Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.12.2005. Die NZZ schämt sich für das neue Schweizer Kabinett von Gerhard Schröder. Die taz staunt über die Dichtkunst Xavier Naidoos. In der SZ begrüßt Andrew Wylie die digitale Bibliothek von Google. Die FAZ will ein Zentrum gegen Vertreibungen mit europäischer Dimension. In der Welt erklärt der Exorzist des Vatikans, warum Gott das Böse schuf.

NZZ, 02.12.2005

"Herr Schröder, das ist Ihr neues Kabinett, Ihre Redaktion", begrüßte der Blick in seinem redaktionellen Teil den als Berater für Ringier engagierten Gerhard Schröder. "Was für eine Kapitulation des Journalismus!", ruft ras. auf der Medien- und Informatikseite. "Noch während Schröders Regierungszeit empfahl sich der Zürcher Medienkonzern als Alpenreduit für den vielkritisierten Politiker, der zu Hause nicht einmal mehr auf die Schützenhilfe der linken Medien zählen konnte. Der PR-Effekt zugunsten von Ringier dürfte kaum nachhaltig sein. Die Verbandelung dokumentiert aber die internationalen Ambitionen des Konzerns. Vielleicht wird Schröder bei Putin ein gutes Wort einlegen können, damit das Zürcher Medienhaus auch in Russland Fuß fassen kann. Dies als Dankeschön für die devote Behandlung."

Im Feuilleton stellt Markus Jakob einen Film des argentinischen Regisseurs David Mauras vor, der den Selbstmord Walter Benjamins hinterfragt: "Quien mato a Walter Benjamin...". Jakob ist nicht ganz unbeeindruckt. "Gewiss, Benjamin soll, nach eigener Aussage seit dem Vorabend mit Morphium vollgepumpt, Henny Gurland am Morgen seines Todestags den bekannten, seinen Selbstmord ankündigenden Brief an Adorno übergeben haben, dessen Original freilich verschollen ist. Umgekehrt macht die Befragung diverser älterer Ortsbewohner - mehr als die der internationalen Benjamin-Kenner und -Freunde - klar, dass neben einer langen Reihe offener Fragen auch einige handfeste Indizien Zweifel an der Selbstmordthese rechtfertigen. Um lediglich eines davon hier anzudeuten: ein Selbstmörder, in auffälliger Eile nach katholischem Ritus begraben?"

Joachim Güntner glaubt, dass der Friedhofszwang für Urnen in Deutschland sich nicht halten wird. "Die Verpflichtung auf eine Beisetzung auf dem Friedhof verhindert, was viele sich wünschen: die Asche der lieben Verstorbenen ihrem letzten Willen gemäß daheim aufzubewahren oder an Lieblingsorten zu verstreuen, sei es im Garten oder im Fußballstadion, wie es englische Fans seit langem praktizieren."

Besprochen werden eine Retrospektive zu den Bauten des Wiener Architekten Heinz Tesar in der Pinakothek der Moderne, eine Ausstellung der UBS Art Collection in der Fondation Beyeler und eine Aufführung des "Sommernachtstraums" mit Musik von Mendelssohn in der Tonhalle Zürich.

Auf der Filmseite erzählt Elsbeth Gut Bozzetti von Martin Scorseses Besuch in Italien, wo er seinen Dokumentarfilm "No Direction Home: Bob Dylan" vorstellte. Hendrik Feindt schreibt zu fünfzig Jahren Film Culture, einer von Jonas Mekas gegründeten Zeitschrift des experimentellen Films. Besprochen werden Christian Carions Film "Merry Christmas", Lasse Hallströms Westernmelodrama "An Unfinished Life" und Georges Gachots Filmporträt der argentinischen Pianistin Maria Bethania.

Welt, 02.12.2005

Ulrich Weinzierl nutzt die Drohung von Dmitri Nabokov, ein unvollendetes Roman-Manuskript auf die testamentarische Weisung seines Vaters möglicherweise zu verbrennen, zum Anlass für eine Reflexion über die posthumen Rechte von Autoren (hier der Artikel des amerikanischen Publizisten Ron Rosenbaum, der die Berichterstattung über den Fall auslöste). Eckhard Fuhr, der gestern noch Angela Merkels Regierungserklärung kommentierte, resümiert heute ein Kolloquium in Neu Delhi über die künftige kulturelle Rolle Indiens und kommentiert nebenbei Günter Grass' Plan, eine neue Gruppe 47 zu gründen (Lesen Sie aus diesem Anlass auch Alexander Cammanns Essay "Die Gruppe 47 und ihr Nachleben" im letzten Heft von Ästhetik und Kommunikation).

Besprochen werden eine "Semiramide" in Barcelona und Ausstellung über Deutsche als Auswanderer im Hamburger Jenisch Haus.

Auf der Medienseite berichtet Norbert Schwaldt, dass der Verkauf des Berliner Verlags an den britischen Medienunternehmer David Montgomery nun auch offiziell perfekt ist.

Auf der Magazinseite erklärt der Exorzist des Vatikans Pedro Barrajon im Gespräch mit Paul Badde, warum Gott das Böse zuließ: "Unserer Freiheit zuliebe! Das Böse ist notwendig an das Geschenk der Freiheit geknüpft. Gott hat den Menschen frei geschaffen. In der Abwägung zwischen der Zulassung des Bösen und der Gabe der Freiheit hat er sich für die Freiheit entschieden."

TAZ, 02.12.2005

Thomas Winkler hat den singenden Hobbyprediger Xavier Naidoo besucht, dessen neue CD kaum noch von Religion handelt. Die "biblische Sprache" dient jetzt mehr "Liebesliedern und Erbauungssongs. Da reimt sich 'Zeilen aus Blut' auf 'kostbares Gut', wird auf den 'Engel auf Erden' gewartet oder 'jubiliert' die Seele des Sängers, kurz: Es sind 'Lieder, die Herzen durchbohr'n', dabei allerdings bisweilen in den Klamauk zu kippen drohen: 'Frage deine Ahnen, deine Vorfahren/Sie heißen Vorfahren, obwohl du vorfährst.' Währenddessen blickt der Dichter selbst seriös durchs Busfenster."

Weiteres: Evelyn Carow, lange Jahre Filmcutterin bei der Defa, erzählt in einem kurzen Interview, wie es war, wenn im Osten immer wieder Filme verboten wurden: "Grundsätzlich waren wir ja nicht gegen das System. Wir haben gedacht, es wird jedem Künstler mal was abgelehnt - Zwänge habt ihr im Westen auch. Selbst wenn wir die doof gefunden haben und gedacht haben, die spinnen, fanden wir, dass das auch zu dem Beruf dazugehörte. Die Kränkung blieb natürlich, verziehen haben wir nie." Tobias Rapp bespricht drei HipHop-CDs, von den Mitchell Brothers, Roll Deep Crew und Saian Supa Crew.

Schließlich Tom.

SZ, 02.12.2005

In einem Interview spricht der KGB-geschulte Virenjäger (und Software-Unternehmener) Jewgenij Kaspersky über seinen Kampf gegen Hacker und Cyber-Kriminelle: "Wer lange Zeit mit Computern arbeitet, bekommt einen 'Computerakzent'. Ich fing allmählich an, wie ein Computer zu denken. Die Arbeit mit Computerviren macht aus allen, nicht nur aus mir, Paranoiker." Aber das heißt bekanntlich ja nicht, dass es keine Gefahr gebe: "Es gab bereits Versuche, einen virtuellen Krieg zu führen. Im April 2001 kollidierte ein amerikanisches Spionageflugzeug mit einer chinesischen Jagdmaschine. Hacker beider Länder fingen darauf hin an, Internetressourcen der jeweils anderen Seite zu attackieren."

Sehr interessant ist auch die Rede des amerikanischen Literaturagenten Andrew Wylie über Chancen und Gefahren der digitalen Bibliothek. "Was also bedeutet der Fall Google? Er bedeutet, dass wir die Möglichkeit haben, eine digitale Bibliothek zu schaffen und einen Buchladen, in dem wir je eine Ausgabe von jedem veröffentlichten Buch der Welt auf einem unendlich großen Verkaufstisch finden. Diese Bibliothek haben die Autoren verdient. Und uns würden keine Dan Brown-Ströme mehr von Shakespeare fern halten, keine Berge aus Danielle Steel-Bänden mehr Calvino einkreisen. Und Borges würde anständig bezahlt."

Burkhard Müller feiert eine Ausstellung in der Städtischen Kunstsammlung Chemnitz, die Werke vom älteren und jüngeren Cranach zeigen: "An Männern würdigen die Cranachs das Charakteristische; an den Frauen ihre Schönheit... Das Modische ist stark in diesen Bildern, es hat Gewalt über den weiblichen Körper, der in seiner Nacktheit doch wirkt wie eine behandschuhte Hand. Als das Wunder der Cranachs muss man es bezeichnen, dass auf solch unzuverlässiger Grundlage so große Kunst hat entstehen können."

Weiteres: Claus Leggewie wünscht sich, dass die Polikberatung endlich eine Demokratiedienstleistung wird. Andrian Kreye berichtet von Peter Schweizers Buch "Do as I Say (Not as I Do)", das die liberalen Ikonen Amerikas wie Noam Chomsky und Michael Moore der "moralischen Heuchelei" anprangert. Jonathan Fischer berichtet aus dem Treme-Viertel, dem schwarzen Herzen von New Orleans und Jürgen Heizmann trifft bei der Klimakonferenz in Kanada auf "gute Amerikaner". Christoph Bartmann berichtet von der Entrüstung in Dänemark über den TV-Promi Joergen Leth, der in seinen Bekenntnissen "Der unperfekte Mensch" etwas zu freizügig über Liebschaften mit Minderjährigen geprahlt hat. Gerwin Zohlen meldet die Eröffnung des Berliner Amüsierclubs "Goya". Günter Beyer berichtet von einer Tagung in Bremen zum NS-Bunker Valentin. Eva-Elisabeth Fischer preist den Schweizer Choreografen Maurice Bejart. Und für die Meinungsseite liefert Fritz Göttler ein kurzes Proträt der Schauspielerin Charlotte Rampling, die 2006 den Vorsitz der Berlinale-Jury übernimmt.

Besprochen werden die beiden neuen Inszenierungen am Düsseldorfer Schauspielhaus, Edward Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf" und Elfriede Jelineks "Macht nichts", Mark Waters' Komödie "Solange du da bist" mit Reese Witherspoon und Bücher, darunter neue Bände der Gesammelten Bismarck-Werke (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 02.12.2005

Eindeutige Worte findet Ina Hartwig in Times Mager zu Günter Grass' Bestrebungen, die Guppe 47 wiederzubeleben: " Günter Grass ist ein genialer Unternehmer. Aber nicht jeder abgebrochenen Tradition muss hinterhergeweint werden."

Elke Buhr schreibt zum zehnjährigen Jubiläum des Künstlerhauses Villa Aurora in Los Angeles. Besprochen werden eine Ausstellung über das Goldene Zeitalter der arabischen Wissenschaften im Pariser Institut du monde arabe und eine Ausstellung zur Architektur von Juha Leiviskä im Finnlandinstitut in Berlin.

Tagesspiegel, 02.12.2005

"Ich habe als Student in einer Band gespielt und bin mit Akkordeon und Gesang auch alleine aufgetreten, auf Kohl-und-Pinkel-Fahrten oder Silvesterfeiern", erzählt der neue Kulturstaatsminister Bernd Neumann im Interview mit Christiane Peitz und Rüdiger Schaper, kommt aber auch auf seine Pläne zu sprechen: "Ich bin vier Tage im Amt und habe nicht vor zu erklären, dass ich alles anders machen werde. Ich sage nur, hier und da gibt es Prüfungsbedarf. Ich werde beim Hauptstadtkulturfonds wie überall anderswo nachschauen, ob die Dinge gut geregelt sind und die Zuordnungen stimmen. Und manches wird verändert werden. Im Koalitionsvertrag ist ausdrücklich von der möglichst baldigen Fusion der Bundeskulturstiftung mit der Kulturstiftung der Länder die Rede. Ich habe vor, das hinzukriegen, mit beiden Aspekten: der Bewahrung des Kulturerbes und der Förderung des Zeitgenössischen."

FAZ, 02.12.2005

Angela Merkel reist heute nach Polen, und eröffnet im Bonner Haus der Geschichte eine Ausstellung über die Vertreibung. Michael Jeismann plädiert aus Anlass der Ausstellung für ein Zentrum gegen Vertreibungen, das auch die europäische Dimension des Themas einschließt: "Ein Vetorecht der Polen und Tschechen gegen das deutsche Totengedenken kann es nicht geben. Die Arbeit des Zentrums gegen Vertreibungen, dessen Errichtung die Bundesrepublik zu ihrer Sache machen sollte, wird sich vor den Augen der europäischen Öffentlichkeit abspielen. Es wird sich dann zeigen, ob der universalistische, antirevisionistische Anspruch, den der Name des Zentrums erhebt, nur auf dem Papier steht. Man möchte hoffen, dass sich bei der Prüfung dieser Vorverurteilungen auch in den polnischen und tschechischen Medien jene Bereitschaft zur Selbstkritik bewährt, die hierzulande alle geschichtspolitischen Aktionen begleitet."

Weitere Artikel: Richard Kämmerlings glossiert Günter Grass' Absicht, im Jahr der neuen Großen Koalition eine neue Gruppe 47 zu gründen. Eduard Beaucamp singt eine kleine Hommage auf deutsch-jüdische Kunsthändler, die in die Schweiz emigrierten, und von dort aus wichtige private und öffentliche Sammlungen aufbauen halfen (Anlass ist eine Ausstellung in Tübingen, die den Brüdern Nathan gewidmet ist). Heinrich Wefing hat in Berlin dem 13. Schönhauser Gespräch über das Schicksal der sozialen Marktwirtschaft zugehört. Martin Kämpchen resümiert ein Symposion der Bertelsmann-Stiftung in Indien über die künftige kulturelle Rolle Indiens. Werner Jacob besucht das futuristisch designte Daimler-Benz-Museum in Stuttgart. Alexandra Kemmerer resümiert ein Kolloquium in Jena über die Begriffe des "Staatskirchenrechts" und des "Religionsverfassungsrechts". Eleonore Büning schreibt zum Tod des südafrikanischen Tenors Deon van der Walt.

Auf der Medienseite berichtet Jürg Altwegg über einen Pariser Prozess gegen die Zeitschrft Paris Match, die von Albert II. von Monaco wegen angeblicher Verletzung der Privatsphäre verklagt wurde und zu einer drastischen Gegendarstellung verurteilt wurde - im eigentlich zivilrechtlichen Prozess trat plötzlich der Staatsanwalt auf und empfahl ein hartes Urteil, weil es auch um den Schutz künftiger Präsidentschaftskandidaten gehe. Und keine französische Zeitung hat darüber berichtet. Außerdem schreiben Wiebke Hüster und Jürgen Kaube einen Artikel über die geplanten Berliner Festivitäten während der Fußballweltmeisterschaften. Und Jörg Hahn stellt eine ausführliche Berichterstattung von ARD und ZDF über die Winterolympiade in Aussicht.

Für die letzte Seite besucht Jordan Mejias die große Darwin-Ausstellung im New Yorker Museum of Natural History ("eine aus allen Nähten platzende Wunderkammer, in der sich ein Laie so prächtig vergnügt wie ein Fachmann und aus der beide nicht ohne Ehrfurcht vor dem Genius des Wissenschaftlers hervorkommen"). Manfred Lindinger weist auf das kommende Wissenschaftsjahr hin, das der Informatik gewidmet ist. Und Hannes Hintermeier kommentiert die Beurlaubung des Kommunikationschefs der Frankfurter Buchmesse Holger Ehling.

Besprochen werden die große Menzel-Ausstellung in Dresden, die "Sonny Boys" am Deutschen Theater Berlin, Jan Kounens Dokumentation "Darshan" und einige Sachbücher, darunter ein buch Jacques Duquesnes über die biblische Gestalt der Maria.