Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.10.2005. Im Interview mit der taz spricht Tilman Fichter über den Antisemitismus der 68er und die Umtriebe des Berliner Verfassungsschutzes, der den Terror nach Kräften förderte. In der FR erklärt Thomas Ostermeier, warum Ibsen zum Verständnis der Gegenwart besser geeignet sei als Tschechow. Der Tagesspiegel gibt einen Abriss der deutschen Denkmalschutzdebatte. In der Welt spricht Pawel Huelle über die Wahl Lech Kaczynskis zum polnischen Präsidenten. Und: der Berliner Verlag ist verkauft, meldet die FAZ.Net.

TAZ, 25.10.2005

1969 verübte eine linksmilitante Gruppe einen Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in Berlin. Die Hintergründe hat Wolfgang Kraushaar in seinem Buch "Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus" aufgedeckt. Seitdem wird darüber gestritten, ob die deutschen 68er von einem linken Antisemitismus infiziert waren. Tilman Fichter, der Bruder des Attentäters Albert Fichter, sagt dazu in einem langen Interview , es war tabu darüber zu reden, "dass es so etwas wie Antisemitismus in der Linken gibt". Vor allem Dieter Kunzelmann war für Fichter eindeutig ein Antisemit. Sein Bruder habe ihm "erst vor wenigen Wochen" Folgendes erzählt: "Die Bombe, die nicht explodieren konnte, war eingehüllt in einen Mantel von Tommy Weisbecker - und der kam aus einer jüdischen Familie. Sein Vater war - so weit ich weiß - als Kommunist und Jude im KZ Buchenwald gewesen. Und der Kunzelmann, der Drecksack, sollte endlich erklären, wie er auf die Idee gekommen ist, die Bombe in den Mantel von Weisbecker einzuwickeln. Tommys Vater war Zahnarzt. Tommy hat den Tresor seines Vaters auf Anweisung der Tupamaros aufgebrochen, um daraus Zahngold zu klauen. Das ist alles ziemlich furchtbar. Denn schließlich hatten die Nazis ihren jüdischen Opfern das Zahngold aus den Kiefern herausgebrochen. Was hat der Kunzelmann für eine Psyche? Schon 1984 hätte er einen Prozess gegen mich anstrengen können. Aber er tut es nicht. Er weiß genau, warum er es nicht tut."

Besprochen werden zwei Uraufführungen an den Münchner Kammerspielen: Luc Percevals "Lulu"-Bearbeitung und Rene Polleschs neue Diskurstheater-Soap "Schändet eure neoliberalen Biografien!".

Schließlich Tom.

NZZ, 25.10.2005

Ewald R. Weibel, emeritierter Professor und früherer Direktor des Anatomischen Institutes der Universität Bern, fragt anlässlich der Ausstellung eines chinesischen Kunstwerks, bei dem der Kopf eines menschlichen Fötus einem Tierkadaver mit Möwenflügeln aufgesetzt worden war, ob "Künstler ohne ethische Grenzen menschliches 'Körpermaterial', auch von Toten, zu Kunstwerken verarbeiten dürfen - und ob es zulässig ist, solche Kunstwerke einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren" und schließlich, "ob für Kunst andere ethische Wertmaßstäbe gelten können als für die medizinische Forschung, die diesbezüglich strengen Vorschriften unterstellt ist". Samuel Herzog schreibt zum Tod des deutschen Pop-Künstlers Fritz Köthe und zum Tod des französisch-amerikanischen Objektkünstlers Arman.

Besprochen werden die Performance-Installation "Human Writes" von William Forsythe und dem Rechtsprofessor Kendall Thomas in der Schiffbauhalle (es geht darum, "die 'mühsame Geschichte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, ihren strittigen Ursprung, ihre andauernden Widersprüche, die fortgesetzten Schwierigkeiten bei ihrer Umsetzung' künstlerisch nachzuvollziehen", zitiert Christina Thurner Forsythe und Thomas), ein Konzert des Zürcher Amar-Quartetts mit Hindemith, Mozart und Schubert in der Tonhalle und Bücher, darunter Lizzie Dorons Roman "Ruhige Zeiten" und Matthias Göritz' Roman "Der kurze Traum des Jakob Voss" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 25.10.2005

Im Interview mit Peter Michalzik erzählt Regisseur Thomas Ostermeier, warum er Ibsen für viel geeigneter hält, unsere Gegenwart widerzuspiegeln als Tschechow: "Eine Figur wie ein Jungwissenschaftler, der seine Professur nicht unbedingt verdient hat, aber doch haben muss, um sein privates Glück auf sichere Füße zu stellen, ist doch nachvollziehbar. Oder Hedda. Etabliert sein, um dann zu fragen: Mist, wie bin ich denn hierher geraten. Die gesicherte Rente, das schöne Haus, dem Mann Kinder gebären. Das hat viel mit uns, mit meiner Lebenssituation zu tun. Was macht man, wenn man sich in gesicherten Bahnen befindet, aber metaphysisch leer ist. Oder was heißt es, mit Glück nichts anderes mehr zu verbinden als Sicherheit. Man steckt in irgendeiner Form von Mittelmaß fest. So stehen wir vor einem wüsten Land, ohne private oder politische Visionen. Wie bei Ibsen." Morgen hat "Hedda Gabler" an der Berliner Schaubühne Premiere.

Weitere Artikel: Der Medientheoretiker Manfred Schneider erklärt, was George W. Bush von Terror- bis Orkanbekämpfung falsch macht - natürlich alles. Oliver Herwig besucht die von Coop Himmelb(l)au geplante Erweiterung der Münchner Akademie der Bildenden Künste. In Times mager kommentiert Thomas Medicus die Wahl Lech Kaczynskis zum Präsidenten Polens.

Besprochen werden Ereignisse der KunstFilmBiennale in Köln und ein Genfer "Tannhäuser" in der Regie von Oliver Pys.

Auf der Medienseite schildert Hannes Gamillschek den Skandal um einige Karikaturen des Propheten Mohammed in der dänischen Zeitung Jyllands-Posten, die prompt zu Morddrohungen führten.

FAZ, 25.10.2005

Ganz aktuell: Ausführlich berichtet Michael Hanfeld im FAZ.Net vom Verkauf des Berliner Verlags.

In einem Plädoyer gegen das Amt des Kulturstaatsministers klärt Patrick Bahners unter anderem auch über seinen Kulturbegriff auf: "Die Umgangsformen gehören hier dazu, die bei manchen fehlgeleiteten Einwanderern zu wünschen übrig lassen, aber - es zeichnet ein Kulturvolk aus, dies einzugestehen - auch bei etlichen Einheimischen."

Weitere Artikel: In der Leitglosse berichtet "Rh" über das dubiose Projekt eines Berliner Künstlers, der einen Austausch Berliner und israelischer Mauerstücke plant. Kerstin Holm erkundet die Beziehung Angela Merkels zu Katharina der Großen, deren Porträt ihr Kanzlerbüro schmücken wird, und findet, dass die Zarin eigentlich eher als Vorbild für Putin taugt. Niklas Maak schreibt zum Tod des französischen Skulpteurs Arman. Oliver Pfohlmann verfolgte ein Symposion, bei dem eine "Kommentierte Digitale Gesamtedition" der Werke Musils vorgestelt wurde. Andreas Rosenfelder hat sich eine Retrospektive der Filme Theo van Goghs in Münster angesehen. Matthias Grünzig begrüßt die Umwidmung des Jüterboger Mönchenklosters in ein Kulturzentrum. In der Serie "Deutsche gesucht" rät Dirk Schümer von einer Auswanderung in die Toskana, die durch das unweigerliche Altern der entsprechenden Fraktion zu einem Rentnerparadies werde, eher ab, aber immerhin: "Wer im Proseminar über mediceische Gartenkunst gut aufgepasst hat, kann einem deutschen Industriellen stilgerecht die Zypressen kupieren..."

Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld über einen neuen Vorschlag des ZDF zur Gebührenermittlung. Jürg Altwegg stellt neue Projekte für Sonntags- und Gratiszeitungen in der Schweiz vor. Michael Hanfeld meldet auch, dass der Verkauf des Berliner Verlags an die britische Firma Mecom unter David Montgomery unmittelbar bevorstehe. Gemeldet wird, dass sich das Netzwerk Recherche gegen einen Verkauf des Verlags an britische Investoren wendet (als nächstes hätten wir dann gern einen Aufruf gegen die Aktivitäten von WAZ und Springer in Osteuropa).

Auf der letzten Seite erinnert Frank-Rutger Hausmann an das Treiben des Astrologen Karl Ernst Krafft unter den Nazis. Gina Thomas berichtet, dass die dringend notwendige Reform des britischen Bildungswesens zu scheitern droht. Christian Schwägerl schreibt ein Porträt über den "Zugvogel".

Besprochen werden ein Konzert des Cleveland Orchestras unter Franz Welser-Möst in Frankfurt, ein Recital des hoffnungsvollen Tenors Joseph Calleja mit französischem Repertoire, die große Russland-Ausstellung im New Yorker Guggenheim-Museum, der Film "Fremde Haut" von Angelina Maccarone und William Forsythes Choreografie "Human Writes" in Zürich.

Welt, 25.10.2005

In einem leider sehr kurzen Interview fragt Gerhard Gnauck den Danziger Autor Pawel Huelle ("Castorp"), ob mit dem Sieg Lech Kaczynskis über Donald Tusk, der wie Huelle aus Danzig stammt, der mythische Ruf der Stadt als Hort der Solidarnosc verbraucht ist. "So kann man das nicht sagen. Der Wahlsieger Kaczynski versteht sich selbst als Vollender der Solidarnosc-Revolution, und so haben ihn auch viele Wähler gesehen. Er will die ehemaligen Kommunisten zur Rechenschaft ziehen. Er kritisiert den Runden Tisch von 1989 als faulen Kompromiss, der nur so lange seine Berechtigung gehabt habe, wie russische Truppen in Polen standen, und als Quell allen heutigen Übels, aller großen Korruptionsaffären. Der Solidarnosc-Mythos ist also mutiert. Kaczynski hat das 'solidarische Polen' dem 'liberalen Polen' Tusks entgegengesetzt."

Weiteres: Wolf Lepenies verfolgt anlässlich einer Pariser Ausstellung die Karriere der Melancholie über die Jahrhunderte hinweg und macht sie zum Europäer. Johnny Erling berichtet von der gelungenen und erstmaligen Aufführung von Wagners "Ring des Nibelungen" in Peking durch das Nürnberger Staatstheater. Dass die örtlichen Medien warnten, der 17-stündige Zyklus sei "selbst für gesunde Menschen eine Prüfung für ihre Durchhaltekraft", konnte die Wa-mi, die Wagnerfans, nicht aufhalten. Paul Badde informiert über die Auseinandersetzungen Silvio Berlusconis mit den Kulturschaffenden Italiens, die quer durch die politischen Lager gegen die radikalen Sparpläne der Regierung protestieren. Besprochen werden unter anderem Stevie Wonders Album "A Time To Love", eine Platte zum "Reinhören", sowie eine Doppelpremiere des Puccini-Erstlings "Le villi" und der Künstlerkurzoper "Osud" ("Schicksal") von Leos Janacek an der Wiener Staatsoper.

Auf der Medienseite beschreibt Jörn Lauterbach, wie das Magazin Park Avenue neue Standards journalistischer Distanz definiert: durch einen Artikel Alexander von Schönburgs über seine Schwester Gloria von Thurn und Taxis und einen Artikel Michael Jürgs' über seinen Kumpel Stefan Aust.

Tagesspiegel, 25.10.2005

Am Sonntag wird die wiedererstandene Frauenkirche in Dresden eingeweiht. Bernhard Schulz gibt einen Abriss der Denkmalschutzdebatte in Deutschland, die seit dem Streit um die Erneuerung des Frankfurter Goethehauses 1949 (mehr) zwar ruhiger wurde, aber nie einfach war. "Die Frage von Abriss, 'entschlacktem' Wiederaufbau oder historisch getreuer Restaurierung verlagerte sich auf die Fachebene, in der Sachzwänge die Entscheidung zu diktieren schienen. Gleichwohl blieb Dirks? moralisches Verdikt wirksam: dass in dem Land, das den Krieg vom Zaun gebrochen hatte, der 'Spruch der Geschichte' als 'endgültig' anzunehmen sei. Zerstörung als gerechtes Strafgericht - diese Sicht bildet bis heute das Fundament des Dogmas, dass verlorene Substanz nicht neu geschaffen werden dürfe."

SZ, 25.10.2005

Noch ganz euphorisiert berichtet Holger Liebs von der Londoner Messe für Gegenwartskunst, wo auch unerwartete Kunstliebhaber auftauchen. "Arbeiten von über 2000 Künstlern haben die rund 160 Galerien der Frieze ausgestellt - 450 Kunsthändler hatten sich beworben. Und dennoch reichte das Kunstangebot nicht aus. Bei weitem nicht. Ein betuchter Sammler, der in Lissabon und Rio de Janeiro wohnt, wollte am ersten 'Frieze'-Tag ein wenig über den Kauf einer Arbeit des Lichtzauberers Olafur Eliasson nachdenken (Beispiele). Diese gab es in dreifacher Ausführung, nur eins der Werke war schon reserviert. Als der Mann nach einer halben Stunde zum Messestand zurück kam, waren sie alle verkauft. Für fünf- oder sechsstellige Beträge. Die Kunstmessen sind heute, was früher einmal Deauville oder St. Tropez gewesen sein mögen. Am Rande der 'Frieze' sah man Claudia Schiffer, von allen Bodyguards verlassen, auf der Straße auf ein Shuttle warten. Minutenlang."

Weiteres: Als Ausweg aus der "verschachtelten" Lage rund um die deutsch-polnische Vertriebenendebatte plädiert Thomas Urban für eine gemeinsame Aufarbeitung des Warschauer Aufstands von 1944. Der neue Präsident Lech Kaczynski ist noch Oberbürgermeister der Hauptstadt. Thomas Steinfeld hält nichts von der Forderung nach einer Leitkultur, die ohnehin nur die Angst vor dem Fremden und das Unbehagen an einer herrschaftslosen Kulturszene ausdrücke. Wolfgang Jean Stock besichtigt den "missglückten" Erweiterungsbau der Kunstakademie in München, der von Coop Himmelb(l)au verantwortet wurde (Bilder). In der Zwischenzeit beschwert sich eine unausgeschlafene Evelyn Roll über den Director's Cut, eine Therapieform für "professionell degenerierte" Filmregisseure. Anke Sterneborg unterhält sich mit Schauspielerin Catherine Zeta-Jones über "Die Legende des Zorro" und die Vorzüge des Wohnens in Europa (die Ruhe der Peripherie). "skoh" meldet, dass man Zweifel an der Provenienz eines Kunstwerks erst mit den entsprechenden Beweisen öffentlich äußern darf. Annette Lettau erfährt auf einer Tagung mehr über die Hintergründe der im Zweiten Weltkrieg angefertigten Sammlung von Farbdias der Wand- und Deckenmalerei von Sakral- und Profanbauten (die komplett online ist) und kürt Carl Lamb zum besten Fotografen.

Wolf-Dieter Ring, Präsident der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien, sieht die Übernahme der (bei München beheimateten) Pro Sieben Sat 1 Media AG durch den Springer-Verlag im Interview auf der Medienseite nicht so eng. "Hochproblematisch fände ich nur, wenn sich Pro Sieben Sat 1 in bestimmten Fragen mit der anderen großen Senderfamilie - RTL von Bertelsmann - zusammentäte, zum Beispiel bei technischen Innovationen oder auf dem Werbemarkt. Doch Springer hat glaubhaft erklärt, der Wettbewerb mit Bertelsmann werde intensiver."

Besprochen werden ein Konzert der Band "White Stripes" in München, Annette Pullens Inszenierung von Ralf Rothmanns Ruhrpott-Roman "Stier" in Essen, Paavo Järvis Auftritt mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden und dem Pianisten Yundi Li in Dresden, Christian Thielemanns sehr dynamisches Heimspiel mit den Münchner Philharmonikern und Werken von Claude Debussy und Johannes Brahms (Wolfgang Schreiber vermutet, dass Thielemann, "nach dem Zuspruch von Papst Benedikt im Selbstvertrauen gestärkt, besonders energisch, ja emphatisch musizieren wollte".), Stevie Wonders "ganz gutes" Album "A Time to Love" , und Bücher, darunter Michael Kittners Geschichte des "Arbeitskampfs", Gerhard Roths Roman "Das Labyrinth" sowie Rainer Merkels Roman "Das Gefühl am Morgen" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).