Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.10.2005. Die FAZ stellt sich auf die nördliche Freitreppe des künftigen Berliner Hauptbahnhofs und erblickt das Nichts. In der taz unterhält sich Gabriele Goettle mit der Berliner Buchhändlerin Bettina Wassmann über die großen sechziger Jahre in Berlin. Die Welt verteidigt den katholischen evangelischen Theologen Klaus Berger gegen die Zeit. Der Tagesspiegel empfiehlt die Berliner Philharmoniker grundsätzlich als jung und innovativ

TAZ, 31.10.2005

Gabriele Goettle unterhält sich mit der Buchhändlerin Bettina Wassmann, die im Berliner Literaturbetrieb der 60er groß geworden ist und sie alle kennt: Marga Schöller, Andreas Wolff, oder Klaus Wagenbach, der gerade seinen Verlag eröffnet hatte. "Wir sind natürlich hingefahren. Ich hatte damals einen wunderbaren Opel Kapitän übrigens, mit dem bin ich immer mit Wolff ? wenn die Tür zufiel, klang das wie bei einem Geldschrank. Perfekt! Gut, also wir trafen dort auf Ingeborg Bachmann, fuhren mit ihr im Aufzug plaudernd hoch, und sie fand das so amüsant, dass sie einfach auf den Abwärtsknopf gedrückt und gesagt hat, reden wir doch noch ein bisschen. Berlin war ja damals wie ein Aquarium, wir sind zu allen Lesungen in die Akademie der Künste gegangen, an Mayröcker erinnere ich mich, an ihr 'Arbeitstirol', so hieß es, glaube ich, an Thomas Bernhard. Ach ? damals lebte Helen Wolff noch, die Frau von Kurt Wolff von Pantheon Press. Und der alte Bondy."

Auf der Medienseite berichtet Oliver Gehrs, dass Stefan Aust nicht mehr das uneingeschränkte Vertrauen der Eigentümer besitzt. Der englische Spiegel liegt auf Eis, und auf der nächsten Gesellschafterversammlung soll über die zuletzt recht unionslastige politische Ausrichtung des Magazins gesprochen werden.

In der zweiten taz stellt Jan Feddersen angesichts der Bekundungen des iranischen Präsidenten sowie des "Aufmarschs der Pöbelperser" fest, dass Hassparolen in Deutschland keine Chance mehr haben. In der Reihe "Spuren der Jugend" lässt sich Henning Kober wieder von geerdeten Jungabgeordneten desillusionieren.

Und Tom.

NZZ, 31.10.2005

Enthusiastisch berichtet Paul Jandl vom Wiener Filmfestival Viennale, auf dem er Glanzlichter des proletarischen Kinos erlebt hat. "Michael Glawoggers 'Workingman's Death' etwa filmt ukrainische Minenarbeiter, nigerianische Schlachter und pakistanische Schweißer; es sind Bilder einer existenziellen Vergeblichkeit, die wiederum in einem der subtilsten Beiträge des Festivals ihre Ergänzung haben. Cristi Puius 'Moartea Domnului Lazarescu' zeigt das langsame Sterben des armen Herrn Lazarescu in einer präzise gefilmten Nachtfahrt durch die Kliniken von Bukarest. 'Ich bin der Rand!', ruft hingegen die brasilianische Müllsammlerin Estamira von den Hügeln einer Halde. Marcos Prados Dokumentation über Wahn und Armut in den Suburbs von Rio de Janeiro wurde am Ende der Viennale der Fipresci-Preis der internationalen Filmkritik zugesprochen."

In einem ganzseitigen Beitrag stemmt sich Uwe Justus Wenzel gegen den Versuch der amerikanischen (und mittlerweile auch deutschen) Anti-Darwinisten, die Evolutionstheorie und damit die Naturwissenschaft zu einer Weltanschauung herabzustufen.

Besprochen werden Martin Scorseses "großartiger" Bob-Dylan-Film "No Direction Home" auf DVD, das Festival "jazzonze+" in Lausanne, eine Ausstellung über Kunst in Serbien zwischen 1989-2001 im Museum für zeitgenössische Kunst in Belgrad, die Aufführung von Engelbert Humperdincks wohl nicht zu unrecht von den Bühnen verschwundenen "Königskinder" in München, Heinz Spoerlis stimmungsvolle "Schwanensee"-Version am Opernhaus Zürich.

FR, 31.10.2005

Der Schriftsteller Arno Lustiger weist auf Minka Pradelskis Debütroman "Und da kam Frau Kugelmann" hin, der von seinem Heimatort handelt, dem oberschlesischen Bedzin in Polen. Rüdiger Suchsland resümiert die 39. Hofer Filmtage, auf denen er unter anderem Katja Dingenbergs Essayfilm "Ich Dich auch" sowie Andreas Dresens "Sommer vorm Balkon" gesehen hat. Hans-Jürgen Linke stellt das neuformierte Liberation Music Orchestra (mehr) vor, das am Donnerstag das Berliner Jazzfest eröffnen wird. In Times mager schwärmt Hilal Sezgin von der unerschütterlichen Gemütsruhe eines kürzlich im Fernsehen betrachteten Faultiers.

Der SWR-Intendant Peter Voß begründet im Gespräch mit Daland Segler die geplante Verfasssungsklage der ARD gegen die letzte Gebührenfestsetzung und erklärt das politisch "anschmiegsame Verhalten" des ZDF. "Das ZDF ist als zentrale Anstalt in stärkerem Maße politischer Einflussnahme ausgesetzt als die ARD - das ist ein Grund für die besondere Vorsicht bei den Kollegen auf dem Lerchenberg. Man muss sich ja nur die Zusammensetzung des ZDF-Verwaltungsrats ansehen, um zu wissen, dass der politische Spielraum des ZDF-Kollegen enger ist als der von neun ARD-Intendanten."

FAZ, 31.10.2005

Wer künftig am Berliner Hauptbahnhof ankommt, erblickt im Süden das Kanzleramt, auf der nördlichen Freitreppe aber das Nichts, fürchtet Regina Mönch, die sich auf die verlassene Industrielandschaft vorgewagt hat: "Bis an den Horizont kann der Blick frei schweifen, und der berühmte Himmel über Berlin entfaltet hier ganz ungestört eine atemberaubende Weite." Und "kein Makler hat bisher genauer sagen wollen, was dorthin wirklich und wann gebaut werden soll. Auf Kundenwünsche werde man unverzüglich reagieren, heißt es allenthalben sibyllinisch, auch ist von großen 'Zeitfenstern' die Rede. Damit sind die nächsten zwanzig Jahre gemeint. Wohnungen? So was belebt noch jede Ödnis. Wohnungen in Berlin, sagen dann die Makler, davon gibt's schon jetzt zu viele. Auch leben hier zu viele Lebenskünstler und zu wenige mit richtigem Geld. Hotels, Bürohäuser? Vielleicht. Aber davon hat die Stadt inzwischen auch mehr als genug. Kaufhäuser? Kein Kommentar."

Weitere Artikel: Im Aufmacher gratuliert Gerhard Stadelmaier dem Regisseur Dieter Dorn zum Siebzigsten. Felicitas von Lovenberg würdigt den Bleistift von Faber-Castell, der hundert wird. In der Leitglosse stellt Jürgen Kaube den Landrat Axel Gedaschko vor, der für ein besseres Amtsdeutsch eintritt. Dieter Bartetzko liefert Impressionen von der Weihe der Frauenkirche. Im Interview mit Hubert Spiegel erklärt Brigitte Kronauer, warum sie aus dem Verband der Schriftsteller austritt - der Verdi-Gewerkschaftsboss Frank Bsirske hat sich für einen Erhalt der Atomkraft ausgesprochen, und der VS gehört zu Verdi. Oliver Jungen gratuliert dem Historiker Eberhard Weis zum Achtzigsten. Jordan Mejias liest amerikanische Zeitschriften und empfiehlt unter anderem das neue Magazin n+1.

Für die Medienseite hat sich Michael Borgstede einige der Fernsehserien angesehen, die zu Ramadan in arabischen Sendern laufen, darunter eine syrische Serie, die es wagt, islamistische Selbstmordattentäter zu verdammen.

Für die letzte Seite hat Paul Ingendaay den spanischen Historiker Carlos Blanco Escola getroffen, der zum dreißigsten Todestag Francos eine neue Biografie des Caudillo präsentiert. Und Thomas Wagner würdigt den Künstler Richard Artschwager, der den den Wolfgang-Hahn-Preis 2005 der Gesellschaft für Moderne Kunst am Museum Ludwig erhalten hat.

Besprochen werden Lars Kraumes Film "Keine Lieder über Liebe" mit Jürgen Vogel und Heike Makatsch, Humperdincks Oper "Königskinder" in München, Reinhard Jirgls neue Roman "Abtrünnig" und einige Neuerscheinungen aus der akademischen Welt.

Welt, 31.10.2005

Robert Leicht, ehemaliger Chefredakteur der Zeit, hat vor kurzem den Fall des Professors Klaus Berger bekanntgemacht, der als evangelischer Theologe in Heidelberg lehrte, obwohl er Katholik ist. Gerhard Besier verteidigt Berger und vermutet hinter dem Artikel von Leicht eine Intrige interessierter Kreise: "Im Nebenamt ist Leicht Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin, was manche Beobachter zu der Annahme verleitet, in ihm einen Vertrauten des Ratsvorsitzenden der EKD zu sehen, des früheren Heidelberger Theologieprofessors und heutigen Berliner Bischofs Wolfgang Huber." Und weiter: "Sollten die Vermutungen zutreffen, dass Leicht mit seiner Philippika den unbequemen Kritiker Berger zum Schweigen bringen und seinem Freund Huber einen Gefallen tun wollte, hätte er den beiden Großkirchen einen Bärendienst erwiesen. Denn sollte der 'Fall' eine breite Diskussion lostreten, wäre es um den gegenwärtigen Bestand der staatlichen theologischen Fakultäten schlecht bestellt."

Weitere Artikel: Hanns-Georg Rodek resümiert die Filmtage von Hof. Matthias Heine porträtiert die Countrysängerin Holly Williams, die aus der königlichen Familie des Genres stammt: "Ihr Großvater war der Jahrhundertmusiker Hank Williams, ihr Vater ist Hank Williams Jr., und Hank Williams III. ist ihr Halbbruder." Wieland Freund gratuliert Dieter Dorn zum Siebzigsten.

Besprochen werden Wayne McGregors Choreografie "Amu" in Essen, die Ausstellung "Monet und Camille" in Bremen, die Ausstellung "Die Fünfziger Jahre - Alltagskultur und Design" in Hamburg und Humperdincks Oper "Königskinder" in München.

Im Forum greift Johann Michael Möller Spekulationen um das Amt des Kulturstaatsministers auf. Im Magazin erzählt Marina Küchen die Geschichte der Tibeterin Soname Yangchen, deren Familie in der Kulturrevolution verfolgt wurde und die heute als Sängerin im Londoner Exil Erfolge feiert.

Tagesspiegel, 31.10.2005

Einen direkten Anlass gibt es nicht, also empfiehlt Frederik Hanssen die Berliner Philharmoniker grundsätzlich als "jung und innovativ, neugierig, polyglott und beweglich" - und damit als vorbildlich für das ganze Land: "Lautlos - soweit man das bei einem Sinfonieorchester sagen kann - hat sich in den letzten Jahren ein Generationswechsel vollzogen. Längst ist bei den abendlichen Auftritten der Philharmoniker der Altersdurchschnitt auf dem Podium deutlich niedriger als im Saal. Junge, bestens ausgebildete, hochmotivierte Spezialisten sitzen da, die ganz selbstverständlich alle musikalischen Sprachen sprechen. So duftig und dabei gleichzeitig von bestechender intellektueller Eleganz dürfte beispielsweise Claude Debussy seine Musik zu Lebzeiten nie gehört haben. Selten sind die Auftritte der alten Pultstars a la Maazel und Muti geworden; auch ohne die programmatisch eingreifende Hand eines Intendanten haben die Philharmoniker sich vor allem solche Maestri eingeladen, die sie ästhetisch herausfordern. Ob Raritäten des Repertoires, Neue Musik oder historische Aufführungspraxis, die Neugier kennt keine Grenzen."

SZ, 31.10.2005

Steffen Kraft stellt Joanne Moar und ihr Projekt "Becoming German" vor, für das die neuseeländische Künstlerin im vergangenen Sommer durch Deutschland gereist ist, um Kindheiten zu sammeln. "Die Fotos dieser Wanderschaft hat Moar im Internet veröffentlicht (dort kann man sich auch eine Kindheit basteln lassen). Sie erinnern nicht zufällig an Gemälde aus der Romantik. Damals lauschten Wanderschriftsteller den Hausmägden die Volksmärchen ab. Auch Moar sucht das Deutsche nicht bei den Klassikern, sondern bei den Menschen, in ihren Geschichten. Eine deutsche Leitkultur, die Jet-Ski-Fahrer, TKKG-Hörer und Bauernkinder verbindet, hat sie aber nicht gefunden. Die größte Einigkeit herrsche noch in der Kultur des Kindergeburtstags: 'Fast alle essen Würstchen und spielen Topfschlagen - aber das reicht wohl kaum.' Die blaue Blume bleibt verborgen."

Weiteres: Ob in diesem Jahr mit Papstwechsel und Kirchentag die Rechristianisierung Europas eingeläutet wurde, will Franz Walter nicht bestätigen, die Großkirchen zumindest haben sich als zäher erwiesen als geglaubt. Christopher Schmidt weiß, dass der Intendant des Münchner Residenztheaters Dieter Dorn, der heute seinen 70. Geburtstag feiert, nur die "Verbohrtheit einerseits, Kunstgewerblichkeit andererseits" fürchten muss. In kurzen Grüßen gratulieren Kollegen aus dem Kulturbetrieb wie Jürgen Flimm, Elmar Goerden, Jürgen Rose oder Michael Krüger. Tobias Lehmkuhl verbringt die halbjährliche "Lange Nacht" in der Berliner Akademie der Künste, schläft aber bei der "konfusen" Rede des Präsidenten Adolf Muschg doch beinahe ein. Thomas Steinfeld meldet, dass nach der neuerlichen Sitzung des Rechtschreibrats nun alles wieder ein wenig mehr beim Alten bleibt. Gemach, gemach, ruft Jens Bisky den Vorabkritikern des noch nicht bestimmten Kulturstaatsministers zu. Wolfgang Schreiber wird bei einem Fest von acatech, dem Dach- und Lobbyverband der Technikwissenschaften, ganz schwindlig vor lauter patriotischen Beschwörungen.

Im Literaturteil wird die gekürzte Dankesrede Karl Heinz Bohrers zum Erhalt des Großen Literaturpreises der Bayerischen Akademie der Schönen Künste abgedruckt. Er verteidigt die Literatur (und ihre Exegeten) gegen die Kulturwissenschaft, die Geschriebenes unkorrekterweise als Steinbruch für soziokulturelle Fakten missbrauche. "Wenn wir erkennen, dass die attische Tragödie nicht die Stadt ist und dass Baudelaires Schwermut keine Pariser Archäologie darstellt - was eine Mehrheit von Literaturhistorikern nicht aufhört zu denken -, dann haben wir die Differenz von Kultur und Literatur verstanden." Und Sebastian Handke benennt die Höhepunkte der Jahrestagung des Berliner Zentrums für Literaturforschung (mehr).

Auf der Medienseite stellt Jochen Temsch die deutsche Ausgabe der Joggerzeitschrift "Runner's World" vor.

Besprochen werden Andreas Homokis "konfuse" Version von Engelbert Humperdincks "Königskinder" im Münchner Nationaltheater, Marilyn Agrelos Tanzfilm "Mad Hot Ballroom", Eike Gramms Inszenierung von Alban Bergs "Lulu" in Athen, die Aufführung von Wolfgang von Schweinitz' "Plainsound Sinfonie" unter Franck Ollus bei der Musica Viva in München, und Bücher, darunter der erste Band "Cartagena und Barranquilla" mit journalistische Arbeiten von Gabriel Garcia Marquez aus den Jahren 1948 - 1952, mehrere Betrachtungen der jüngeren Geschichte Englands sowie Ian Kershaws Studie über Lord Londonderry und "Hitlers Freunde in England" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).