Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.10.2005. In der Berliner Zeitung stöhnt Ingo Schulze über die Entstehungsgeschichte des ersten Satzes seines neuen Romans. Die Welt erzählt vom zähen Fortleben der "Protokolle der Weisen von Zion", die vor hundert Jahren erfunden wurden. In der taz erklärt die Berliner Autorin Hatice Akyün, warum ihr Leben als Deutsche und Türkin gar nicht problematisch ist. Die NZZ  besucht das Städtchen Laugharne in Wales, das 400 Einwohner, einen Hafenvogt und einen Nationaldichter hat.

Berliner Zeitung, 11.10.2005

Uta Beiküfner unterhält sich mit Ingo Schulze über dessen neuen Roman "Neue Leben" und legt gleich am Anfang den Finger in die Wunde. Ganze siebeneinhalb Jahre hat Schulze für das Buch gebraucht. "Wenn ich etwas wollte, dann wollte ich mit diesem Ding fertig werden. Ich habe drei Jahre gebraucht, bis der erste Satz so im Computer war, wie er jetzt auch im Buch steht. Als ich den Anfang und die Struktur des Romans endlich hatte und sich der Tonfall einstellte, dachte ich, jetzt geht es ritsch ratsch. Ich habe selbst immer gedacht, spätestens nächstes Frühjahr bist du fertig, weil ich nicht übersah, worauf ich mich eingelassen hatte."
Stichwörter: Schulze, Ingo

NZZ, 11.10.2005

Bernadette Conrad besucht das Städtchen Laugharne in Wales, wo Dichter Dylan Thomas sich einst niederließ, weil es winzig ist und doch alles hat, wie er selbst schrieb. "'Ich verbringe Pfingsten in der seltsamsten Stadt in Wales. Laugharne, mit einer Bevölkerung von vierhundert Seelen, hat ein Rathaus, ein Schloss und einen Hafenvogt. Die Leute reden in einem breiten englischen Dialekt, obwohl sie von Hunderten von Meilen walisischem Land umgeben sind . . .' Walisisch ist in der Tat ein Thema für sich - und eines, an dem man bescheiden wird, noch bevor man in seine Nähe kommt; zu wissen, dass Laugharne wie 'Laan' ausgesprochen wird, scheint erst einmal genug."

Weiteres: Hubertus Adam lobt den "skulpturalen" Kirchenneubau in Zuchwil des Berner Büros Smarch von Beat Mathys und Ursula Stücheli, der ihn im Großen wie im Kleinen überzeugt. Besprochen werden neue Stücke von Gert Jonke und Franzobel in Wien, Henry Roths letztes Werk "Requiem für Harlem", Anne Webers Roman "Gold im Mund" sowie Wolfgang Rothers Untersuchungen zur Philosophie der Aufklärung in Nord- und Mittelitalien "La maggiore felicita possibile" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 11.10.2005

Uwe Schmitt schreibt über das zähe Fortleben der "Protokolle der Weisen von Zion", der Urmutter aller antisemitischen Verschwörungstheorien, die vor hundert Jahren erfunden und 1921 erstmals als Erfindung entlarvt wurden: "Winston Churchill hatte bis zu ihrer Entlarvung die 'Protokolle' für echt gehalten; Henry Ford, ein glühender Antisemit, finanzierte die amerikanische Übersetzung und sorgte 1920 für den Serienabdruck im Dearborn Independent. Es versteht sich, dass Hitler und Rosenberg das Traktat fasziniert und gelehrig ausschlachteten. Nach 1948 erst erlebten sie im Nahen Osten ihre bis heute unangetastete Renaissance." Zur weiteren Information empfiehlt Schmitt den Dokumentarfilm "Protocols of Zion" von Marc Levin und Will Eisners Graphic Novel "Das Komplott".

Weitere Artikel: Reiner Gatermann schildert den Skandal um den dänischen Autor und Sportkommentator Jörgen Leth, der in seinem Buch "Der nicht perfekte Mensch" bekennt, in seiner Zeit als Honorarkonsul in Haiti mit der 16-jährigen Tochter seiner Köchin geschlafen zu haben. Ulrich Baron verwendet sich angesichts der Katastrophen von New Orleans und Kaschmir gegen die Vorstellung, man könne im "Einklang" mit der Natur leben.

Besprochen wird die Uraufführung von Botho Strauß' Stück "Die Schändung" in Paris.

Auf der Medienseite spekuliert Oliver de Weert über Gerüchte, dass Holtzbrinck den Berliner Verlag (und nicht den Tagesspiegel) an eine britsche Gruppe von Investoren verkaufen will.

FR, 11.10.2005

Martina Meister ist überzeugt: Botho Strauß' neues Stück "Schändung" dürfte in der Inszenierung von Luc Bondy "im lauen Pariser Theaterbetrieb wie eine Bombe explodieren". Was am Donnerstag im Pariser Theâtre de l'Odeon gezeigt wurde, "mag ein volksbühnengeprüftes Publikum als weitere Episode der Blut- und Spermaspektakel des deutschen Gegenwartstheaters abtun. In Paris aber, wo wenige hundert Meter weiter, in den Werkstätten der Oper, zeitgleich mit der Premiere magere Modells den stoffgewordenen Zeitgeist des kommenden Frühlings über den Catwalk trugen, wirkt dieses Theater der Grausamkeit verstörend, ein Sandkorn im Getriebe der Eitelkeiten."

Peter Michalzik macht in Times mager keinen Hehl aus seiner Befremdung über Luc Bondys Entscheidung, bei der Uraufführung am Donnerstag keine Journalisten zuzulassen. Die durften erst am Freitag kommen. Harry Nutt unternimmt eine vorläufige Standortbestimmung der Kanzlerin Angela Merkel als Frau, Ostdeutsche und Nachfolgerin von dem zuletzt zunehmend raubeinigen Gerhard Schröder. Elke Buhr seufzt beim Konzert von Robbie Williams in Berlin resigniert. "Er ist ein Star, weil er ein Star ist." Und Hans-Jürgen Linke fasst das 36. Deutsche Jazzfestival in Frankfurt zusammen.

SZ, 11.10.2005

"Blutwurst bleibt Blutwurst. Bei Shakespeare. Bei Strauß. Bei Bondy." Keine Riesenüberraschungen also, doch manchmal hat Eva-Elisabeth Fischer in der Uraufführung von Botho Strauß' "Schändung" im Pariser Odeon unter Luc Bondy gerade das beeindruckt. "Das Teuflische an 'Schändung' ist, dass alle so schrecklich normale Leute sind, solche, wie man sie täglich auf der Straße sieht. Ihr wahres Motiv ist wahrscheinlich nicht Rache, sondern ein tödlicher Überdruss, eine fürchterliche Langeweile. Selbst das Kind, das am Ende mit großer Geste behauptet, der Kaiser von Rom zu sein, ist kein Hoffnungsträger. Denn es hat ja als Zeuge aller Untaten lange schon seine Unschuld verloren."

Dirk Peitz holt Robbie Williams auf die Erde zurück und erklärt ihn zum ganz normalen Popstar mit recht konventionellen Liedern. "Das ist Musik, die sich selbst egal ist, Mainstreamrock zumeist, da sind keine schönen Einfälle mehr, nur ein paar maue Synthipop-Zitate. Die Texte mögen introspektiv gemeint sein, aber man sieht nur eine tatsächlich erstmals völlig mit sich und der Welt im Reinen befindliche Seele. Das also ist der neue Robbie Williams. Gesund und munter und ein bisschen langweilig. Wenn es gut für ihn läuft, wird er in zwanzig Jahren Tom Jones werden. Wenn nicht, in fünf Jahren Jon Bon Jovi. Einer für die ganze Familie. Ein Entertainer, der nur seinen Job macht."

Weitere Artikel: Christiane Schlötzer hält die Verurteilung des türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink wegen "Erniedrigung der türkischen Identität" für ein "peinliches Verdikt" und ein böses Omen für Orhan Pamuk, der am 16. Dezember wegen seiner Aussagen zum Genozid an den Armeniern vor dem gleichen Gericht erscheinen soll. Klaus Lüber meldet sich von den ersten Europameisterschaften im Schachboxen aus Berlin (mehr), wo zwölf Runden geboxt und zwischendurch zwölf Minuten Schach gespielt wird. Sonja Zekri meldet, dass Christopher Michael Wilson, der Betreiber einer Porno-Seite, auf der auch Bilder von Leichen und Körperteilen aus dem Irakkrieg gezeigt werden, in Florida verhaftet wurde. Peter Wapnewski schreibt zum Tod des Literaturwissenschaftlers Arthur Henkel. In der "Zwischenzeit" unternimmt Joachim Kaiser eine schnelle Interpretation des Kopfsatzes wie des Andantes der vierten Symphonie von Brahms. Alexander Kissler warnt vor einer Abstumpfung angesichts der vielen Naturkatastrophen.

Anlässlich der Ausstellung "Van Gogh - echt falsch" in Zürich erzählt Stefan Koldehoff, unter welchen Umständen der Schweizer Sammler Emil Bührle ein gefälschtes Selbstporträt Van Goghs erstand. Auf der Medienseite rätselt Hans Leyendecker, ob der Berliner Verlag mit der Berliner Zeitung von Holtzbrinck nun an die britische Beteiligungsgesellschaft 3i verkauft wird.

Besprochen werden eine Aufführung von Dmitri Schostakowitschs milder "Lady MacBeth"-Oper "Katerina Ismailowa" unter Dirigent Vladimir Fedoseyev und Regisseur Klaus Michael Grüber in Zürich, Christian von Treskows Inszenierung von Felicia Zellers Stück "Einfach nur Erfolg", Robert Rodriguez' Kinderstreifen "The Adventures of Sharkboy and Lavagirl - in 3-D", und Bücher, darunter Thomas Lehrs Science-Fiction-Roman "42", Carmen Kaminskys Entwurf einer "Moral für die Politik" sowie Karen Piepenbrinks Studie zur "Christlichen Identität und Assimilation in der Spätantike" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 11.10.2005

Die Berliner Autorin Hatice Akyün beschreibt in ihrem Buch "Einmal Hans mit scharfer Soße" ihr gar nicht so problematisches Leben als Deutsche und Türkin. In tazzwei erzählt sie im Gespräch mit Katrin Birner und Christoph Mayerl, warum ihr das Bild der Türken in den deutschen Medien, die Fixierung auf Zwangsheirat und Ehrenmord auf Nerven geht: "Ich glaube, für die Medien ist es sehr reizvoll, über solche Geschichten zu schreiben. Ich habe mich so aufgeregt über einen Bericht, in dem 13-Jährige aus einer Neuköllner Schule zitiert wurden, die sagten, es war richtig, dass die Brüder Hatün umgebracht haben. Das darf man aber doch nicht so in die Überschrift schreiben. Man muss darüber berichten, aber durch solche Geschichten darf nicht das Bild entstehen, dies sei Teil türkischer Kultur. Ich könnte heute auch in eine Hauptschule in Bayern oder Hamburg gehen, und ich finde bestimmt fünf Jungs, die sagen, Hitler war super."

Außerdem: Joachim Lottmann hat einen Traum von Angela Merkel. "Natürlich wird sie 16 Jahre lang dranbleiben. Wie Helmut Kohl? Nein, wie Honecker. Der war auch nicht mit den Gaben eines Medienpolitikers gesegnet, konnte nicht reden, nicht strahlen, nicht verführen - hatte aber diesen Machtinstinkt, das so genannte Stalin-Gen. Das hat sicher auch die Merkel. Sie hat es sogar so stark, dass Friedrich Merz froh wäre, wenn man Väterchen Stalin heute gekürt hätte anstatt die Merkelin. Aber bevor das jetzt wie eine Beleidigung rüberkommt, sage ich etwas anderes." Auch der Titel ist Angela Merkel gewidmet: "Es ist ein Mädchen", jubelt die Redaktion.

Im Kulturteil berichtet Kathrin Kruse von den Pret-a-Porter-Schauen in Paris. Detlef Kuhlbrodt resümiert das Leipziger Dokumentarfilmfestival: "So, jetzt geh ich raus und verändere die Welt." Helmut Höge begutachtet in der "Berliner Ökonomie" die neue ostelbische Wirtschaftsordnung. Und die Theaterautorin Margareth Obexer sieht auf den Bildern aus Ceuta und Melilla vor allem selbstbewusste Migranten.

Besprochen wird Kathrin Rögglas Stück "draußen tobt die dunkelziffer" in den Münchner Kammerspielen.

Schließlich Tom.

FAZ, 11.10.2005

Patrick Bahners fühlt sich im Aufmacher durch Angela Merkel an Queen Victoria erinnert, die ebenfalls gerade da war, als die Vakanz entstand. Hubert Spiegel kommentiert in der Leitglosse den Rücktritt des Dumont-Lektors Gottfried Honnefelder, der "eigene Wege" gehen will. Der Chefarzt Stephan Sahm begrüßt die Ergebnisse einer von ihm selbst durchgeführten Studie, nach der sich Patienten im Ernstfall von ihren Patientenverfügungen distanzieren und sich doch lieber der Autorität des Chefarztes anheim geben. Gina Thomas schildert den Fall des beim Publikum, nicht aber bei Fachleuten für seine Genre-Szenen beliebten britischen Malers Jack Vettriano ("The Singing Butler" und mehr), der manche Szenen aus Lehrbüchern des Zeichnens abgemalt haben soll. Walter Hinck schreibt zum Tod des Germanisten Arthur Henkel. Thomas Wagner gratuliert dem Denkmalpfleger Wolfgang Wolters zum Siebzigsten.

Auf der Medienseite geht Michael Hanfeld einigen Schleichwerbungssfällen bei Sat 1 und RTL nach. Jennifer Wilton berichtet, dass die Badischen Neuesten Nachrichten eine Redakteurin, die wegen eines kritischen Berichts über den Anzeigenkunden Lidl gefeuert worden war, nun doch weiterbeschäftigen wollen. Jürg Altwegg beschreibt die Agonie des französischen Boulevardblatts France Soir. Gina Thomas meldet, dass der Daily Telegraph vorerst als praktisch letzte britische Tageszeitung beim großen Format bleibt.

Auf der letzten Seite erzählt Alexander Gallus die Geschichte der Weltbühne, die als Schaubühne vor hundert Jahren gegründet worden war. Heinrich Wefing spekuliert über die Frage, wer unter Angela Merkel Staatsminister für Kultur werden könnte, da der als Favorit gehandelte Norbert Lammert als Bundestagspräsident gehandelt wird. Und Dieter Bartetzko würdigt die Verdienste des Berliner Dombaumeisters Rüdiger Hoth, der in Rente geht.

Besprochen werden eine Ausstellung des Fotografen Gregory Crewdson in Hannover, das Konzert Robbie Williams' in Berlin, die Uraufführung von Wilhelm Genazinos erstem Stück "Lieber Gott, mach mich blind" in Darmstadt, eine Wiederauferstehung von John Crankos Choreografie der "Widerspenstigen" in Leipzig und eine Ausstellung über den spanischen Stararchitekten Rafael Moneo (mehr hier) in San Sebastian.