Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.10.2005. Die SZ druckt den Artikel des schwedischen Akademiemitglieds Knut Ahnlund gegen den Nobelpreis für Elfriede Jelinek nach. In Spiegel Online kommentiert Cem Özdemir den Fall des türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink, der angeblich die türkische Identität erniedrigte. In der taz erklärt Daniel Cohn-Bendit, wie Europa auf die Ereignisse von Ceuta und Melilla reagieren sollte, die von der Kunst - so die FAZ - längst vorausgesehen wurden. Im Tagesspiegel fordert der Mikrobiologe Alexander S. Kekule eine nationale Akademie der Wissenschaften.

FAZ, 12.10.2005

Und "die Kunst hat es vorausgesagt", tönt eine Generalüberschrift über der gesamten Seite 1 des Feuilletons. Die Rede ist von den Szenen an den Zäunen der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla. Malte Herwig stellt den Film "Der Marsch" von William Nicholson vor, der vor 15 Jahren in der BBC lief: Tausende Afrikaner bewegen sich dort auf die europäischen Grenzen zu und werden am Ende mit Panzern gestoppt. Ihr Anführer sagt: "Ihr habt in Europa so kleine Katzen. Es heißt, eine Katze kostet mehr als 200 Dollar pro Jahr. Lasst uns nach Europa kommen als eure Haustiere. Wir könnten Milch trinken, wir könnten eure Hand lecken. Wir könnten schnurren. Und wir sind viel billiger zu füttern."

Zum Artikel gehört ein kleines Interview mit Nicholson, der später als Drehbuchautor von "The Gladiator" von sich reden machte. In einem zweiten Artikel stellt Lorenz Jäger den Roman"Heerlager der Heiligen" (Auszüge) des Monarchisten und Integristen Jean Raspail aus dem Jahr 1973 vor - hier wird Frankreich von hungernden Indern belagert.

(Wir verlinken noch einmal auf die große Reportage über die afrikanischen Flüchtlinge in Marokko von Paulo Moura, die 2004 für den Lettre Ulysses Award nominiert war.)

Weitere Artikel: Robert von Lucius berichtet in der Leitglosse über den Rücktritt des schwedischen Akademiemitglieds Knut Ahnlund, der mit dem Nobelpreis für Elfriede Jelinek ganz und gar nicht einverstanden war und dies ein Jahr später in einem Artikel im Svenska Dagbladet begründete. Jürgen Kesting verrät in einem Artikel zum siebzigsten Geburtstag Luvciano Pavarottis höflich aber klar seine Meinung zu dessen Verdiensten: "Seine Kunst war erst betörende Verführungskunst, dann massensuggestive Gebrauchskunst. Nie war sie orphisch." Jürgen Kaube berichtet über die im Konkurrenzblatt Frankfurter Rundschau veröffentlichte "Frankfurter Erklärung" einer Gruppe von Pädagogen, die sich gegen die "Ökonomisierung" der Wissenschaften wehren. In der verdienstvollen Rubrik "Aus unseren Auslandsbüros", wo Geschichten angerissen werden, die wir gerne länger erzählt hörten, meldet Gina Thomas, dass die New York Review of Books die britische Zeitschrift Granta an die schwedische Philanthropin und Tetra-Pak-Erbin Sigrid Rausing verkauft hat.

Auf der Medienseite wird ausführlich über den Verkauf des Berliner Verlags an die britische Investorengruppe 3i berichtet: Daniel Schäfer weist darauf hin, dass Holtzbrinck hier erhebliche Verluste macht. Und Michael Hanfeld stellt sich in einem Kommentar die Frage, wie der Berliner Verlag wohl Rendite von 20 Prozent machen will, die von solchen Investoren erwartet werde.

Auf der letzten Seite erinnert Frank-Rutger Hausmann an die Freundschaft zwischen Carl Schmitt und Hugo Ball, die vor achtzig Jahren abrupt endete. Hannes Hintermeier berichtet über Streit und Rücktrittsforderungen im Börsenverein des deutschen Buchhandels, nachdem der Vorsteher Dieter Schormann von der Kette Thalia engagiert wurde. Und schließlich kommentiert Gina Thomas die unerwartete Vergabe des Booker-Preises an den irischen Autor John Banville für seinen Roman "The Sea" (Auszug).

Besprochen werden Luc Jacquets Film "Die Reise der Pinguine", eine Ausstellung des Malers Christian Ludwig Attersee in Wien und Konzerte beim Deutschen Jazzfestival in Frankfurt.

Tagesspiegel, 12.10.2005

Deutschland braucht endlich eine nationale Akademie der Wissenschaften, fordert der Mikrobiologe Alexander S. Kekule auf der Meinungsseite. Allerdings "muss diese in jeder Hinsicht anders als ihre Vorbilder sein. Wichtigste Aufgabe wäre es, die zersplitterte Forschungslandschaft zu ordnen und große Gemeinschaftsziele zu definieren, mit denen Deutschland etwa bei EU-Ausschreibungen besser abschneidet als derzeit. Auch die Festlegung allgemeiner Standards, etwa zur Bewertung wissenschaftlicher Leistungen, tut Not. Das setzt eine schlanke, flexible Organisation voraus - mit der kann jedoch keine der acht (regionalen) Akademien dienen. Mit ihren zusammen rund 2400 Mitgliedern sind diese Gelehrtengesellschaften zu groß, zu unflexibel, überaltert und wissenschaftlich von zu viel Mittelmaß durchsetzt."
Stichwörter: Deutschland

TAZ, 12.10.2005

Im Gespräch mit Sabine am Orde fordert der Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit angesichts der Ereignisse von Ceuta und Melilla, die afrikanische Einwanderung nach Europa zu organisieren und zu legalisieren. "Die EU sollte überall in Afrika Einwanderungsbüros aufmachen, wo sich Leute melden können, die nach Europa migrieren wollen. Die EU müsste zudem die Qualifizierung der Einwanderer vor Ort organisieren und Unternehmen unterstützen, die schon vor Ort arbeiten. Wenn Menschen eine legale Chance haben, nach Europa zu kommen, würden viele versuchen, diese zu nutzen. So könnte man die illegale Einwanderung reduzieren."

In der zweiten taz besichtigt Mia Raben die einsamen Versuche, in Polen wieder eine politische Linke aufzubauen, die für viele immer noch einen schlechten Beigeschmack hat. "Der Begriff 'Lewica' (sprich: Lewiza) gilt als Schimpfwort. Er vereint die repressive Vergangenheit von vor 1989 mit den korrupten Seilschaften der Postkommunisten heute. Die Wut auf all die Apparatschiks, die nach der Wende durch zweifelhafte Deals ihre politische in wirtschaftliche Macht umwandelten, ist enorm. Das ist ein Grund dafür, warum die stärkste Partei des Landes 'Recht und Gerechtigkeit' heißt und die Linke noch im Abseits ist."

Im Feuilleton begrüßt Sebastian Domsch den Booker Prize für den irischen Autor John Banville, der sich mit seinem Roman "The Sea" in einem "Foto-Finish" gegen Kazuo Ishiguro durchgesetzt hat. Dirk Knipphals erwartet von der Großen Koalition hochgekrempelte Ärmel und einen noch nie dagewesenen Aufwand beim Konsensfinden. Gerrit Bartels war dabei, wie nicht nur der Autor Matthias Politycki, die Schriftstellerin Sybille Lewitscharoff und der Politologe Herfried Münkler bei einem Berliner Symposium zum "Wunder der Demokratie" aneinander vorbei redeten. Und Andreas Busche bespricht David Cronenbergs "A History of Violence" und sieht überall Gewalt, in all ihren Spielarten: "kathartisch, destruktiv, sadistisch, spekulativ, rechtschaffen, grotesk etc".

Schließlich Tom.

Spiegel Online, 12.10.2005

Der türkisch-armenische Journalist Hrant Dink wurde von einem Gericht in Istanbul zu einem halben Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Angeblich hat er die türkische Identität erniedrigt. Der grüne Europa-Abgeordnete Cem Özdemir erklärt den Prozess gegen einen Mann, der als Armenier und Mitglied der türkischen Reformbewegung zwischen allen Stühlen sitzt. "Teile des Justizapparats betreiben unverhohlen eine Politik, die sich gegen die EU-Absichten der AKP-Regierung und auch die türkische Bürgerrechtsbewegung richtet. Indem deren intellektuelle Aushängeschilder wie Hrant Dink oder auch der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Orhan Pamuk, vor Gericht gezerrt werden, sendet der Justizapparat ein deutliches Signal nach Ankara und Brüssel. Der Zeitpunkt dieser Anklagen ist dabei nicht zufällig. Die reaktionäre Justiz spielt damit bewusst in die Hände der Beitrittsgegner, seien es die in der EU oder die in der Türkei."

FR, 12.10.2005

Helena Waldmann konnte im vergangenen Jahr als erste westliche Regisseurin im Iran arbeiten. Die Zensurvorschriften galten trotzdem, wie sie im Interview mit Sylvia Staude erzählt. "Wir haben das Stück in Deutschland fertig inszeniert; und so kamen die Zensoren auf dem Teheraner Festival erst einen Tag vor der Premiere. In meinem Fall waren zwei Zensoren da. Die haben sich das angeguckt und dann Sachen rausgenommen, zum Beispiel einen Tanz, der projiziert wird auf die Zelte - eigentlich nur ein Schattentanz, ganz zart, man sieht keine Haut und gar nichts. Das durften wir nur als Standbild projizieren; denn wenn keine Bewegung dabei ist, geht es. Und wir mussten die Solostimme einer Frau rausnehmen, weiblicher Solo-Gesang ist verboten. Einen Tag später wurde es heftiger, da kamen nochmal neun Zensoren."

Weiteres: Thomas Medicus gibt eine Wahlempfehlung für den aus Danzig stammenden liberalkonservativen polnischen Präsidentschaftskandidaten Donald Tusk ab. "Das Transnational-Europäische der alten Hafen- und Handelsstadt, das ist es, was Europa, Polen, Deutschland jetzt braucht." Hannes Gamillscheg berichtet, dass Knut Ahnlund das Literaturnobelpreiskomitee angeblich aus Protest gegen die letztjährige Auszeichnung von Elfriede Jelinek verlassen hat. Volkmar Sigusch hält die zunehmende Zahl an bekennenden Asexuellen für das Ergebnis eines kulturellen Wandels.

Auf der Literaturseite sichtet Katharina Borchardt als Vorgeschmack schon einmal aktuelle Literatur aus dem diesjährigen Gastland Korea. Ernst Piper, der ein Buch zu Hitlers Ideologe Alfred Rosenberg verfasst hat, schildert die Entstehung des von den Nationalsozialisten 1940 gegründeten Instituts zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Werken aus dem Pariser Musee Picasso in der Neuen Nationalgalerie Berlin, und Bücher, darunter Sihem Bensedrines und Omar Mestiris Kritik neuer Sicherheitsgesetze "Despoten vor Europas Haustür" sowie Helmut Kramers und Vedran Dzihics "umfangreicher" Versuch einer "Kosovo-Bilanz".

Welt, 12.10.2005

Manuel Brug gratuliert Luciano Pavarotti ("nicht-italienisches Fach kam für seinen beschränkten Horizont kaum in Frage") zum Siebzigsten und gibt nützliche Plattentipps. Sven Felix Kellerhoff erinnert an die Rückkehr der letzten Kriegsgefangenen aus Russland vor 50 Jahren. Wieland Freund zeigt sich nicht ganz zufrieden mit der Vergabe des Booker-Preises an John Banville. Berthold Seewald kommentiert Christina Weiss' Abschied aus dem Amt der Kulturstaatsministerin.

Im Magazin berichtet Inga Griese über die Eröffnung des neuen Louis-Vuitton-Megashops in Paris.

Besprochen werden unter anderem der Film "Wallace und Gromit - Auf der Jagd nach dem Riesenkaninchen" und die Picasso-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie Berlin.

NZZ, 12.10.2005

Die Verleihung des Booker-Preises an den irischen Schriftsteller John Banville hat einige lange Gesichter provoziert, berichtet Georges Waser: "Betreten schauten bei der Bekanntgabe des Gewinners die Buchmacher drein - sie hatten den 60-jährigen Iren John Banville den spielfreudigen Briten, die rund 500.000 Pfund in den Wettlokalen hinterlegt hatten, mit 7:1 nur als Außenseiter präsentiert. Doch besteht kein Zweifel: Der vom Haus Picador (Macmillan) verlegte Banville verdient den Preis."

Weitere Artikel: Aldo Keel meldet den Skandal um Knut Ahnlund, Mitglied der Schwedischen Akademie, der gestern die Verleihung des Nobelpreises an Elfriede Jelinek kritisiert hat. Samuel Herzog resümiert angeregt die dritte Kunstbiennale von Göteborg. Und Kurt Malisch gratuliert Luciano Pavarotti zum Siebzigsten.

Besprochen werden Bücher, darunter Volker Reinhardts Buch über den "unheimlichen" Papst Alexander VI. und Ilse Aichingers "Unglaubwürdige Reisen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 12.10.2005

Kurz bevor der aktuelle Literaturnobelpreisträger morgen verkündet werden soll, hat der 82-jährige Knut Ahnlund das zuständige Kommittee unter Protest verlassen. In einem Artikel im Svenska Dagbladet von gestern, den die SZ abdruckt, nennt er die letztjährige Auszeichnung für die Schriftstellerin Elfriede Jelinek und ihr "auf nahezu unfassbare Weise auf der Stelle tretendes Werk" als Grund für seine Entscheidung. "Erniedrigung, Demütigung, Schändung und Selbstekel, Sadismus und Masochismus sind die Hauptthemen im Werk von Elfriede Jelinek. Alle anderen Aspekte des menschlichen Lebens werden ausgeschlossen. Deswegen ist ihr Werk so dürftig. Es ist überlastet von den Früchten des Fernsehens und des Internet, durchzogen von einer fauligen Mischung aus Abscheu und Faszination."

Stephan Märki, der Generalintendant des Deutschen Nationaltheaters Weimar, schreibt dem von der CDU noch zu bestimmenden Staatsminister für Kultur schon mal ins Handbuch, dass "gute Kulturpolitik mit dem Eingeständnis einer gewissen Ignoranz beginnt", was Kultur sei. Die Förderung soll sich bloß nicht auf den konservierenden Erhalt überkommener Bestände konzentrieren. "In der Frage, die sicher zu den ersten gehört, die entschieden werden, die Frage nämlich, ob die 'Kulturstiftung der Länder' mit der 'Bundeskulturstiftung' zusammengelegt werden soll, ist aus dieser Warte folgendes zu sagen: Natürlich ist es eine gute Idee, doppelte Strukturen abzuschaffen. Aber das darf nicht in dem Geist und mit der Absicht geschehen, die Gelder, die durch die Bundeskulturstiftung bisher an freie Projekte und deren Kooperation mit bestehenden Kulturinstitutionen vergeben werden, in konventionellere Aufgaben zu stecken, wie etwa dem Ankauf von Kunst für staatliche Sammlungen."

Weitere Artikel: Alexander Kissler kolportiert, dass sich der Hamburger CDU-Justizsenator Roger Kusch unter Berufung auf Hans Küng für die Sterbehilfe ausgesprochen hat. "Big, bigger, Pavarotti." Jens Malte Fischer gratuliert dem Tenor zum Siebzigsten. Auf der Medienseite stellt Uschi Treffer den Münchner Spotlight-Verlag vor, europäischer Marktführer für Sprachlernzeitschriften.

Im Literaturteil informiert Alexander Menden, dass der mit dem Booker Prize ausgezeichnete Schriftsteller John Banville bei den englischen Buchmachern nur mit einer Quote von eins zu sieben geführt wurde. Gustav Seibt fragt sich nach der Berliner Diskussionsrunde, in der diverse Autoren über "Wunder der Demokratie oder die Zuständigkeit von Prosa in unserer Zeit" diskutierten, woher eigentlich die brillante Kellnertruppe kam, die den Wein "wie aus einem Roman von Alan Hollinghurst" kredenzten. Und Franziska Augstein weiß, dass Günter Grass im französischen Aix-en-Provence bejubelt wurde, als er aus seinem Leben erzählte.

Besprochen werden das neue Album von Depeche Mode "Playing The Angel" (das Oliver Fuchs "etwas ratlos" zurücklässt), David Cronenbergs "Meisterwerk" von Film "A History of Violence" (Fritz Göttler schaudert es wohlig, "wenn Abel, der sanfte, zivilisierte Bruder, seine mörderischen Instinkte neu entdeckt"), ein Konzert mit dem Staatsorchester München unter Gustavo Dudamel, und Bücher, darunter Dan Diners Erörterungen der Fortschrittslosigkeit des Islam "Versiegelte Zeit" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).