Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.12.2005. In der Berliner Zeitung springt Alexa Hennig von Lange mit einer Hoffnung des Pop runter. Runter ins eisige Meer. Die SZ besucht das längste Hochhaus Europas. In der NZZ plädiert Karl-Markus Gauß für Manes Sperber. Die FAZ hörte, wie die Berliner Philharmoniker Simone Young auflaufen ließen. In der Welt streitet Rainer Moritz fürs Populäre in den Verlagsprogrammen.

Berliner Zeitung, 12.12.2005

"Ich mag es, wenn sich die Sänger in ihren Musik-Clips symbolisch das Leben nehmen", gesteht Alexa Hennig von Lange und schreibt eine Liebeserklärung an den Sänger James Blunt: "Er ist aus dem Nichts zu uns gekommen. James Blunt. Die perfekte Projektionsfläche: ein junger blasser Typ in Kapuzenjacke, T-Shirt und abgelatschten Turnschuhen. Als wir ihn zum ersten Mal im Fernsehen singen sahen, konnten wir ihn sogar riechen, ja, fast schmecken. So sehr erinnerte er uns an unsere Jungs von früher. Melancholisch seufzt er uns etwas von der bedingungslosen Liebe vor. Und weil auch er sie nicht erfüllt bekommt, bringt er sich in seinem Musik-Clip tatsächlich um. Springt souverän von den Klippen hinunter. Runter, runter ins eisige Meer. Ohne wieder aufzutauchen."

TAZ, 12.12.2005

Der israelische Schriftsteller Jitzhak Laor hält die hiesige Einstellung zu Israel im Interview mit Daniel Bax für recht einseitig. "Mir ist diese Israelliebe, die mit einem Hass auf die Muslime einher geht, sehr suspekt. Ich bin kürzlich mit einem orthodoxen Freund durch die Straßen Berlins gegangen, und wir sind an diese ganzen neuen jüdischen Buchläden und koscheren Delis vorbei gekommen. Etwas befremdet mich an dieser Judeophilie in Deutschland. Ich frage mich, ob dieser zwanghafte Multikulturalismus, wenn es um Juden geht, nicht ein paar Versäumnisse auf der anderen Seite verschleiert. Ich frage mich auch, warum während all dieser antimuslimischen Hetze der letzten Jahre niemand aus der Jüdischen Gemeinde in Deutschland aufgestanden ist und gesagt hat: Hier läuft etwas schief."

"Ausgesprochen komisch" findet Esther Slevogt das neue Stück "Notti Senza Cuore - Life is the new hard" (hier der Text des gleichnamigen Hits von Gianna Nannini) von Rene Pollesch im Berliner Prater, in dem er die allgegenwärtige Entfremdung durch den Markt vorführt. "Pollesch handelt die Folgen dieser Entfremdung an einem Trio aus zwei Frauen und einem Mann ab. Alle drei sind von herzzerreißend virtuoser Dämlichkeit. Außerdem sind sie eine Spur zu schrill für das spießige Ambiente. Ihr leiernder Tonfall ist von keinem Reflexionsschimmer getrübt, was Polleschs komplex gedachten Sätzen eine besondere Komik gibt. Verhandelt werden Fragen wie diese: 'Warum guckt der Pornodarsteller immer in die Kamera? Er fickt doch wirklich!'"

Weiteres: Ute Scheub und Mariam Notten erinnern an die afghanische Lyrikerin Nadya Andjoman (oder Anjoman), die von ihrem Mann zu Tode geprügelt wurde. In der zweiten taz porträtiert Susanne Lang die Gerichtsreporterin des Spiegels, Gisela Friedrichsen. Peter Unfried hält die Schauspielerin Christine Neubauer für ein Rollenmodell der neuen deutschen Frau. Jony Eisenberg weist in seiner Kolumne darauf hin, dass wohl auch für das geplante Airbus-Werk in China Anwohner brutal vertrieben werden. Und Robin Alexander überfällt angesichts des schwachen Abgangs der rot-grünen Spitzenpolitker Schröder, Fischer und Schily Sehnsucht nach deren Vorgängern.

Das neue Männermagazin Feld Hommes erinnert Rene Martens auf der Medienseite immerhin an andere "Anti-Großverlags-Magazine" Dummy, Vice und Sleek.

Schließlich Tom.

NZZ, 12.12.2005

Karl-Markus Gauß, der im Januar den Sperber-Preis verliehen bekommt, erklärt in einem Artikel zum 100. Geburtstag des Schriftstellers und Renegaten: "Die Zeit Sperbers ist jetzt gekommen. Das 'Lob von der falschen Seite', das ihm reichlich gespendet wurde, ist längst verweht, kein kalter Krieger ist mehr da, der sich auf ihn beriefe; und die Wut, mit der er gegen eine in 'schuldhafter Wissensmissachtung' eingekapselte Linke zu Felde zog, braucht heute, da die Lagertreue von einst in sich zusammengebrochen ist, niemanden mehr davon abzuhalten, sich dem zu stellen, was Sperber, der die Konflikte der Epoche in sich und mit sich selber ausgetragen hat, zu sagen wusste."

Weitere Artikel: Jörg Becker stellt die Filme des Regisseurs Christian Petzold vor, dessen "Gespenster" jetzt in der Schweiz anläuft. Andrea Lüthi resümiert das 21. Luzerner Literaturfest.

Besprochen werden eine Retrospektive des Architekten Peter Kulka im Deutschen Architektur-Museum (DAM) in Frankfurt, die Uraufführung von Graeme Murphys Ballett "Die silberne Rose" an der Bayerischen Staatsoper in München und Barbara Freys Inszenierung von Jon Fosses Theaterstück "Winter" am Basler Schauspielhaus.

FR, 12.12.2005

Mit Adorno hatte die Frankfurter Adorno-Vorlesung von Quentin Skinner zwar gar nichts zu tun, stellt Hilal Sezgin fest. Dennoch hat sie gern zugehört, als der britische Philosoph "mit Hingabe und Akribie" Thomas Hobbes sezierte. In Times Mager meldet Elke Buhr vergnügt, dass die Absätze von Viagra "deutlich hinter den Erwartungen" zurückbleiben.

Besprochen werden Barbara Freys Inszenierung von Jon Fosses "Winter" in Basel und Rene Polleschs Inszenierung von "Notti senza cuore - life is the hard" im Berliner Prater.

SZ, 12.12.2005

Il mostro nennen die Römer Corviale, das mit 850 Metern längste Hochhaus Europas (Bilder). Birgit Schönau besichtigt hier am Rand der Hauptstadt ein Leben in der Peripherie, das anders als in Frankreich gerade eine Renaissance erlebt. "Sogar die Legenden, die sich um den Block ranken, sind verstummt: etwa dass sich der Architekt Fiorentino aus Verzweiflung das Leben nahm, als er sein Monster leibhaftig vor sich sah; oder dass Corviale den Römern das Klima verdarb, weil die riesige Wand den Küstenwind Ponentino auf seinem Weg in die Stadt blockiert."

Mit dieser Ausstellung könnte die Ostdeutsche Galerie Regensburg in die "Bundesliga der Museen" vorstoßen, schwärmt Annette Lettau über die Otto-Dix-Retrospektive "Welt und Sinnlichkeit", die mit Standards und Überraschungen aus fast fünf Jahrzehntem aufwartet. "Dix malt nicht Lust, sondern Lüsternheit. In der Ausstellung sind sie alle versammelt: die gierigen Matrosen und verwelkten Liebespaare, die weiblichen Akte und Huren jeder Altersklasse, - in grelles Kunstlicht getauchte Gestalten. Nachtklubglitzer und Nachkriegselend prallen auf dem monumentalen Karton zum 'Großstadt'-Triptychon aufeinander, der in Regensburg von bislang unbekannten Ideenskizzen ergänzt wird."

Weitere Artikel: Rudolph Chimelli nutzt den abgesagten Besuch Nicolas Sarkozys auf Martinique, um das schwierige Verhältnis der Republik zu ihren Kolonien zu betonen. Jonathan Fischer fragt sich, ob Arnold Schwarzenegger den zum Tode verurteilten Ganggründer und neuerdings geläuterten Kinderbuchautor Tookie Williams (savetookie.org) begnadigen wird. Der "komplexe" Film des linken Agitators Robert Greenwald über "Wal-Mart", den man nur auf eigens dafür veranstalteten Partys sehen kann, beschädigt das Image des Einzelhandelsgiganten weiter, weiß Andrian Kreye. Fritz Göttler schreibt zum Tod des amerikanischen Komikers Richard Pryor und weiß, dass in New York über einjährige Gefängnisstrafen für Filmpiraten diskutiert wird, die im Kino die Neuheiten abfilmen. Tim B. Müller fasst eine Tagung über den Zusammenhang von Zivilverteidigung und politischer Kultur in Potsdam zusammen.

Besprochen werden Inszenierungen von Henrik Ibsens "Brand" in Zürich und Jon Fosses "Winter" in Basel, die Uraufführung der auf dem Rosenkavalier basierenden Choreografie "Die silberne Rose" von Graeme Murphy mit dem Bayerischen Staatsballett in der Münchner Oper, Peter Jacksons Neuauflage von King Kong (Jackson "verzettelt sich im groß angelegten Spektakel", klagt Susan Vahabzadeh), Jeff Wadlows Horrorfilm "Cry_Wolf" mit Jon Bon Jovi, und Bücher, darunter Michael Cunninghams "liebenswürdiges" Porträt seiner Wahlheimat Provincetown "Land"s End", Nina Lugowskajas an Anne Franks Tagebuch gemahnende Erinnerungen "Ich will leben" sowie Richard Overys Hitler-Stalin-Vergleich "Die Diktatoren" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 12.12.2005

Der ehemalige Verleger und jetzige Leiter des Hamburger Literaturhauses Rainer Moritz plädiert für eine Mischung aus Populärem und Anspruchsvollem in den Programmen, alles andere hält er für eine Illusion, wie er am Beispiel des Suhrkamp-Verlags darlegt: "Oftmals herrschen selbst innerhalb der Verlage irrige Auffassungen über die gegenwärtigen Chancen der 'reinen Lehre'. Wenn Suhrkamp-Verlegerin Ulla Unseld-Berkewicz ihr zuletzt so schwächelndes Haus als eine der 'letzten Bastionen gegen die Macht der Beliebigkeit' sieht und kühne Pläne (die Gründung einer Edition Unseld und eines neuen Verlags der Weltreligionen) entfaltet, so übergeht sie mit leichter Hand vieles: ihren Autorenaderlass (Martin Walser, Daniel Kehlmann, andere werden folgen), den missratenen Relaunch der nun mehr als beliebig einherkommenden Suhrkamp-Taschenbücher und das Faktum, dass die wirtschaftlichen Zugpferde, die bei Suhrkamp/Insel zuletzt auf die Rennbahn geschickt wurden, Carlos Ruiz Zafon und Isabel Allende heißen und nicht auf der höchsten Sprosse der Ästhetikleiter stehen."

Weitere Artikel: Cord Riechelmann untersucht anlässlich der Neuverfilmung von King Kong den Mythos der Menschenaffen in Hollywood-Filmen. Hanns-Georg Rodek spekuliert schon über mögliche Wettbewerbsfilme der kommenden Berlinale. Wieland Freund schreibt über die Krise der Science-Fiction-Literatur.

Besprochen werden die Ausstellung "Ägypten Griechenland Rom - Abwehr und Berührung" in Frankfurt und eine Aufführung des Kabuki-Dramas "Yotsuya Ghost Story" in Berlin.

FAZ, 12.12.2005

Die Berliner Philharmoniker haben Simone Young, die zweite Dirigentin, die das Orchester jemals dirigierte, auflaufen lassen, schreibt eine mit dem Orchester sehr strenge Eleonore Büning: "Es ist erstaunlich, wie stumpf eines der besten Orchester der Welt klingen und wie viele Einsätze es versemmeln, verblasen und vertriangeln kann, wenn es nicht anders will. Vom Willen des einzelnen nämlich hängen die kollektiven Arbeitsergebnisse eines so kostbaren und so hochspezialisierten Ensembles in hohem Maße ab. Der Wille des Dirigenten ist dem untergeordnet."

Weitere Artikel: Im Aufmacher schildert Heinrich Wefing Auseinandersetzungen um das Thema Sterbehilfe in Kalifornien. Christian Geyer kommentiert Gerhard Schröders neuen Job. F.L. schreibt zum Tod des Fotografen Wilfried Bauer. In einer französischen Zeitschriftenschau berichtet Jürg Altwegg über die sehr positive Aufnahme von Heinrich August Winklers "Der lange Weg nach Westen" in Frankreich.

Auf der Medienseite lässt man den Wettbewerbsrechtler Franz Jürgen Säcker dem Springer-Konzern in Sachen Fusion mit Pro 7 Sat 1 zur Seite springen. Gemeldet wird außerdem, dass die Chancen für Hagen Boßdorf beim NDR schlecht stehen und dass Springer einen Fernseh-Beirat mit "anerkannten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens" schaffen will, um kartellrechtliche Bedenken gegen die Fusion mit Pro 7 Sat 1 auszuräumen.

Auf der letzten Seite flaniert Joseph Hanimann durch die schöne lothringische Stadt Nancy, die durch eine künftige TGV-Anbindung aus provinziellem Dösen erwacht. Paul Ingendaay erinnert kurz an die große Epoche des magischen Realismus in Lateinamerika, der nichts Entsprechendes nachgefolgt ist. Und Jürgen Kaube hat einem Berliner Vortrag Hans Ulrich Gumbrechts über das europäisch-amerikanische Verhältnis zugehört.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Werken Cranachs und Picassos in Chemnitz, Martin Crimps Stück "Sanft und grausam" in Bochum, die Choreografie "Die silberne Rose" von Graeme Murphy, uraufgeführt vom Bayerischen Staatsballett, und einige Sachbücher.

Im Medienteil der FAZ am Sonntag schreibt Stefan Niggemeier über ein Problem das die öffentlich-rechtlichen Sender mit den überregionalen Zeitungen gemeinsam haben: die Vergreisung des Publikums: "Erkennbar wird die Schieflage allerdings schon heute am Durchschnittsalter vieler öffentlich-rechtlicher Sendungen. Der ARD-'Presseclub' am Sonntagmittag zum Beispiel hat zwar regelmäßig sehr anständige eineinhalb Millionen Zuschauer - die jedoch im Schnitt fast siebzig Jahre alt sind."