Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.12.2005. Die Zeit hat das Stück der Stunde in ganz Europa gesehen: Euripides' "Die Bakchen". Die FR freut sich über die Wiedervereinigung der Fugees. Die taz findet den modernen Konservatismus so dumm wie den alten. Die Welt begrüßt die Lübecker "Zusammenrottung" von Schriftstellern, die FAZ reagiert primär. Die SZ erinnert daran, dass erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil die katholische Parallelgesellschaft abgeschafft wurde. Und Harold Pinter richtet sich in einer Videobotschaft an die USA.

Weitere Medien, 08.12.2005

Die Schwedische Akademie hat die Dankesrede veröffentlicht, die Harold Pinter bei der Verleihung des Literaturnobelpreises morgen nicht halten wird. Es ist ein wütender Angriff auf die Politik und Kriegsführung der USA. Hier gibt es sie als PDF - und als Videobotschaft an die USA.

Zeit, 08.12.2005

"Die 'Bakchen' sind das Stück der Stunde", schreibt Thomas Assheuer, der Inszenierungen in Frankfurt, München (hier und hier) und Amsterdam gesehen hat. "Was treibt die Regisseure zu den 'Bakchen'? Ist es die alte Antikensehnsucht, die in mäßigen Abständen das deutsche Gemüt umweht? Oder eine 'Ästhetik des Bösen', die Kunstlehre rechtsintellektueller Snobs? Vermutlich verhält es sich ganz anders. Wer heute die Tragödie der 'Bakchen' aufführt, der inszeniert zugleich eine Zeitdiagnose, die düsterer nicht sein könnte. Es ist die Gewissheit, dass die größte Hoffnung nach 1989 gestorben ist: die nämlich, mit dem Ende des tragischen 'Weltbürgerkrieges' stünden nur noch Komödien auf dem Spielplan der Menschheit, also Diplomatie und die Ordnung des Rechts. Außer Asche ist davon nichts geblieben."

Höchst erleichtert hat Jörg Lau die Ausstellung "Flucht, Vertreibung, Integration" im Bonner Haus der Geschichte verlassen. "Bei dem ungeheuren innen- und außenpolitischen Druck, der auf dem Thema lastet, kommt es fast einem Wunder gleich, dass das Team des Bonner Hauses der Geschichte eine Ausstellung zuwege gebracht hat, die durch geistige Unabhängigkeit beeindruckt. Es ist also doch möglich, denkt man am Ende erleichtert, den ganzen Lärm der Debatte um das in Berlin geplante 'Zentrum gegen Vertreibungen' auszublenden, um endlich einen neuen, freien Blick auf die Geschichte der Vertreibung zu wagen."

Ein Strauß von Artikeln ist dem vor 25 Jahren erschossenen John Lennon gewidmet. Konrad Heidkamp erklärt im Aufmacher, warum Lennon immer noch der Größte ist: "'Your inside is out / And your outside is in / Everybody has something to hide except for me and my monkey'. Mehr kann man von einem Rock ’n’ Roller nicht erwarten." Eckhard Henscheid unternimmt eine literaturkritische Analyse von "Imagine" auf allerhöchstem Niveau. Und in einer kleinen Bildgeschichte erzählt Adam Green, wie sich Lennon-Fans im Großstadtverkehr unfallartig erkennen.

Weitere Artikel: Jens Jessen bedankt sich für zwanzig Jahre Lindenstraße. Petra Reski berichtet von einem internationalen Autorentreffen in Sofia, wo nach Herkunft, Nation und Vaterland gefragt wurde. In der Reihe 50 Filmklassiker schreibt Jens Jessen über Ernst Lubitschs "Serenade zu Dritt". Georg Seesslen stellt eine DVD-Reihe der Filmmuseen vor. Peter Kümmel schreibt den Nachruf auf den Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch. Claudia Herstatt erklärt, warum der weltweite Kunstraub selbst das FBI überfordert.

Besprochen werden eine "unverschämt lässige und elegante" Aufnahme der Brandenburgischen Konzerte mit dem Concerto Italiano unter Rinaldo Alessandrini und Peter Jacksons "King Kong"-Remake. Den Musikteil eröffnet Mirko Weber mit einem Artikel über die Größe der Elisabeth Schwarzkopf. Die Literatur ist heute noch einmal in einer Beilage gebündelt.

Im Dossier zeigt Bartholomäus Grill, warum Dogmatiker über Selbsttötung schweigen sollten: Er zeichnet das Ende seines Bruders nach, der an Zungenkrebs erkrankt war und sich für den Freitod entschied.

NZZ, 08.12.2005

Jan-Heiner Tück nimmt wohlwollend zur Kenntnis, wie im zweiten Vatikanum, das vor vierzig Jahren zu Ende ging, der "Einbruch der Anderen" in Kauf genommen wurde. Stephan Hentz begeistert sich für eine Reihe junger Jazz-Musiker, die frischen Wind in die deutsche Jazz-Szene bringen. Joachim Güntner meldet, dass der Reclam-Verlag endgültig aus Leipzig wegzieht.

Besprochen werden die Ausstellung "Mimesis. Realismos modernos 1918-1945" im Museo Thyssen-Bornemisza und der Fundacion Caja Madrid und Bücher, darunter William Claxtons Fotoband "Jazz Life" und die neu aufgelegten kritischen Schriften von Carl Schmitt "Frieden oder Pazifismus? Arbeiten zum Völkerrecht und zur internationalen Politik 1924-1978".

FR, 08.12.2005

"Diese Band gibt nichts auf die glatte Perfektion der aktuellen Hochleistungs-R&B-Stars a la Beyonce", schreibt Elke Buhr über das Hamburger Konzert der wiedervereinigten HipHop-Band Fugees, "und sie verweigert die platte Gangster-Geste eines 50 Cent. Stattdessen verwaltet sie mit undogmatischer Souveränität das Erbe der schwarzen Musik: den Soul, den Reggae den HipHop, manchmal anarchisch und rau, und manchmal auch melodisch zum Feuerzeuge-Schwenken für die Massen."

Weitere Artikel: Matthias Müller-Wieferig, Leiter des Dubliner Goethe-Instituts, setzt die Reihe "Mein Europa" fort. In der Kolumne Times Mager räsoniert Peter Michalzik über Sinn und Unsinn eines TheKBeiFöGs (Theaterkartenbeihilfeförderungsgesetz).

Besprochen werden eine Edgar-Hilsenrath-Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste, Ernst Tochs satirische Kinderoper "Prinzessin auf der Erbse" in der Berliner Komischen Oper, Andrew Adamsons herrlicher Fantasyfilm "Die Chroniken von Narnia" (an Tilda Swintons Füßen klebt nach Ansicht von Daniel Kothenschulte "auch in diesem Kontext noch eine Menge Kunst"). Bent Hammers Film "Faktotum" und Jens Schanzes Dokumentarfilm "Winterkinder-Die schweigende Generation".

TAZ, 08.12.2005

"Der moderne Konservativismus ist so autoritär und dumm wie der alte", schreibt Robert Misik mit Blick auf "Die Kultur der Freiheit" von Udo di Fabio. "In ihrer Verachtung des Mainstreams adoptiert die neue konservative Publizistik die alten Avantgardeposen. Sie kommt daher, als wolle sie alte Zöpfe abschneiden, meint damit aber die Dreadlocks des Hedonismus. Die Freiheit, nach seiner eigenen Fasson glücklich zu werden, gerät aus dieser Perspektive 'zur Willkür des Einzelnen (...) zu tun und zu lassen, was er will' (di Fabio)."

Weitere Artikel: : In der tazzwei liefert Frank Kuzmany erschütternde Antworten auf die Frage: "Was wäre, wenn John Lennon heute vor fünfundzwanzig Jahren nicht verblutet wäre?" Anne Huffschmid schreibt über den Maler und Kulturkämpfer Francisco Toledo, der morgen den Alternativen Nobelpreis erhält.

Besprochen werden Lu Chuans chinesischer Spätwestern "Kekexili", Jens Schanzes Dokumentarfilm "Winterkinder", Josue Mendez Film "Dias de Santiago" und Bent Hammers Film "Faktotum".

Auf der Meinungsseite unterhält sich Dorothea Hahn mit der französischen Soziologin Dounia Bouzar über die Unruhen in den Banlieues. Sie bestreitet jeden ethnisch-religiösen Hintergrund: "Es sind einfach Jugendliche, die ohne Kultur aufgewachsen sind. Denn es gibt keine Kultur, zu deren Werten es gehört, Autos anzuzünden. Die, die Autos verbrannt haben, stammen mehrheitlich aus Familien, die seit drei oder vier Generationen hier sind. Nur wenige waren Kleinkriminelle. Aber wir haben in der Tat ein riesiges Problem. Nie zuvor haben Kinder in Frankreich ihre Schulen angezündet."

Schließlich Tom.

Welt, 08.12.2005

Eckhard Fuhr begrüßt die neue Lübecker "Zusammenrottung" (so ein Wort Günter Grass') von Schriftstellern, meditiert über Nähe und Ferne des Modells der Gruppe 47 und steckt die bei der Pressekonferenz geäußerte Kritik am Feuilleton souverän weg: "Bleibt die 'Machtfrage'. Sie brach eruptiv hervor. Der von Günter Grass polemisch attackierte Gegner, der in hybrider Selbstüberschätzung den Künstlern und den Künsten das schöpferische Erstgeburtsrecht streitig mache, ist 'das Feuilleton'. 'Wir sind das Primäre, das Feuilleton bleibt das Sekundäre. Wir haben den längeren Atem', rief er den verdatterten Feuilletonisten zu. Was ein langer Atem ist, hat die Generation Grass vorgemacht. Als Kraftwerk, das die intellektuelle Grundversorgung der Republik sicher stellt, ist sie immer noch nicht vom Netz. Mancher sähe sie gern abgeschaltet."

Weitere Artikel: Zum 25. Jahrestag des Mords an John Lennon werden Äußerungen prominenter Zeitgenossen zusammengetragen. Uwe Wittstock kommentiert Reclams Rückzug aus Leipzig.

Besprochen werden die Bacon-Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle, der Film "Der König von Narnia", Romed Wyders Thriller "Lücke im System und das Wilderer-Drama "Kekexili" aus China.

Die Magazinseite druckt einen großen Reportage-Essay von Peter Schneider, der jüngst auch schon in der New York Times über die verschleppte Integration der deutschen Einwanderer und die moslemischen Gegenwelten in Berlin geschrieben hat.

SZ, 08.12.2005

Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, das vor vierzig Jahren zu Ende ging, hörte die Kirche auf, "Garantin einer katholischen Parallelgesellschaft zu sein", der Katholik wurde "ein freier Christenmensch", schreibt Matthias Dobrinski. "Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, wie radikal der Wandel ist. Das Latein ist weg, der Pfarrer schaut das Kirchenvolk an, am Karfreitag betet die Gemeinde nicht mehr für die treulosen Juden, und der Bischof warnt die katholische Jugend nicht mehr davor, sich in Lutherische zu verlieben."

Abgedruckt ist ein Lobgedicht auf George W. Bush, das in einem pakistanischen Schulbuch veröffentlicht wurde - eine "Riesenpeinlichkeit" für Präsident Pervez Musharraf, findet zri.. Hier der Schluss:
.....
Bracing for war, but praying for peace
Using his power so evil will cease:
So much a leader and worthy of trust
Here stands a man who will do what he must.

Weitere Artikel: "Wie denn nun, Werkstatt oder Wahlkampf?", fragt sich Oliver Jahn, der sich in Lübeck eine Pressekonferenz beobachtet hat, auf der Günter Grass und andere Autoren die Gründung einer literarischen Werkstatt-Gruppe mit unklarer Zielrichtung bekannt gaben. Stefan Koldehoff berichtet, dass der Kunstsammler Herbert Batliner seine Leihgaben aus dem Salzburger Museum der Moderne abgezogen hat, weil er sich durch Angriffe aus der Presse beleidigt fühlte. Hansa-Peter Kunisch porträtiert den irischen Schriftsteller John Banville, der heute sechzig Jahre alt wird. Ijoma Mangold teilt mit, das der Reclam-Verlag seine Geburtsstadt Leipzig nun endgültig verlassen wird. Egbert Tholl annonciert Ulf Schirmer als neuen Dirigenten des Münchner Rundfunkorchesters. Fritz Göttler gratuliert Hans Jürgen Syberberg zum siebzigsten Geburtstag. Alex Rühle erinnert an John Lennon und seinen Mörder Mark Chapman.

Besprochen werden Jürgen Goschs Inszenierung von Anton Tschechows "Der Kirschgarten" am Schauspielhaus Zürich, Jens Schanzes Dokumentarfilm "Winterkinder", Bent Hamers Bukowski-Verfilmung "Factotum", Lu Chuans Film "Kekexili - Mountain Patrol", das Hamburger Wiedervereinigungskonzert der HipHop-Band Fugees, eine Ausstellung mit Bildern des flämischen Malers David Teniers d. J. "1610-90. Alltag und Vergnügen in Flandern" in der Kunsthalle Karlsruhe und VA Wölfls neues Tanzstück "Das Chrom und Du" im Schloss Benrath bei Düsseldorf.

FAZ, 08.12.2005

Edo Reents berichtet von der Pressekonferenz des "Lübecker Literaturtreffens" wie der von Günter Grass und anderen Schriftstellern gegründete neue Autorenclub nun heißt, und verbittet sich die bei dieser Gelegenheit geäußerte Kritik am Feuilleton: "Es ist das gute Recht von Autoren, unter sich bleiben zu wollen und Journalisten die Tür vor der Nase zuzuschlagen; die Kritik befasst sich mit dem Buch ohnehin erst, wenn es fertig ist. Aber man sollte keine Pressekonferenzen inszenieren, um sich dort als verfolgter Eremit zu präsentieren. Worauf gründet der überheblich-gereizte Ton, in dem immerzu und ohne einmal konkret zu werden über 'das Feuilleton' hergezogen wurde, woraus nährt sich das Ressentiment gegen 'professionelle Kritiker'?"

Weitere Artikel: M.M. wettet in der Leitglosse, dass Harry Potter auch den siebten Band der Serie überstehen wird. Philipp Demandt erzählt im Aufmacher, wie Caspar David Friedrichs Gemälde "Zum Licht hinaufsteigende Frau" nach schicksalhaften Irrungen ins Pommersche Landesmuseum von Greifswald gelangte. Richard Kämmerlings gratuliert dem irischen Autor John Banville zum Sechzigsten. Dietmar Dath kommentiert die Meldung, dass auch Wikipedia-Artikel nicht immer hundertprozentig der Wahrheit entsprechen. Christian Welzbacher besucht die Poschingerstraße 1 in München, wo sich eine originalgetreue Replik der ehemaligen Villa Thomas Manns wie ein "aufgeblasenes Sahnetörtchen" in die Wintersonne reckt und künftig einem Bankier als seiner Bedeutung angemessenes Gehäuse dient. Der Techniksoziologe Johannes Weyer widerspricht einigen neulich von der FAZ freundlich befragten Funktionären der deutschen Raumfahrtindustrie und fragt, warum es dieser trotz drei bis fünf Millarden Euro Subventionen bis heute nicht gelang, einst angekündigte Projekte zu realisieren. Jürg Altwegg meldet, dass der greise Schriftsteller Aime Cesaire sich weigerte, den französischen Innenminister Nicolas Sarkozy in Martinique zu empfangen. Gemeldet wird, dass der Leipziger Reclam-Verlag nach Stuttgart zieht, und dass die Komödie und das Theater am Kurfürstendamm wegen eines Investorenprojekts gefährdet sind. Auf einer Doppelseite empfehlen FAZ-Redakteure DVDs.

Auf der Kinoseite bespricht Michael Althen zwei neue Videoarbeiten Jean-Luc Godards, die in diesen Tagen im Berliner Arsenal laufen. Andreas Kilb besucht eine Ausstellung über Hildegard Knef in Berlin. Lorenz Jäger gratuliert Hans Jürgen Syberberg zum Siebzigsten.

Auf der Medienseite tragen Michael Haneke und Thomas Purschke neue Einzelheiten zum Fall Hagen Boßdorf zusammen. Jennifer Wilton berichtet vom Kampf des Deutschlandradios um Frequenzen. Und Michael Haneke liest ein Papier der ARD gegen die Fusion von Springer und Pro 7 Sat 1.

Auf der letzten Seite berichtet Verena Lueken über die Vorstellung der neuen Website "Discover Islamic Art", die in Ramallah vorgestellt wurde. Martin Otto erzählt, dass es in Berlin schon häufiger Bahnhöfe mit zu kurzen Dächern gab. Und Joachim Müller-Jung begrüsst die Entschlüsselung des Genoms des Haushunds.

Besprochen werden Wagners "Holländer" in Brüssel, die Ausstellung "Die letzten Stunden von Herculaneum" im Berliner Pergamon-Museum und Romed Wyders Thriller "Lücke im System".