, abschaffen." Edo Reents gratuliert B.B. King zum Achtzigsten, Niklas Maak dem Künstler Carl Andre zum siebzigsten Geburtstag. In der Glosse wird ein wenig über Mario Adorfs angebliche Bescheidenheit gelästert, mit der er auf Tournee seinen 75. Geburtstag feiert. Kurz vorgestellt wird "Kinks"-Songschreiber Ray Davies (Wikipedia), der gerade einen Artikel über New Orleans geschrieben hat, die Stadt, in der ihm in diesem Frühjahr ins Bein geschossen wurde. Gina Thomas berichtet von britischem Streit um den Holocaust-Gedenktag. Nachrufe gibt es auf den Filmregisseur Robert Wise und den Komponisten Hans-Joachim Koellreutter. Auf der Medienseite macht Alfons Kaiser auf einen "sensationellen Boom" für Modethemen in New Yorker Zeitungen und Zeitschriften aufmerksam.

Besprochen werden das von Max Dudler entworfene Museum für die Kunstsammlung von Marli Hoppe-Ritter in Waldenbuch, die Berliner Uraufführung einer Oper nach einem Libretto des Erfolgsschriftstellers Jonathan Safran Foer und Rob Cohens Film "Stealth".

Rezensiert werden eine Werkauswahl aus den Gedichten von Roberto Juarroz und eine Studie von Marcel Krings zum Thema "Selbstentwürfe". Auf der Sachbuchseite finden sich unter anderem Besprechungen zu Texten zur Kultur aus dem Nachlass von Albert Schweitzer und eine Studie über "Ferrari" (mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 16.09.2005

Den Besuchern der Ausstellung "Hubert Fichte - Leonore Mau" in den Hamburger Deichtorhallen gibt Frank Keil folgenden Rat mit auf den Weg: "Die Ausstellung keinesfalls ohne ein Fichtebuch in der Hand betreten und genug Zeit einplanen, sich hinterher bei einem Kaffee festlesen zu können. Man wähle dabei keinesfalls das adrette Cafe am Platz, wo einem makellos jungschöne Menschen einen fotogenen Milchcafe zu servieren verstehen. Man möge bitte rüberschlappen zum Hauptbahnhof, sich zum Lesen in eine der dort gängigen 0815-Kneipen setzen, vielleicht in die Bierstube Bodega. Gewiss: Das ist ein wenig sentimental, das ist auch recht hart am Kitsch. Aber trotzdem."

Weiteres: Anneke Bokern beobachtet, wie Gijs van Tuyl als neuer Leiter des Amsterdamer Stedelijk Museums sein Haus umkrempelt. Hans-Jürgen Linke schreibt zum achtzigsten Geburtstag des Blues-Königs B.B. King. Daniel Kothenschule verabschiedet den "letzten der alten Gentlemen-Regisseure" Robert Wise. Besprochen werden die Uraufführung der Gemeinschaftskomposition von "seven attempted escapes from silence", für das Jonathan Safran Foer das Libretto geschrieben hat, und die exzeptionellen Gitarrenalben von Mattias 'IA' Eklundh.

TAZ, 16.09.2005

Die "Geburt des modernen Brasilien als exzessives Mitmachdrama" hat Eva Behrendt mit dem "Krieg im Sertao" des Teatro Oficina Uzyna Uzona aus Sao Paulo erlebt, das an der Berliner Volksbühne gastierte. Patrick Bauer stellt das neue Album "Blitzkrieg Pop" des Berliner Elektropunks T. Raumschmiere vor: "Vorpreschende Songs, grundeinfach in ihrer Übermütigkeit, bewusst versifft im Aufbau und doch klassisch." Nicht mal gut gemeint kann Tobias Rapp die Compilation "I Can't Relax In Deutschland" finden, die sich gegen die zunehmende Nationalisierung des Pop stellt.

Und noch Tom.
Stichwörter: Pop, Rapp, Tobias, Sao Paulo

Tagesspiegel, 16.09.2005

Sieben Komponisten und sieben Regisseure haben ein Libretto von J. S. Foer an der Berliner Staatsoper vertont: "seven attempted escapes from silence". Christiane Peitz bleibt das Ergebnis rätselhaft: "Am Ende weigert sich Foer, auf die Bühne zu kommen. Schüchternheit? Enttäuschung? Ärger? ... Foers sieben Opern-Episoden, wie sie da von sieben Komponisten und sieben Regisseuren realisiert werden, sind kaum wiederzuerkennen. Vielleicht erklingt ja deshalb am Anfang jeder Episode Foers Stimme vom Band, mit Passagen aus seinen Regie-Anweisungen - an die sich dann keiner hält. Bei einer Uraufführung wünschte sich selbst der Regietheater-Fan so etwas wie Werktreue."
Stichwörter: Regietheater

Welt, 16.09.2005

Jüdische und Menschenrechtsorganisationen haben gegen die Flut an antisemitischen Publikationen protestiert, die in der gerade zu Ende gegangenen Moskauer Buchmesse angeboten wurden, berichtet Manfred Quiring. "Neben zahlreichen antisemitischen Schriften wie 'Der jüdische Nazismus' oder 'Dezionisierung' wurde auch das Buch 'Rätsel der Protokolle der Weisen von Zion' vorgestellt. Darin versucht der Autor Oleg Platonow, die Echtheit der 'Protokolle' nachzuweisen, obwohl längst nachgewiesen ist, dass es sich um Fälschungen der russischen Geheimpolizei aus der Zarenzeit handelt." Der Grund für das große Angebot, meint eine Sprecherin des Russischen Jüdischen Kongresses, sei ganz einfach - die große Nachfrage.

SZ, 16.09.2005

Auf der Literaturseite imaginiert Schriftsteller Georg Klein, wie die Politikerriege mit der allgemeinen Niederlage einer großen Koalition umgehen wird. "Eigentlich wollten die Herren Stoiber, Wulff und Koch ja als böse Neffen, als Tick, Trick und Tück, ihrer Tante Angie das Leben im Kanzleramt schwer machen. Jetzt jedoch mag sich keiner vorstellen, mit den leider chronisch kanzlertreuen Roten am Kabinettstisch zu sitzen. Die drei Landesfürsten haben die Ellenbogen verhakt. So sieht ihr Schwanken halbwegs wie eine Art Schunkeln aus."

Der Musiker und Musikwissenschaftler Ned Sublette (mehr) fürchtet, dass die alternative Kultur von New Orleans den Wiederaufbau nicht überlebt. Etwa die Mardi-Gras-Indianer (mehr). "Sie sind schwer zu beschreiben, auch wenn man die Bilder kennt von ihren extravaganten, handgemachten Kostümen aus Federn, Strass und Pailletten, die entfernt an die Aufmachung von Prärie-Indianern erinnern sollen. Aber hinter den Mardi Gras-Indianern steckt mehr als Mummenschanz. 1880 sind die ersten Umzüge dokumentiert, aber die Traditionen dürften weit älter sein. Einige der Indianer-Gilden nehmen sogar Platten auf, gute Platten, und veranstalten Konzerte. Aber wer sie als reine Show-Truppe versteht, liegt falsch. Sie inszenieren so etwas wie ein heiliges Straßentheater, sie sind halb im Untergrund tätig."

Weiteres: Angesichts schrumpfender Kulturtöpfe drängt Thomas Steinfeld auf eine gezieltere Auswahl würdiger Projekte. Das reine Bereitstellen von Geldern zeitige keine Qualität. Die Kulturförderung "weigert sich, gut und schlecht, wichtig und unwichtig, wahr und falsch zu unterscheiden." Christoph Schmidt unterhält sich mit dem Theaterregisseur und ehemaligen Intendanten des Theater Basel Stephan Bachmann, der nach einer Kreativpause nun die Saison am Wiener Burgtheater mit Ferdinand Raimunds "Der Verschwender" eröffnet hat. Werner Burkhardt gratuliert Blues-Altmeister B. B. King zum Achtzigsten. Mathias Dobrinski weiß von einer Klage, in der Tom Waits Opel angeht, sie hätten einen Werbespot mit einer der seinen ähnlichen Stimme besingen lassen. Der SZ-Wahlbeobachter Alfred Dorfer rätselt über die niedrigen Bildungausgaben des fünftreichsten Landes der Welt. Fritz Göttler schreibt zum Tode des amerikanischen Filmregisseurs Robert Wise.

Im Medienteil erfährt Hans Leyendecker von Wahlkampfveteran Harry Walter, dass 2005 zum ersten Mal die Journalisten die Themen gesetzt haben.

Besprochen werden "seven attempted escapes from silence", die Uraufführungen von sieben viertelstündigen Kurzopern diverser Komponisten und Regisseure an der Berliner Staatsoper, zu denen Jonathan Safran Foer das Libretto geschrieben hat, Hermine Huntgeburths Verfilmung von Corinne Hofmanns Bestseller "Die weiße Massai" (die Martina Knoben dank Nina Hoss als Abenteuer genießen konnte), und Bücher, darunter Mary Roachs morbide Trouvaillen "Die fabelhafte Welt der Leichen" sowie James Salters Erzählband "Letzte Nacht" (mehr in usnerer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).