Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.10.2005. Orhan Pamuks Friedenspreisrede erregt Aufsehen. Pamuk kritisiert eine europäische Türkenfeindlichkeit, die wiederum den türkischen Nationalismus schüre. Die FAZ wirft Pamuk einen allzu markierten Patriotismus vor. Die Welt kritisiert, dass Pamuk vom Mord an den "osmanischen Armeniern" spricht. Alles Unfug, meint die FR dazu. Die NZZ kritisiert dagegen deutsche Literaturstudenten, die nicht mal wissen, wer Pamuk überhaupt ist.

TAZ, 24.10.2005

Orhan Pamuks Dankesrede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche druckt die taz auf der Tagesthemenseite in Auszügen ab. Pamuk plädiert unter anderem für eine Annäherung von EU und Türkei, im Interesse beider Seiten. "In Europa eine Türkenfeindlichkeit zu schüren, führt dazu, dass sich in der Türkei ein europafeindlicher, dumpfer Nationalismus entwickelt. Wer an die Europäische Union glaubt, sollte einsehen, dass es hier um die Alternative zwischen Frieden und Nationalismus geht. Hier liegt die Entscheidung, die wir treffen müssen. Frieden oder Nationalismus."

Gerrit Bartels spricht in seinem Resümee der Frankfurter Buchmesse von einer "ausgeglichenen bis guten" Stimmung. Vor allem die Zeitungsverlage machen mit ihren Zusatzreihen wieder Umsatz gut. Für die traditionellen Buchläden ziehen mit der neuen Kette Weltbild! aber dunkle Wolken am Horizont auf. "Im Gegensatz zu Weltbild plus und Jokers, die wenige Bücher für wenig Geld verkaufen und vergrabbeln, soll Weltbild! eine Art Büchersupermarkt werden, 'das Buchgeschäft mit Frischegarantie', wie es in Weltbild-Kreisen fies urpsig heißt. Monatlich wechselnd bieten die Weltbild!-Filialen die Neuerscheinungen des Buchmarktes an, und anders als bei Weltbild plus und Jokers können alle lieferbaren Bücher bestellt werden."

Cristina Nord empfiehlt beim Wiener Filmfestival Viennale vor allem die Sonderreihe "Buenos Aires Dreams Itself". Hortense Pisano berichtet von der zweiten KunstFilmBiennale in Köln, auf der "Jörg Kobels Film "Kippenberger" vorgestellt wurde, in dem der Künstler auch als Rock'n Roller im Kreuzberg Ende der Siebziger zu sehen ist. In der zweiten taz stellt Robert Misik die demnächst durch Deutschland tourende österreichische Popmusikerin Christina Stürmer vor, seiner Meinung nach die erste, für die Falcos Fußstapfen nicht zu groß sind. Jutta Heess fürchtet angesichts der chinesischen Nationalspiele um die Sauberkeit der Olympischen Spiele 2008 in Peking. Stefan Kuzmany imaginiert ein aufgeregtes Gespräch zwischen Huber, Beckstein und Stoiber in Sachen bayerischer Erbfolgeregelung. Mit Häme kommentiert Jony Eisenberg die Übernahmeängste von Redakteuren der Berliner Zeitung, die einst aus der taz ausschieden, als die vergenossenschaftlicht wurde. "Es gibt kein richtiges Leben im falschen, jedenfalls nicht auf Dauer."

Im Medienteil sieht Khaled Hroub, Medienwissenschaftler und Al-Dschasira-Moderator, die arabischen Satellitenprogramme auf einem guten Weg. "Ja, seit sechs Monaten hat sich das Verhältnis zu den USA merklich verbessert. Es gab weniger Attacken aus Washington. Das liegt vielleicht an einer Einsicht bei den Verantwortlichen dort und veränderten Haltung, aber auch daran, dass sich die Qualität unseres Programms verbessert hat."

Und hier noch TOM.

NZZ, 24.10.2005

"Zwar hat Korea den Weg der Moderne mit Siebenmeilenstiefeln beschritten, doch die Tradition wartet gleich hinter der nächsten Ecke", resümiert Andreas Breitenstein den Auftritt Südkoreas bei der Buchmesse. Das gilt für die Politik ebenso wie für die Kunst. Breitenstein beschreibt einen Auftritt des Lyrikers Ko Un bei Suhrkamp. "'Arirang' trug der Lyriker Ko Un (geb. 1933) als Hommage an seinen verstorbenen Verleger Siegfried Unseld vor, ein einfaches Volkslied, das der Klage Ausdruck gibt und dem Trost Raum schafft. Während die Verse den schmächtigen Körper bebend in Besitz nahmen, war eine Irritation unter den Gästen nicht zu übersehen - Singen gehört zu den Kulturtechniken, die man hierzulande scheut, weil es Gefühle offen einsehbar macht."

"Ach Deutschland, deine Literaturstudenten", seufzt Joachim Güntner anlässlich der Verleihung des Friedenspreises an Orhan Pamuk. Güntner war vor der Paulskirche auf eine kleine Schar Germanistikstudenten gestoßen, "die neugierig fragten, wer denn da in der Paulskirche geehrt werde. Unsere Antwort provozierte das verlegene Bekenntnis, nichts mit dem Namen anfangen zu können. Auch der Zusatz, Pamuk stehe in seiner Heimat wegen seiner offenen Worte zum türkischen Völkermord an den Armeniern und zur tausendfachen Tötung von Kurden unter Anklage, brachte keine Aufhellung der Mienen. Erst die Erwähnung seines zuletzt ins Deutsche übersetzten Romans, 'Schnee', ließ bei dem einen oder anderen den Groschen fallen."

Weiteres: Markus Jakob stellt das jüngst in Valencia eröffnete Zentrum szenischer Künste vor, den von Santiago Calatrava gebauten Palau de les Arts. Nick Liebmann schreibt zum Tod der Jazzsängerin Shirley Horn.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Werken Willem de Koonings im Kunstmuseum Basel und Luc Percevals Inszenierung von "Lulu Live" in den Münchner Kammerspielen, der Silvia Stammen nicht viel abgewinnen kann.

Berliner Zeitung, 24.10.2005

Warum reden eigentlich alle über Frauen, die keine Kinder bekommen, und nicht über die sechzig Prozent der deutschen Männer, die keine Kinder wollen, fragt Ines Geipel (mehr hier). Sie hat ein paar davon getroffen: "Jordan M. ist Rettungsarzt. 'Das heißt Fitness, Fitness und nochmal Fitness', sagt der 42-Jährige. Wenn seine Einsätze es erlauben, fährt er Rad, selten unter 300 Kilometer pro Woche, dazu Krafttraining und Wellness. 'Ich hab wenig Zeit für anderes. Der Job ist hart', meint er. Und Frauen? 'Am einfachsten ist so eine Totalgestresste. Die sieht dich nicht, und du hast Status und deine Ruhe.'"

Welt, 24.10.2005

In seinem Kommentar zur Friedenspreisrede Orhan Pamuks greift Uwe Wittstock vor allem die Passage über die Ermordung der "osmanischen Armenier" auf: "Man kann darin den historisch richtigen Hinweis sehen, dass es der Vorgängerstaat der Türkei, nämlich das Osmanische Reich war, in dem die Armenier ermordet wurden - wodurch das Verfahren gegen Pamuk wegen angeblicher Beleidigung des Türkentums um so fragwürdiger wird. Andererseits könnte der Zusatz 'osmanisch' auch so verstanden werden, als gingen die 90 Jahre zurückliegenden Verbrechen die Türken von heute herzlich wenig an. Und darüber, wo die Verantwortung für jene Morde zu suchen ist, sagte Pamuk kein Wort."

Weitere Artikel: J. Michael Möller kommentiert den Umstand, dass Angela Merkel bei der Nominierung ihrer Minister nur eine Position offen gelassen hat: die des Staatsministers für Kultur. Berthold Seewald fragt sich, was Angela Merkel mit dem Bild von Katharina der Großen aussagen will, das sie sich angeblich in ihr Büro im Kanzleramt hängen will. Josef Engels interviewt den Fotografen William Claxton über seine Jazzfotos aus historischer Zeit, die gerade wieder publiziert werden. Hannes Stein hörte einer Lesung Nicole Krauss' in Berlin zu. Und Hellmuth Karasek erinnert sich an die Bedeutung, die Johannes Heesters einst für ihn hatte. Besprochen werden unter anderem eine DVD-Edition der Filme Sergio Leones.

SZ, 24.10.2005

Die SZ druckt Orhan Pamuks Dankesrede ab, die er zum Erhalt des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am Wochenende in der Frankfurter Paulskirche gehalten hat. Pamuk plädiert für einen EU-Beitritt der Türkei, preist den Roman als eine der zentralen Errungenschaften Europas und beschreibt die Rolle des Schriftstellers in der Politik. Werner Bartens erörtert, dass Viren in der subjektiven Bedrohungsskala der Menschheit derzeit ganz oben stehen, weil Computerhacker mit ihren sich selbst vermehrenden Programmen und Terroristen mit ihren Schläferzellen den metaphorischen Boden bestellt haben. Wolfgang Schreiber gratuliert dem ehemaligen SZ-Musikkritiker Karl Schumann zum achtzigsten Geburtstag. Holger Liebs schreibt zum Tod des französischen Objektkünstlers und Nouveaux Realiste Arman. Ralf Dombrowski meldet den Tod der Jazz-Sängerin Shirley Horn. Fritz Göttler rechnet auch dem dritten "Left Behind"-Film über wackere Christen nach der Apokalypse (mehr) gute Chancen in den USA aus.

Auf der Literaturseite bilanziert Ijoma Mangold in Frankfurt eine "unaufgeregte" Buchmesse. Die erstmalige Verleihung des Deutschen Buchpreises, die Präsentation Südkoreas, alles hat reibungslos funktioniert. Und sogar die bedeutende Party des schottischen Canongate Verlags hat Mangold noch gefunden. "Selbst einflussreiche Big Heads können oft Samstagabend noch nicht mit letzter Sicherheit sagen, wo die Party in vier Stunden steigen wird. Stattdessen spielten in diesem Jahr Fälle von gezielter Desinformation eine wichtige Rolle."

Besprochen werden eine Ausstellung mit dem Stundenbuch der "Tres Riches Heures" von den Gebrüdern van Limburg in Nijmwegen, Luk Percevals über weite Teile nicht über eine "Multimedia-Installation" hinaus kommende Uraufführung von "Lulu live" in den Münchner Kammerspielen, die Aufführung von Schumanns Oratorium "Das Paradies und die Peri" unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt im Münchner Herkulessaal, Kay Pollaks "enthusiastischer" Musikfilm "Wie im Himmel", und Bücher, Hans Beltings Gedanken über "Das echte Bild", Thomas Brechenmachers "letztlich apologetische" Abhandlung "Der Vatikan und die Juden" sowie Richard von Schirachs Beschäftigung mit dem "Schatten meines Vaters" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 24.10.2005

Hilal Sezgin fasst die Friedenspreisrede Orhan Pamuks (Auszüge) zusammen und kommentiert die Aufregung um den türkischen Schriftsteller, der für seine riskanten Äußerungen zum Massenmord an den Armeniern hierzulande viel gelobt wurde, "bis die Faz am Donnerstag, gerade drei Tage vor der Preisverleihung, gehört haben wollte, dass Pamuk zu seinen Äußerungen in Sachen Kurden und Armenier auf Distanz gegangen sei. Von nun wurde es immer wilder: Am Freitag machten Gerüchte die Runde, möglicherweise sei Pamuks Familie bedroht worden, daher schwenke er jetzt um... Alles Unfug, denn am Samstagvormittag erklärte Pamuk auf einer Pressekonferenz: Nein, er distanziere sich keineswegs von seinen früheren politischen Äußerungen. Gestern, am Sonntagmittag, wurde schließlich in der Paulskirche der Preis verliehen: im Rahmen einer harmonischen, würdevollen Veranstaltung, die nichts von den vorhergehenden Aufregungen verriet. Und in dieser Reihenfolge - zuerst Skandälchen, dann Preis und Freude darüber - ist es auch eindeutig besser."

Weiteres: Sylvia Staude stellt das Projekt "Die Mythen" vor, in dem 30 internationale Verlage (angeblich auch der Berlinverlag) zusammenarbeiten, um alte Erzählungen der Menschheit neu zu schreiben. In Times mager konnotiert Elke Buhr das Dosenpfand von Jürgen Trittin mit den Evianflaschen von Madonna. Christian Broecking schreibt zum Tod der Jazzsängerin und Pianistin Shirley Horn. Die einzige Besprechung widmet sich Andrij Zholdaks fragmentarischer Version von "Romeo & Julia" an der Berliner Schaubühne.

FAZ, 24.10.2005

Im Gespräch mit Joseph Hanimann verteidigt Hans-Heinrich Wrede, Vorsitzender des Exekutivrates der Unesco, die Unesco-Konvention zur kulturellen Vielfalt gegen die Vorwürfe der Amerikaner, die sich bis zuletzt dagegen sträubten: "Ihre - von Deutschland unterstützte - Anregung, ausdrücklich auf die Menschenrechte und den freien Zugang zu allen Kulturgütern zu verweisen, ist voll berücksichtigt. Das ist ihnen nicht genug. Vielleicht macht der amerikanischen Delegation manchmal Mühe, dass die Unesco eine Einrichtung ist, wo es im Unterschied zum Sicherheitsrat der Vereinten Nationen kein Vetorecht gibt."

Nachdem die FAZ neulich Orhan Pamuk "schnelle Schlauheit" attestierte, weil er im Interview mit CNN Türk seine Äußerungen zum Genozid an den Armeniern eingeschränkt habe, kritisiert Hubert Spiegel heute einen allzu markierten Patriotismus in Pamuks Friedenspreisrede: "Den 'europafeindlichen, dumpfen Nationalismus', der sich in der Türkei entwickle, schien Pamuk allein auf 'Türkenfeindlichkeit' zurückführen zu wollen. Dass türkischer Nationalismus, die Demokratiedefizite im Land, die Rolle der Frau im Islam und ganz allgemein die Unterschiede in Fragen der Kultur und Religion auch jenen im Westen Falten auf die Stirn treiben können, die dem Beitritt der Türkei offen gegenüberstehen, kam in dieser Rede leider nicht zur Sprache."

Weitere Artikel: In der Leitglosse lässt Jürgen Kaube kein gutes Haar an der Hochschulreform mit ihrer Einführungen von Bachelor- und Master-Abschlüssen. Richard Kämmerlings schreibt zum Tod des slowensichen Dichters Dane Zajc. Nils Minkmar und Eberhard Rathgeb tragen zum Abschluss der Buchmesse launige Impressionen zusammen. Wolfgang Sandner schreibt zum Tod der Jazzsängerin Shirley Horn. Gustav Falke resümiert ein Berliner Symposion zur Archäologie im Iran. Martin Otto bemerkt, dass im Brandenburgischen Biografischen Lexikon, im Gegensatz zu ähnlichen Werken anderer Bundesländer, auch schon Lebende gewürdigt werden, was zu süßlichen Einträgen über Stolpe und Co. führt.

Auf der Medienseite führt Michael Hanfeld ein Interview mit dem Deutschlandchef des 3i-Konsortiums Stephan Krümmer, der aber nicht sagen will, warum 3i aus den Verhandlungen um den Berliner Verlag ausgestiegen ist und der Gruppe Mecom um David Montgomery das Feld überlässt. Und Frank Kaspar berichtet vom Rundfunk- und Fernsehfestival Prix Europa.

Auf der letzten Seite würdigt Jordan Mejias die New Yorker Juilliard School, die ihr hundertstes Jubiläum feiert. Oliver Jungen berichtet über Forschungsergebnisse zu den Detmolder Kultorten der "Externsteine", deren von Nazis und Esoterikern behauptete Herkunft aus germanischer Zeit bis heute nicht nachgewiesen werden konnte. Und Leo Wieland schreibt ein Profil über den spanischen Thronfolger Felipe, der jüngst die Prinz-von-Asturien-Preise vergab.

Besprechungen gelten einer Ausstellung über die einst von Alexander dem Großen besiegten Achämeniden in London (verfasst vom Oxforder Althistoriker Robin Lane Fox), der Film "Kiss, Kiss, Bang, Bang" von Shane Black, "Die Zeit und das Zimmer" von Botho Strauß in der Regie von Dieter Giesing in Bochum, das Stück "Schändet Eure neoliberalen Biografien" von Rene Pollesch und Luk Percevals Inszenierung von "Lulu live" in München sowie einige Sachbücher, darunter eine Abhandlung über Leonardo da Vinci von Martin Kemp.