Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.10.2005. In der SZ kritisiert Adam Krzeminski die "Brutal-Rhetorik" in der Politik Polens. In der FAZ fürchtet der ukrainische Autor Andrij Bondar um die Errungenschaften der "orangenen Revolution". Die NZZ schildert die Wallungen um das "Schwarzbuch der Psychoanalyse" in Frankreich. In der taz bekennt sich Joachim Lottmann als letzter Schröderist. Und die FR fragt, warum der Ort der Information im Holocaust-Mahnmal ausgerechnet am 3. Oktober geschlossen war.

NZZ, 05.10.2005

In Frankreich ist nach der Veröffentlichung eines "Schwarzbuchs der Psychoanalyse" ein Streit ausgebrochen, der schon seit 2003 schwelt, schreibt Marc Zitzmann. "Der französische 'Krieg der Psys' (Psychiater, Psychologen, Psychotherapeuten und Psychoanalytiker), bei dem sich Anhänger von Freud und Lacan auf der einen Seite und Adepten der aus den USA importierten Verhaltens- und kognitiven Therapien auf der anderen gegenüberstehen, hat seit Ende 2003 eine neue Dimension erhalten. Damals schlug der Abgeordnete Bernard Accoyer vor, den bis anhin freien Gebrauch des Titels 'Psychotherapeut' zu reglementieren. Die traditionell aller staatlichen Kontrolle abholden Psychoanalytiker sahen darin den Versuch, ihren Berufszweig dem Urteil der Experten und Regulierer zu unterwerfen. Es sei, so ihr Haupteinwand, unmöglich, den Grad der Effizienz einer Psychoanalyse 'objektiv' und quantifizierbar zu bestimmen. Mit diesem Argument erreichten sie dann im Februar dieses Jahres den Rückzug einer umstrittenen Studie von der Website des Institut national de la sante et de la recherche medicale, welche auf die Überlegenheit der Verhaltens- und kognitiven Therapien gegenüber der Psychoanalyse schloss."

Weitere Artikel: Andrea Köhler meldet, dass das geplante Internationale Freedom Center (mehr hier) am New Yorker Ground Zero nach langen Diskussionen nun doch nicht gebaut wird. Klaus Englert berichtet über das weltweite Phänomen von Modeketten, für den Bau ihrer Gebäude Stararchitekten zu verpflichten und stellt ein neues Modehaus in Köln von Renzo Piano vor, das "an eine Wunderlampe, an ein gelandetes Raumschiff oder an einen am Rheinufer gestrandeten Wal" erinnert. Paul Jandl gratuliert dem Schriftsteller und "Propheten der Avantgarde" Oswald Wiener zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Bücher, darunter William J. Bouwsmas Porträt "Der Herbst der Renaissance" und der Roman "Die Schönheitslinie" von Alan Hollinghurst, der im Interview mit Udo Taubitz über die Schilderungen homosexueller Fantasien in seinen Büchern spricht: "Aber bei Lesungen mag ich solche Passagen nicht vortragen - es ist mir also irgendwie peinlich, ein bisschen zu intim." (Mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr.)

TAZ, 05.10.2005

Auf der Meinungsseite erklärt Bülent Arslan, Chef des Deutsch-Türkischen Forums der CDU und Mitglied des CDU-Präsidiums in NRW, im Interview die "zwei fundamentalen Fehler", die seine Partei im Umgang mit den türkischstämmigen Deutschen macht: "Zum einen meinen wir, dass konservative Positionen der CDU die Türken nicht ansprechen. Das ist falsch. Gerade unsere Linie für einen innenpolitisch starken Staat, für die absolute Priorität von Familien, für die Zurückhaltung bei gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und sogar für eine Begrenzung der Zuwanderung sind mehrheitsfähige Positionen unter den Türken. Zum anderen glauben wir, dass die Türken zu 80 Prozent traditionell links seien. Das ist ein Klischee. Umfragen zeigen, dass in Deutschland mindestens 60 Prozent der Türken konservativ sind. Das Potenzial ist gerade für die CDU enorm."

In tazzwei erklärt der Schriftsteller Joachim Lottmann, warum er trotz des Niedergangs der Linken ein "Schröderist" ist. "Weil der Gerd mehr ist als nur ein Politiker. Er verkörpert als Einziger und Letzter das Prinzip der (von ihm oft beschworenen) 'Teilhabe'. Ich glaube, das Wort hat sogar er erfunden. Er ist der Letzte, der die kleinen Leute überhaupt noch erreicht. Joschka Fischer war der Vorletzte. Schröder stand für den atemberaubenden Versuch, den Sozialstaat abzuschaffen und gleichzeitig das Gefühl für ihn zu erhalten ... Für einen solchen Umbau der Gesellschaft gab es nur einen Führer, der das vermitteln konnte, eben den Mann aus Hannover, das Kriegskind, vaterlos, von Mutter 'Löwe' großgezogen, einer Putzfrau, die im Dorf als asozial diffamiert wurde. Dieser Mann war mehr als ein Symbol für den sozialen Aufstieg. Dieser Mann war wie kein zweiter: Deutschland. Um das zu verstehen, muss man sich das Land einmal ohne ihn vorstellen. Politmanager laufen herum, deren größtes persönliches Risiko, das sie je eingegangen sind, der Besuch einer Juravorlesung ohne Krawatte gewesen ist."

Im Kulturteil bewertet Eva Behrendt die jüngste Ausgabe des Berliner Gesellschaftsmagazins dummy als "überraschend unpeinlich und glamourös". Stark findet sie schon die Idee, "nach 'Deutschland', 'Spaß', 'Glauben' und ähnlich Lifestyle-tauglichen Feuilletonschlagworten mit 'Juden' aufzutrumpfen." Und fällig sei das auch, wenn man bedenkt, wie viele Sonderthemen und Hintergrundseiten in den letzten vier Jahren den derzeit erbittertsten Gegnern Israels, den Islamisten, gewidmet wurden. Gregor Kessler untersucht, wie die Bands des New Weird America die Geschichte des amerikanischen Folk fortschreiben. Sänger wie Devendra Banhart, Sängerinnen wie Joanna Newsom oder Bands wie die Espers beschritten dabei zwar ganz eigene Wege, doch verbinde sie ein "Interesse an Kollektivität und Improvisation, an Experiment und Abenteuer".Das Setzen "inhaltlicher Wegmarken" bescheinigt Claudia Gass Hasko Weber, der in Stuttgart seine Intendanz mit einem Premieren-Marathon von sechs Stücken an drei Tagen angetreten hat.

Und Tom.

FR, 05.10.2005

In Times mager kommentiert Harry Nutt die betriebs- beziehungsweise kostenbedingte Schließung des Orts der Information am Holocaustmahnmal in Berlin am 3. Oktober. "Irritierend ist an dem Vorgang nicht allein die mangelnde Flexibilität, ja nicht einmal das fehlende Gespür für die symbolische Bedeutung der Kombination von Nationalfeiertag und Öffnungszeiten am Ort der Information. Beschämend ist vielmehr die Tatsache, dass das Mahnmal knapp ein halbes Jahr nach seiner Eröffnung in den Strudel haushalterischer Peinlichkeiten gerät. Einer der Gründe für die Finanzierunslücke im Stiftungsetat sei unter anderem die zu teuer geratene Eröffnungsveranstaltung Anfang Mai. Gerade in der Tiefebene gilt: Die Kosten von Symbolpolitik sind nun einmal schwer zu berechnen."

Weiteres: Eva Schweitzer berichtet über das planerische Gerangel um Ground Zero. Ina Hartwig porträtiert den deutsch-französischen Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt, der den Joseph-Breitbach-Preis zugesprochen bekam.

Besprochen werden zwei der Einstandspremieren von Intendant Hasko Weber am Schauspiel Stuttgart: Goethes "Faust" und "Dogville" von Lars von Trier in der Inszenierung von Volker Lösch und Bücher, darunter eine Neueedition von Karl Ferdinand Gutzkows Biografie über sein publizistisches Idol, den Frankfurter Kritiker Ludwig Börne, der Erzählungsband "Etwas fehlt immer" von Guy Helminger und ein Band über die "Paradoxien der Demokratie" von Shmuel N. Eisenstadt (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

FAZ, 05.10.2005

Der ukrainische Autor Andrij Bondar fürchtet um die Errungenschaften der "orangenen Revolution" und schildert das Versagen des Präsidenten Wiktor Juschtschenko in den Mühen der Ebene: "Die Inkonsequenz des ukrainischen Präsidenten ist so offensichtlich, dass sich mir jetzt, da ich den zurückliegenden 'heißen September' mit kühlem Kopf analysiere, ein Eindruck hartnäckig aufdrängt: Der Schüler Juschtschenko hat einfach nicht aufgepasst, und er wird die versäumten Stunden nicht nachholen können. Er verlor an fast allen Fronten, ohne auch nur einen einzigen Fehler öffentlich einzugestehen, am wenigsten seinen größten - den Glauben an die eigene Unfehlbarkeit." Bondar warnt die Europäer, dass sich die andere Charismatikerin der Revolution, Julia Timoschenko, nun Putin zuwenden könnte.

Weitere Artikel: Hannes Hintermeier kommentiert den Umstand, dass ausgerechnet der Börsenvereins-Vorstand Dieter Schormann seine Ferber'sche Buchhandlung in Gießen aufgibt, um einer Filiale der Kette Thalia Platz zu machen, die ihn in führender Position einstellt. Manfred Lindinger porträtiert den deutschen Physik-Nobelpreisträger Theodor W. Hänsch (hier ein glücklicher Preisträger mit glücklichem Institut). Felicitas von Lovenberg stellt den Familienroman mit dem viel versprechenden Titel "Großmama packt aus" von Irene Dische vor, den die FAZ vorabdrucken wird. Dietmar Dath gratuliert dem Autor Oswald Wiener zum Siebzigsten. Martin Halter verabschiedet die Intendantin Amelie Niermeyer aus Freiburg - sie geht nun nach Düsseldorf. Michael Althen berichtet vom Filmfest Hamburg. Martina Bretz resümiert den Deutschen Kongress für Philosophie zum Thema Kreativität in Berlin.

Auf der Medienseite schildert Michael Hanfeld die russische und weißrussische Verärgerung über die Eröffnung eines weißrussischen Programms der Deutschen Welle. Und Jordan Mejias berichtet über eine amerikanische Pornosite, die Pornografie im Tausch gegen Gräuelbilder aus dem Irakkrieg anbietet.

Auf der letzten Seite zeigt sich Dieter Bartetzko nur halb überzeugt vom Wiederaufbau der klassizistischen Frankfurter Stadtbibliothek - die Außenfassade lobt er für Würde und Anmut, innen aber fühlte er sich in einen Eisschrank versetzt. Robert von Lucius schreibt über einen heißen Kampf zwischen einem Zeitungsverleger und einem Politiker in Island. Und Anne Schumacher de la Cuesta porträtiert den mexikanischen Maler Franciso Toledo, der sich mit seiner Organisation Pro-Oax für Natur- und Denkmalschutz in Mexiko einsetzt und dafür den alternativen Nobelpreis erhält.

Besprochen werden Terry Gilliams neuer Film "The Brothers Grimm", John Adams' neue Oper "Doctor Atomic" in der Regie von Peter Sellars in San Francisco und eine Ausstellung des Malers Hermann Stenner im Kloster Cismar.

Welt, 05.10.2005

Elena Sorokina hat die Ausstellung "Russia!" im New Yorker Guggenheim-Museum besucht und findet, dass die neuen Russen trotz üppiger Ausstattung durch wohlgesonnene Oligarchen das Ausstellungsmachen noch nicht gelernt haben: "So ist eine Ausstellung entstanden, die einem Staatsoberhaupt problemlos vorgeführt werden kann - und in der Tat ist Wladimir Putin höchstpersönlich die Guggenheim-Spirale hinaufspaziert und hat sich die Kunst seines Landes erklären lassen. Mit einigem Wohlbehagen: So möchte er auch die russische Geschichte sehen - mit Ikonen, vielen Adelsporträts und zahlreichen Historienbildern aus dem 19. Jahrhundert."

Weitere Artikel: David Keys berichtet, dass die britischen Shakespeare-Forscher Brenda James und William Rubinstein einen neuen Ghostwriter für Shakespeare, einen gewissen Sir Henry Neville aufgespürt haben. Rainer Haubrich besucht einen Mustersaal der im Wiederaufbau befindlichen Berliner Bauakademie von Schinkel.

Besprochen werden Giacomo Battiatos Film "Karol - Ein Mensch, der Papst wurde" und Jürgen Goschs "Macbeth"-Inszenierung in Düsseldorf.

Auf der Medienseite meldet Uwe Müller, dass der Holtzbrinck-Verlag den Tagesspiegel nun offensichtlich doch verkaufen will - als Käufer sind ein Konsortium aus Spiegel und FAZ und (weniger wahrscheinlich) auch der Süddeutsche Verlag im Gespräch. Und Guido Heinen schreibt über die Regierungsidee, ein Symposion von Politikern und Medienleuten abzuhalten, um das verkorkste Verhältnis wieder aufzubessern, solange die Regierung noch existiert.

Berliner Zeitung, 05.10.2005

Arno Widmann ist mal wieder in Berlin unterwegs und rät dazu, sich vom widerlichsten zur Zeit im deutschen Kino zu sehenden Film - einer H & M-Reklame (hier) - nicht von der Betrachtung eines Dokumentarfilms des gleichen Regisseurs David Lapachelle abhalten zu lassen. Dieser Film heißt "Rize" und handelt von einer HipHop-Tanzbewegung schwarzer Jugendlicher in Los Angeles: "Der Film ist demagogisch. Lachapelle nutzt seine Werbeerfahrung aus. Er weiß genau, wie er seine Helden sympathisch macht. Die Ghettokids, die Gefängnis hinter und vor sich haben - er hat sie in einem Augenblick porträtiert, da sie eine Chance haben, dem Kreislauf von Gewalt und Drogen zu entkommen. Nicht, indem sie auf Ekstase verzichten, sondern indem sie sich selbst in Ekstase versetzen. Und uns, die Zuschauer. Auch der müde Sechzigjährige wollte aufspringen und Bauch und Hintern wackeln lassen. Ein Glück, dass er so feige ist."

SZ, 05.10.2005

Der Publizist Adam Krzeminski kommentiert die "Brutal-Rhetorik" der Politik Polens. "Seit 1992 gewinnt man in Polen Wahlen, indem man eine 'Revolution in der Revolution', einen 'Krieg an der Spitze' oder 'ein anderes Polen' verspricht. Doch was als Revolte angezettelt wurde, entpuppte sich alsbald als Kontinuität. Und wenn tatsächlich jemand mit jakobinischem Eifer die Stabilität des Staates gefährdete, wurde er - wie Jan Olszewski - gestürzt. Dennoch hat die fatale Gepflogenheit, jedes Mal mit furioser Totalkritik an die Macht kommen zu wollen, desaströse Folgen für die politische Kultur. Ob die Linke 2001 oder jetzt die Rechten, man schert sich im Wahlkampf kaum um Wahrheit, Bürgerrechte und Meinungsfreiheit, eine andere Meinung wird bisweilen gar als Verrat an der Nation denunziert. Diese zyklische Brutalisierung hat zur Folge, dass es immer schwieriger wird, nach dem Sieg moderate Töne anzuschlagen."

Mit der "Geschichte vom Mann, der nicht rein durfte", einer Allegorie des Türken in der jüngeren Weltgeschichte, bedankte sich Orhan Pamuk am 3. Oktober in Darmstadt für die Verleihung des Ricarda-Huch-Preises. "Wer darf durch diese Tür? Was bringt ihn dort hinein? Was macht ihn zu einem Privilegierten? Der Passant denkt, dass es vielleicht gar kein solches Privileg ist, dort einmal kurz hineinzugehen. Womöglich sitzen nur ein paar Langweiler drin, die nicht wollen, dass man sie in all ihrem Elend zu Gesicht bekommt."

Weitere Artikel: Christine Dössel berichtet über die Spielzeiteröffnung in Stuttgart. Lothar Müller gratuliert Oswald Wiener zum 70. Geburtstag. Andrian Kreye kommentiert den Rücktritt der Kuratorin des Getty-Museums, Marion True, gegen die Vorwürfe erhoben werden, wissentlich gestohlene Kunst angekauft zu haben. Klaus Lüber informiert über die Online-Datenbank Pandora, die Musikgeschmäcker erkennt. Gerwin Zohlen stellt das Hundertwasserhaus in Magdeburg vor. lyn berichtet über den Abbruch der Verhandlungen zwischen Microsoft und den großen Musik-Labels über Download-Abos.

Besprochen werden außerdem Terry Gilliams Film "Brothers Grimm", eine Robert Rauschenberg-Retrospektive mit Arbeiten von 1960 bis 1995 in der Münchner Galerie Terminus und Bücher, darunter eine Studie über den Kreml und "Russland und seine Herrscher" von Wladimir Fedorowski und ein Band über "Volk und Herrschaft im frühen Mittelalter" (siehe hierzu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)