Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.10.2005. Die FAZ beschreibt apokalyptische Szenen an den Rändern der Festung Europa. In der Welt freut sich Hans Küng, dass er es überall auf die Titelseiten brachte, nur in der FAZ nicht. Die Berliner Zeitung staunt über die Erfolge des Berliner Artforums. Die NZZ besucht die Kunstszene von Dhaka in Bangladesch. Die taz schwärmt über Kunst aus Indonesien, Thailand und Singapur, die gerade in Berlin gezeigt wird. 

FAZ, 04.10.2005

Paul Ingendaay beschreibt die verzweifelte Strategie der Afrikaner, die die immer höheren Stacheldrahtzäune in den marokkanischen Exklaven Spaniens überwinden wollen, um ins gelobte Land Europa zu gelangen: "Die Immigranten waren so viele, dass die Wachsoldaten der Masse nicht Herr werden konnten. Die Leitern wurden gleichzeitig geworfen, die Menschen stiegen alle gleichzeitig hinauf, sie warfen sich alle zugleich gegen das Hindernis und nahmen dabei in Kauf, dass eine gewisse Anzahl von ihnen auf der Strecke blieb. Stärker noch als die heimliche Landung an europäischen Küsten per Schlauchboot betont dieser Ansturm, dass Menschen das einzige sind, wovon die armen Länder Afrikas genug haben: Deshalb sind manche ein ganzes Jahr oder länger unterwegs. Deshalb verfangen sie sich im Stacheldraht und werden von anderen einfach überklettert, fallen unbeachtet zurück, reißen sich Fleischfetzen aus dem Körper oder werden von Kugeln getötet."

Weitere Artikel: Joachim Müller-Jung kommentiert die Medizin-Nobelpreise für die Ärzte Barry Marshall und Robin Warren, die die für Magengeschwüre verantwortlichen Bakterien aufspürten. Eine genauere Erklärung dazu gibt Reinhard Wandtner in einem zweiten Artikel zum Thema. Hans-Joachim Müller besucht die Stadt Karlsruhe, wo der Künstler Jochen Gerz eine soziale Plastik zum Thema der Grundrechte vorstellte. Heinrich Wefing bedauert in der Leitglosse, dass die Deutschen keine rechte Form finden, um ihre Einheit zu feiern. Michael Jeismann war zugegen, als Orhan Pamuk den Ricarda-Huch-Preis der Stadt Darmstadt entgegennahm. Neu eröffnet wird eine Rubrik unter dem Titel "Aus unseren Auslandsbüros" mit kurzen Meldungen aus der ganzen Welt. Roman Luckscheiter berichtet vom Romanistentag in Saarbrücken. Jordan Mejias blickt in amerikanische Zeitschriften wie die Nation (hier) und den Weekly Standard (hier), die fragen, was mit New Orleans nun geschehen soll. Jordan Mejias schreibt auch zum Tod des amerikanischen Dramatikers August Wilson. Und Achim Heidenreich berichtet vom Darmstädter Jazzforum.

Auf der DVD-Seite geht's unter anderem um eine großzügig mit Zusatzmaterial ausgestatte DVD mit Wong Kar-wais "Chungking Express", um eine James-Dean-Box und um Nicholas Roegs Film "Walkabout". Auf der Medienseite wird gemeldet, dass sich die FDP gegen Gerhard Schröders Medienschelte wandte und dass die Bavaria nach dem Schleichwerbungsskandal weiterhin nach einem Geschäftsführer sucht.

Auf der letzten Seite berichtet Reinhard Pabst über einen Manuskriptfund zu Thomas Manns Novelle "Mario und der Zauberer". Christian Schwägerl kommentiert die Eröffnung eines deutschen Büros der Schweizer Sterbehilfe-Organisation Dignitas und erklärt deren Unterscheidung zwischen "aktiver Sterbehilfe" und "assistierten Freitoden". Und Niklas Bender kolportiert die Inhalte eines Elle-Interviews mit Marie-Pierre Houellebecq, die sich gerade von Michel Houellebecq scheiden lässt.

Besprochen werden die Eröffnung des Stuttgarter Schauspiels mit Goethes "Faust" und einer Dramatisierung von Lars von Triers "Dogville" ("So wurden wieder einmal dramatische Über-Größen im Theater kleingeschnipselt und kleinstgeschnitten", kommentiert ein vollends desillusionierter Gerhard Stadelmaier), Verdis "Maskenball" in Claus Guths Frankfurter Inszenierung, der Film "Shakespeare in Love" und Helmut Kraussers Theaterstück "Unser Lied" in Bonn.

Welt, 04.10.2005

Hans Schmid berichtet über eine Rekonstruktion von Orson Welles' unvollendeten Film "The Deep" durch das Münchner Filmmuseum. Falko Hennig hat an einer Fußball-Weltmeisterschaft der Schriftsteller in der Toskana teilgenommen, bei der sich deutsche Dichter wacker schlugen.

Besprochen werden die neue Oper "Doctor Atomic" von John Adams in der Regie von Peter Sellars in San Francisco, Jan Müller-Wielands Kammeroper "Die Irre oder Nächtlicher Fischfang" in Bonn, ein Frankfurter "Maskenball" in der Regie von Claus Guth, das neue Album der Band Franz Ferdinand und die Ausstellung "Nationalschätze aus Deutschland - Von Luther zum Bauhaus" in Bonn.

Im Forum findet sich ein Gastkommentar über die Türkei und Europa von Christopher Caldwell, Redakteur des neokonservativen Magazins Weekly Standard: "Das osmanische Reich war eine multikulturelle Gesellschaft unter muslimischer Regierung. Die Türkische Republik ist eine überwiegend islamische Gesellschaft in einem offiziell säkularen Staat. Die offene Frage, die bei Europäern und Amerikanern an erster Stelle steht, ist, ob eine Reform dieses Staates nach den Wünschen seiner Gesellschaft in irgend etwas anderem enden kann als in einer islamischen Republik."

Und im Magazin spricht Hans Küng im Interview mit Eberhard von Gemmingen über seinen Besuch beim Kollegen Benedikt XVI.: "Zunächst einmal war es mir ein Anlass großer Freude; die Zeitungen haben das ja - mit einer Ausnahme, der FAZ, die mir nicht wohlgesonnen ist - in Deutschland alles auf der Titelseite gebracht."

Berliner Zeitung, 04.10.2005

Sebastian Preuss berichtet über die Erfolge des einstmals so provinziell wirkenden Art Forums in Berlin: "'Es war Wahnsinn', sagte Alexander Sies von der Galerie Sies + Höke aus Düsseldorf. Er verkaufte acht Skulpturen und Fotografien von Florian Slotawa, dessen Ready-made-Gebilde aus Alltagsgegenständen gewiss keine leichte Kost sind. Zudem konnte er mehrere Fotoarbeiten von Uta Barth zu 15 000 bis 20 000 Dollar absetzen. 'Es waren fast nur neue Kunden, die bei uns kauften', erzählte Sies begeistert."
Stichwörter: Preußen

NZZ, 04.10.2005

Die 16 Millionen-Metropole Dhaka in Bangladesch leidet seit dem Krieg von 1971, als Bangladesch die Unabhängigkeit von Pakistan erlangte, an Armut, Korruption und dem Aufkommen fundamentalistischer Kräfte, berichtet Simone Wille. Zugleich gibt es eine"vitale Kunstgemeinde", deren Selbstbewusstsein sie von den anderen Staaten Südasiens unterscheidet: "Die jungen Künstler Dhakas hinterfragen gängige Repräsentationen und rücken historische Erfahrungen zusammen mit dem Zeitgeschehen ins Zentrum. Gleichzeitig bewegen sie sich weg von einer internationalen und hin zu einer lokal-regional ausgerichteten Kunstsprache. Aufgemischt wird diese Sprache mit politischer Satire. Die Künstler nehmen die Korruption ins Visier, unangebrachten Idealismus, religiöse Bigotterie und soziale Diskriminierung von Frauen."

Barbara Villiger Heilig hat das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg besucht, wo unter der neuen Direktion von Friedrich Schirmer Robert Lehmeiers Bühnenadaption von "Cosi fan tutte" und Ivo van Hoves Bühnenadaptation des Cassavetes-Films "Faces" gespielt wurden: "Die vielbeschworene Avantgarde - hier wäre sie zu suchen und zu finden."

Weitere Artikel: Alfred Zimmerlin nimmt das "Festival International des Musiques d'aujourd'hui", "Musica" in Straßburg zum Anlass, den französischen Komponisten Marc Monnet und seinen Schweizer Kollegen Michael Jarrell zu porträtieren. Abgedruckt ist außerdem ein Auszug aus Oscar Peers Roman "Akkord / Il retuorn".

Besprochen werden ein Kammermusikabend der Bratschistin Tabea Zimmermann mit dem Tonhalle-Orchester Zürich (bei dem Thomas Schacher "eine sinnlich erfahrbare Klangwelt entstehen" hörte) sowie Bücher, darunter Gert Loschütz' Roman "Dunkle Gesellschaft", Ha Jins Roman "Kriegspack" und Jan Philipp Reemtsmas Überlegungen zu "Folter im Rechtsstaat?" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 04.10.2005

Susanne Messmer schwärmt von der Ausstellung Politics Of Fun im Berliner Haus der Kulturen der Welt mit Arbeiten junger Künstler aus Indonesien, Thailand und Singapur. "Ihre Stärke ist, dass nichts zusammenpasst, dass jeder der gezeigten Künstler eigene Wege geht, dass es Südostasien, so wie wir es uns oft als Ganzes denken, einfach nicht gibt. Es gibt nur viele Länder dort mit jeder Menge Kunst, die längst den Dialog aufgenommen hat und sich nicht wirklich darum kümmert, was der westliche Betrachter von ihr erwarten könnte. Viele der Künstler leben hier und dort und sind mehr auf Reisen als ihr westliches Publikum. Die Angst, exotisch gefunden zu werden, wird nur noch von wenigen der gezeigten Arbeiten reflektiert."

In Dresden hat die CDU zwar Stimmen verloren, aber Sitze gewonnen. Boris Palmer und Rainer Berkemer wünschen sich auf der Meinungsseite endlich ein weniger paradoxes Wahlrecht. "Wenn dieses Beispiel Schule macht, dürften künftige Bundestagswahlen interessant werden. Schwarz-Gelb hätte auch die Wahl 2005 gewinnen können, wenn die Dresdner Taktik gezielt in zwei größeren Bundesländern mit Unions-Präferenz angewendet worden wäre. Hätten zum Beispiel in Bayern und Baden- Württemberg etwa 60 Prozent der Unionswähler ihre Zweitstimme der FDP gegeben, so hätte die Union 50 Überhangmandate erhalten und zusammen mit den Liberalen eine Mehrheit von 330 Sitzen in einem Bundestag mit 657 Abgeordneten."

Weitere Artikel: Isolde Charim fragt sich, was so schlimm an der linken Mehrheit ist, dass sie als "Phantasma" abgekanzelt werden muss. Kim Frank erzählt David Denk in der zweiten taz, wie es nach dem Ende von "Echt" und zu Beginn der Dreharbeiten zu Leander Haußmanns "NVA" war. "Bei den Probentagen sagte Leander immer zu mir: Mach weniger! Du musst noch weniger machen!" Jony Eisenberg hält die Presse in Sachen Durchsuchung der Cicero-Redaktion für zu empfindlich. Peter Unfried bedauert, dass der vom Kanzleramt angeregte Kongress "Die Medien im Wahlkampf" nun nicht stattfinden wird.

Die Besprechungen gelten zwei weiteren Ausstellungen, Shirin Neshats Filminstallationen im Hamburger Bahnhof in Berlin und einer Ausstellung mit Selbstporträts der Fotografin Katharina Sieverding, Jarg Patakis Inszenierung von Goethes "Wilhelm Meister" in Hannover sowie Tom Wolfes Roman "Ich bin Charlotte Simmons".

Und hier noch TOM.

FR, 04.10.2005

Christian Thomas stellt die von Christoph Mäckler entworfene Neue Stadtbibliothek in Frankfurt am Main vor. Und Christian Schlüter berichtet vom XX. Deutschen Kongress für Philosophie in Berlin, der sich dem Thema Kreativität widmete. In Times Mager schreibt Harry Nutt über den "Preis der Deutschen Einheit", um den auf der Galopprennbahn in Dahlwitz-Hoppegarten geritten wurde.

In der einzigen Besprechung lobt ein hingerissener Hans-Klaus Jungheinrich Claus Guths Inszenierung von Verdis "Maskenball" an der Oper Frankfurt: "Abgesehen von Willy Deckers diesjähriger Salzburger 'La Traviata'-Inszenierung (die freilich hochstilisiert-aseptisch anmutete) gab es wohl seit dem frühen Hans Neuenfels keine ähnlich packende, in ihrer Bildfindung rabiate Verdi-Optik mehr."

SZ, 04.10.2005

Johannes Willms diagnostiziert eine kollektive Zukunftsangst als traditionelle Malaise der Deutschen und entdeckt historische Gesetzmäßigkeiten: "Je tiefer und umfassender eine wirtschaftliche Krise erlebt wird, desto mehr wird das Land geplagt durch die freigesetzten Zukunftsängste." Andrian Kreye hält die Senate Bill 436, nach der man in Florida nun überall jeden erschießen darf, der als Bedrohung empfunden wird, zumindest fremdenverkehrstechnisch für bedenklich. Stefan Koldehoff meldet, dass die Altmeistersammlung der amerikanischen Barnes-Stiftung neuen Untersuchungen zufolge eher zweitklassig ist. Jörg Königsdorf hält John Adams in San Francisco uraufgeführte Oper "Doctor Atomic" über den Mitvater der Atombombe J. Robert Oppenheimer zwar für kein Meisterwerk, aber nichtsdestotrotz für "eine der wichtigsten Opern der letzten Jahre".

Patrick Roth befragt Regisseur Terry Gilliam zu dessen Filmmärchen "Brothers Grimm" und das "Don Quixote"-Projekt mit Johnny Depp. Harald Eggebrecht vergnügt sich auf dem 18. Kongress der Karl-May-Gesellschaft (mehr) in Essen, wo Wissenschaftler, leidenschaftliche Leser und Verehrer sich in gewohnt unterhaltsamer Manier mischen. In der Zwischenzeit sinniert Hermann Unterstöger über den suboptimalen Auftritt Schröders und bieriges Bier. Matthias Kross beurteilt die Rede des Doyens der Sprechaktphilosophie John Searle auf dem Deutschen Kongresses für Philosophie in Berlin vor allem unter dramaturgischen Gesichtspunkten.

Auf der Medienseite stellt Nikolas Winter kurz die nun zehnjährige amerikanische Wochenzeitung Weekly Standard vor, die einst als Bushs "außenpolitische Gebrauchsanleitung" galt. Im Literaturteil stellt Volker Breidecker die neue Brockhaus-Enzyklopädie in 30 Bänden als "Multimedia-Parkhaus" vor. Die Digitalversion gibt es in Form eines "handtellergroßen" USB-Sticks.

Besprochen werden Jürgen Goschs Inszenierung von Shakesopeares "Macbeth" am Schauspielhaus Düsseldorf, Amelie Niermeyers Freiburger Abschiedsinszenierung mit mit den "Drei Schwestern" von Anton Tschechow, eine Ausstellung mit den Bildern des Wiener Architekten Heinz Tesar in der Pinakothek der Moderne in München, ein Auftritt Ingo Metzmachers mit Werken von Karl Amadeus Hartmann und Helmut Oehring im Münchner Musica-viva-Konzert, Richard Eyres "kühner" Ausstattungsfilm "Stage Beauty" und Bücher, darunter Friederike Mayröckers Buch "Und ich schüttelte einen Liebling" sowie Anja Berans Darstellung der klassischen Reitkunst "Aus Respekt!" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).