Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.09.2005. Die taz berichtet vom ersten großen Konzert des chinesischen Rockmusikers Cui Jian in Peking seit Jahren. Die Welt greift eine Kontroverse zwischen dem Avantgardeautor Ben Marcus und Jonathan Franzen auf. Alle sind mitgerissen von der "Macht des Schicksal" unter Michael Gielen und Stefan Herheim und weniger hingerissen vom "Wintermärchen" unter Robert Wilson in Berlin.

TAZ, 26.09.2005

1989 hatte der chinesische Rockmusiker Cui Jian den Soundtrack für die Studenten-Proteste vom Tienanmen geliefert. Jetzt hat er nach Jahren des Auftrittsverbot in Peking sein erstes Großkonzert gegeben. Georg Blume hat es besucht und dort viele ehemalige Mitstreiter getroffen. "Shen Fang ist bereits angetrunken. Er trägt das rote Hemd, das er damals auf dem Tiananmen trug. Darauf stehen Worte Cui Jians: 'Du fragst mich, was ich denke. Ich sage dir: Gehen wir gemeinsam los!' Shen hörte zu, wie Cui Jian auf dem Tiananmen spielte. Er musste sein Studium aufgeben, weil er an der Revolte teilnahm. 'Ich wäre ein Mandarin geworden. Jetzt besitze ich eine Fabrik für Motorkolben', sagt Shen."

Weiteres: Eher dekorativ als provokant findet Marcus Woeller die neuen Arbeiten von Jörg Immendorff, die in der Neuen Nationalgalerie Berlin zu sehen sind (und unter dem Motto "Die Kunst muss die Funktion der Kartoffel übernehmen" stehen). "Die vornehme Blässe erinnert nun eher an die anämische Malerei der Leipziger Schule als an kämpferisches Agitprop und provokantes Deutschtum, für die Immendorff Ruhm und Ruch erlangte." Martin Droschke trifft die Punks in Coburg, die in der dortigen Jugendszene offenbar den Ton angeben. Besprochen wird der neue Film "Das Fenster gegenüber" des italienisch-türkischen Regisseurs Ferzan Özpetec.

Und Tom.

FR, 26.09.2005

Friedrich Schirmers Auftakt als Intendant des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg ist gründlich daneben gegangen, schimpft Peter Michalzik, der sich mit Jacqueline Kornmüllers "indiskutabler" Version von Ibsens "Frau vom Meer" gar nicht anfreunden kann. Die Aufführung "ist selbst mindestens so unsensibel und grob und platt und peinlich, wie diese Ellida Wangel sein soll. Fast jeder Satz ist nicht nur falsch gedacht, sondern auch noch falsch gefühlt. Es sind dramatisierte Schablonenerregungen, die hier den Hamburgern feilgeboten werden, mal konfektioniert, um opernhafte Wallung hervorzukitzeln, mal kalkuliert auf den simplen Lacher hin, der am leichtesten immer zu haben ist, wenn die gespielte Figur denunziert wird. Dass das Regisseuren und Schauspielern und Zuschauern nicht irgendwann zu blöd wird, ist nur schwer zu verwinden."

Weiteres: Ina Hartwig verortet ihr europäisches Herz zum Auftakt der Serie "Mein Europa" irgendwo zwischen einer norddeutschen Hafenstadt, dem Spessart und einem Tal im Burgund. Christian Thomas freut sich in Times mager auf die Zuwanderungsdebatte, die die laut Maya-Kalender für 2012 erwartete Ankunft von Außerirdischen auslösen wird. Besprochen wird Stefan Puchers Inszenierung von Anton Tschechows "Onkel Wanja" im Theater Basel ("Dekonstruktion für Arme", ätzt Tobi Müller).

Auf der Medienseite findet es Peter Steinke verwunderlich, dass gerade die bisher eher klagelustigen Unternehmen die Image-Kampagne "Du bist Deutschland" auflegen. Anja Kruke entdeckt bei der Demoskopie mittlerweile einen Trend zur "Beobachtung der Beobachtung der Beobachtung".

NZZ, 26.09.2005

Heute wird rezensiert in der NZZ. Der Aufmacher gilt dem Film "Paradise Now" von Hany Abu-Assad, dem ersten palästinensischen Film über Selbstmordattentäter. Für Alexandra Stäheli ist es ein "mutiger Film, weil er versucht, seine Gedanken möglichst sachlich zur Disposition zu stellen, offen für eine (möglichst heftige) Diskussion zu bleiben - auch wenn (oder gerade weil) er seine Empathie für die beiden Protagonisten nicht verheimlicht."

Andrea Köhler hat sich "Die Reise der Pinguine" von Luc Jacquet (mehr hier) angeschaut und berichtet, dass einem "ungefähr in der Mitte des Films das Herz entzwei" bricht und christliche Konservative anlässlich des moralischen Verhaltens der Pinguine die Evolutionstheorie anfechten und die Tiere als einen "Beweis für einen göttlichen Schöpfungsplan" feiern.

Weitere Artikel: Alfred Schlienger sieht Tschechows "Onkel Wanja" im Theater Basel unter der Regie von Stefan Pucher und schlägt sich die Hände vor die Augen: "Ja, ja, wirklich alles, Leben und Theater, geht da aus den Fugen." Marianne Zelger-Vogt ist maßlos enttäuscht von Richard Wagners "Tannhäuser" im Genfer Grand Theatre ("Nein, szenisch hat diese 'Tannhäuser'-Inszenierung außer Nacktheit nicht viel zu bieten."), Martina Wohlthat resümiert das diesjährige Festival "Basel tanzt" und erkennt: "Die Euphorie der achtziger und neunziger Jahre ist vorbei." Schließlich begibt sich Paul Jandl anlässlich des zweihundertsten Geburtstages Adalbert Stifters' auf die Reise jenseits der österreichisch- tschechischen Grenze.

Welt, 26.09.2005

Wieland Freund liest einen im neuesten Harper's (leider nicht online) veröffentlichten Essay des Avantgardeautors Ben Marcus, der eine scharfe Attacke gegen Jonathan Franzen und seine Rehabilitation eines anspruchsvollen, aber den Lesern zugewandten Schreibens reitet: "Es geht gar nicht nur um Franzen. Es geht um die ganze Schule der amerikanischen 'Rekonstruktion', wie Jeffrey Eugenides das Projekt genannt hat, an dem er, Franzen, Richard Powers oder David Foster Wallace auf höchst unterschiedliche Weise arbeiten. Man könnte auch sagen: Die hohe Moderne zuckt noch, die Experimentellen rüsten zum letzten Gefecht und fahren noch einmal alles auf, was sie haben: ihren Zweifel am Realismus ebenso wie ihre Sucht nach Neuerung."

Weitere Artikel: Hanns-Georg Rodek beobachtet erste Schritte deutscher Regisseure wie Robert Schwentke, Oliver Hirschbiegel und Mennan Yapo in Hollywood. Uwe Wittstock schildert juristische Streitigkeiten um den Roman "Moskau - Petuski" des 1990 verstorbenen Autors Wenedikt Jerofejew. Johanna Merhof schreibt eine Eloge auf den deutschen Popstar Jens Friebe, der auf Tournee geht. Jörg Taszman beklagt die immer mangelhaftere Ausstattung vieler DVDs.

Besprochen werden erste Inszenierungen am Hamburger Schauspielhaus unter Friedrich Schirmer, eine DVD-Kollektion mit Steve-McQueen-Filmen, die "brillante" Inszenierung von Verdis "Macht des des Schicksals" durch den 35-jährigen Stefan Herheim an der Berliner Staatsoper und zwei "Shakespeare-Vernichtungen" in Berlin: Robert Wilsons Inszenierung des "Wintermärchens" am Berliner Ensemble und Tina Laniks Inszenierung des "Kaufmanns von Venedig" im Deutschen Theater.

Berliner Zeitung, 26.09.2005

Klaus Georg Koch genießt bei Verdis "Macht des Schicksals" an der Staatsoper Berlin die Rätselhaftigkeit wie die Sinnlichkeit der Inszenierung. "Stefan Herheims Inszenierungstechnik versucht einem Prinzip romantischer Musik zu folgen, jenem nämlich des bedeutungsvollen Fließens, der Transmutation von Bedeutungen. In dem warmen Ton, den die Staatskapelle unter Michael Gielen den Äußerungen des Privaten zu geben wusste, in den wunderbar sprechenden Soli der Holzbläser, in den kraftvoll aufrauschenden Tutti-Passagen, gemeinsam mit dem äußerst klangreich auftretenden Chor, in der Flexibilität, mit der das Orchester von einem Affekt in einen anderen wechselte, fand diese Idee der Inszenierung ihre eigentliche, musikalische Erfüllung."

SZ, 26.09.2005

Reinhard J. Brembeck applaudiert Michael Gielen, der die Verdi-Oper "Die Macht des Schicksals" an der Berliner Staatsoper so stimmig geschlossen dirigierte wie kaum jemand zuvor. "Unerbittlich wachsam ragt der große alte Dirigent weit über den Orchestergraben hinaus und begnügt sich mit sparsamen Gesten. Aber seine Blicke, die müssen furchtbar sein. Alle folgen ihnen mit traumwandlerischer Sicherheit, und so unterwirft Gielen die Partitur weniger den süffigen Gesetzen der italienischen Hm-ta-ta-Tradition als einer unerbittlich modernen Lesart. Verdi erscheint als Vorläufer Gustav Mahlers, als einer, der das Auseinanderfallende und Banale der Welt mit den großen Leidenschaften und Sehnsüchten zur Einheit zwingt. Ein radikaler Ansatz, der - natürlich - Buhrufe provoziert."

Weitere Artikel: Cord Riechelmann hat noch nichts davon gehört, dass Zugvögel sich mit der Vogelgrippe anstecken können und hält die diesbezügliche Furcht von Behörden und Bevölkerung für mittelalterlich. Burkhard Müller besingt die Erfahrung der Amerikaner mit Naturgewalten und bewundert das zähe New Orleans. "Eine europäische Stadt wäre erledigt in diesem Fall; der Schaden würde heilen wie der Schenkelhalsbruch eines Fünfundachtzigjährigen, langsam oder gar nicht."

In der Ansprache des Bundespräsidenten Horst Köhler zum 450. Jahrestag des Augsburger Religionsfriedens hätte sich Johan Schloeman ein Wörtchen zur Föderalismusdebatte gewünscht. Die Popmusik verdankt den bildenden Künsten viel, realisiert Dirk Peitz, während er die Popkonzerte von Bands mit Künstlern wie Martin Creed (mehr) oder Martin Eder (mehr) in der Frankfurter Schirn ankündigt. Cornelia Bolesch meldet Kultur- und Asterix-Festivals in Brüssel.

Literatur findet in den Provinzen statt, stellt Volker Breidecker auf der Toblacher Tagung "Mitten in Europa: Peripherie an der Peripherie" fest, die in einem ehemaligen Grand Hotel aus den Zeiten der Habsburger Monarchie in Südtirol ablief.

Besprochen werden Roberto Ciullis Inszenierung von Federico Garcia Lorcas Stück "Granadine Dichtung um das Jahr Neunzehnhundert" bei der Ruhrtriennale, Robert Wilsons "funkelnd fleischlose" Version von Shakespeares "Wintermärchen" mit dem Brecht Ensemble Berlin, die Ausstellung "Fast nichts" im Hamburger Bahnhof, auf der Minimalismus aus der Friedrich Christian Flick Collection gezeigt wird, ein Konzert der Hamburger Band "Texas Lightning" in Düsseldorf , mit Olli Dittrich am Schlagzeug, Michael Sturmingers Film "Hurensohn", und Bücher, darunter Martin Heideggers Briefe an seine Frau Elfriede aus den Jahren 1915 - 1970 "Mein liebes Seelchen!" (in denen Martin Bauer ein Genie erkennt, "das nur zu Einem taugte"), Patricia Dunckers Erzählband "Sieben Geschichten von Sex und Tod" sowie Klaus Jungfers Manifest zur "Stadt in der Krise" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 26.09.2005

Im Aufmacher gibt Jürgen Kaube seine geringe Meinung zum Walten der Meinungsforschungsinstitute bekannt. In der Leitglosse schildert Richard Kämmerlings Impressionen vom designierten Außenminister a.D. Joschka Fischer, der sich bei einem Berliner Verlagsfest vergnügte. Verena Lueken resümiert das Filmfestival von San Sebastian, dessen Hauptpreis überraschend an den tschechischen Beitrag "Stesti" von Bohdan Slama vergeben wurde. Jordan Mejias verfolgte Diskussionen über den Irak-Krieg und über die Bewältigung der Hurrikane beim New-Yorker-Festival. Edo Reents gratuliert dem Popsänger Bryan Ferry zum Sechzigsten.

Auf der Medienseite interviewt Nina Rehfeld den Al-Dschazira-Reporter Mohammed Vall, der unter anderem verkündet, dass der Sender für die geplante englischsprachige Version auch Amerikaner einstellen will. Rainer Hermann stellt eine Lockerung der Zensur bei den halbstaatlichen ägyptischen Medien (unter anderem bei der Zeitung Al Ahram) fest und Michael Hanfeld porträtiert die afghanische Journalistin Najiba Maram, die vor zwei Jahren das erste afghanische Radio für Frauen gründete.

Auf der letzten Seite berichtet Martin Kämpchen über die Öffnung des 4.800 Meter hoch gelegenen Nathula-Passes zwischen China und Indien, womit die über fünfzigjährige Versiegelung der Grenze aufgehoben wird. Oliver Tolmein schreibt einen kritischen Kommentar zum Freispruch einer Berlinerin, die ihrem schwerst behinderten Sohn aktive Sterbehilfe leistete. Und Hans-Peter Riese stellt die neue Direktorin des New Yorker Guggenheim-Museums, Lisa Dennison vor.

Besprochen werden das Saison-Eröffnungskonzert der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle (unter anderem mit Richard Strauss' Wuchtbrumme "Ein Heldenleben"), Bob Wilsons Berliner Inszenierung von Shakespeares "Wintermärchen" (das aber nach Gerhard Stadelmaier gar nicht von Shakespeare war), Inszenierungen des "Sommernachtstraums" und von Ronald Schimmelpfennigs neuem Stück "Ambrosia" in Essen, mit denen der neue Intendant Anselm Weber seine Ära einleitet, Rossinis "Wilhelm Tell" in Gelsenkirchen, Walter Salles' Horrorfilm "Dark Water" und Sachbücher, darunter ein Band mit Vorlesungen von Roland Barthes (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).