Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.12.2005. Ein Paukenschlag riss die Berliner Akademie der Künste aus sanftem Winterschlaf. Ihr Präsident Adolf Muschg erklärte seinen Rücktritt. Die Berliner Zeitung schildert die Hintergründe. Die SZ sieht in dem Rücktritt eine Chance. Weitere Themen sind die französische Debatte über die Kolonialgeschichte und die ersten Willensbekundungen Bernd Neumanns. Und außerdem verteidigt Bernd Heisig in der Welt die Unfreiheit der Kunst.

Berliner Zeitung, 16.12.2005

Volker Müller liefert einen Bericht über die Gründe für den Rücktritt Adolf Muschgs als Präsident der Akademie der Künste. Sein Versuch, der Akademie eine neue Satzung zu geben, scheiterte an den sechs Sektions-Direktoren und ihren Vizes. Muschg hat jetzt ein internes Dokument veröffentlicht, in dem er die innere Verfasstheit der Akademie scharf kritisiert hatte, so Müller: "Die sechs Kunstsektionen als Grundlage der Akademie bildeten mit ihren verfestigten Eigeninteressen zugleich einen 'Antagonismus gegen ihre Einheit'. Vom Präsidenten, dem Senatsvorsitzenden ohne Portefeuille, werde erwartet, 'dass er seinen Kopf für das Produkt von sechs Köpfen am Ende allein sichtbar hinhält.' Doch finde er 'nicht einmal auf der operativen Ebene einen Sachwalter für ein gemeinsames und kohärentes Programm.' Das Verhältnis zwischen Leitung und Geschäftsführung, ehrenamtlich tätigen Mitgliedern und vollamtlichen Mitarbeitern sei eine 'Zone der Unschärfe, unberührt von den Regeln einfacher Betriebswirtschaft.' Mit Ausnahme des professionell geführten, einzigartigen Archivs mit über 800 Künstlernachlässen gelte: 'Wer Entscheidungen trifft, braucht ihre Folgen nicht mitzutragen; wer auszuführen hat, wird für Entscheidungen verantwortlich gemacht, an denen er nicht beteiligt war.'"

NZZ, 16.12.2005

Der Streit in Frankreich um das Gesetz, wonach in den Schulen die "positive Rolle" des Kolonialismus hervorgehoben werden soll, spitzt sich zu, berichtet Marc Zitzmann. Am Dienstag haben neunzehn renommierte Historiker, darunter Jean-Pierre Azema, Marc Ferro, Pierre Nora, Rene Remond, Jean-Pierre Vernant, Pierre Vidal-Naquet und Michel Winock, "in einem Appell neben der Aufhebung des umstrittenen Textes diejenige von drei weiteren Gesetzen gefordert. Jedes von ihnen hat den Umgang mit einem historischen Ereignis zum Inhalt: die strafrechtliche Verfolgung der Leugnung der Shoah (13. 7. 90), die Anerkennung der Tatsache des Völkermords an den Armeniern (29. 1. 01), die Qualifizierung der Sklaverei und des Sklavenhandels als Verbrechen gegen die Menschlichkeit (21. 5. 01). Geschichte sei weder eine Religion mit unumstößlichen Dogmen, heißt es in dem Appell, noch eine Moral, die auszeichne oder verdamme, noch auch ein juristisches Objekt."

Weiteres: Paul Jandl stellt das Programm der Wiener Festwochen 2006 vor. Besprochen werden eine Retrospektive des Künstlers Franz Gertsch im Museum Franz Gertsch in Burgdorf und im Kunstmuseum Bern, die Ausstellung "Flucht, Vertreibung, Integration" im Bonner Haus der Geschichte und die Premiere von Matthew Bournes modernem Tanzstück "Edward Scissorhands" auf der Londoner Tanzbühne.

Auf der Filmseite werden besprochen Nacer Khemirs Märchen "Bab'Aziz - Le prince qui contemplait son ame", Mike Binders Film "The Upside of Anger", für den Joan Allen endlich den längst verdienten Oscar bekommen sollte, so Michel Bodmer, die tragikomische Weihnachtsromanze "The Family Stone" mit Sarah Jessica Parker und Stephen Frears Film "Mrs. Henderson Presents" mit Bob Hoskins und Judi Dench.

TAZ, 16.12.2005

In der zweiten taz stellt Philipp Gessler eine Studie des Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer vor, die die wachsende Fremdenfeindlichkeit der Mittelschicht mit der steigenden Angst vor dem sozialen Abstieg verbindet. Die Studie ergab allerdings auch Unvermutetes. "Junge Menschen sind in der Regel nämlich weniger islamophob oder fremdenfeindlich als ältere. Je höher der Ausländeranteil in einem sozialen Milieu, 'desto weniger Diskriminierungsabsichten werden geäußert'. Und die Christen sind im Schnitt intoleranter und feindseliger gegenüber schwächeren Gruppen als Konfessionslose." Die Ergebnisse der auf zehn Jahre angelegten Untersuchung werden jährlich in dem Band "Deutsche Zustände" im Suhrkamp-Verlag veröffentlicht.

Daniel Cohn-Bendit verteidigt im Gespräch mit Peter Unfried seinen Vorschlag, den Iran von der Fußball-WM auszuschließen, um Präsident Ahmadinedschad unpopulär zu machen. "Am besten wäre es, ein Fußballspiel Iran gegen Israel anzusetzen. Mit Hin- und Rückspiel. Die Iraner müssten in diesem Fall die Fahne, die Hymne und damit die Realität der israelischen Existenz fußballerisch und damit real anerkennen."

Auf der Medienseite berichtet Daniel Bax über zwei deutsche Radiomacher, die mit ihrem Programm "360 Grad" aus Jordanien für die kulturelle Zusammenarbeit des Iraks mit seinen Nachbarn werben. Im Feuilleton protokolliert Jan Engelmann den Antrittsbesuch des neuen Kulturstaatsministers Bernd Neumann vor dem Bundestagsausschuss Kultur und Medien. "gba" fällt beim Thema Iran und Juden Philip Roths Roman "Shylock" aus dem Jahr 1993 ein.

Die Besprechungen widmen sich ausnahmslos neuen Platten, und zwar Reminiszenzen an Musikerinnen des Postpunk vor zwanzig Jahren ebenso wie der aktuellen DJ-Kunst von Richie Hawtin und Andre Galuzzi.

Und Tom.

FR, 16.12.2005

Anlässlich des heute beginnenden Prozesses gegen Orhan Pamuk vergleicht Ina Hartwig das Engagement politischer Schriftsteller wie Peter Handke, Elfriede Jelinek, Harold Pinter und Günter Grass. "Nicht alle Schriftsteller halten sich beispielsweise an die saubere Gattungs-Trennung zwischen poetischem und politischem Sprechen. Der Traum, Politik und Poesie mögen deckungsgleich sein, wird als treu verwaltetes Erbe der Linken weitergeträumt."

Weitere Artikel: Der neue Kulturstaatsminister Bernd Neumann wird im Großen und Ganzen die Politik seiner Vorgängerin fortführen, muss das aber als große Tat verkaufen, bemerkt Peter Michalzik in Times mager. Christian Thomas würdigt die Arbeit von Ingeborg Flagge als Leiterin des Deutschen Architektur Museums, die nun nach fünf Jahren im Streit mit der Stadt ausscheidet.

Besprochen werden eine Aufführung von Andre Hellers aktuellem Zirkusspektakel "Afrika! Afrika!" in Frankfurt sowie Stefan Hoffmanns und Karsten Tomnitzs Lexikon "Rare Soul - Das Who is Who der Soul Ära"

FAZ, 16.12.2005

Michael Jeismann kommentiert die jüngsten Äußerungen des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad. Er kritisiert die "äußerst sparsame Reaktion des deutschen Bundestages" und fährt fort: "Die Äußerungen des iranischen Präsidenten kann man als Herausforderung, als Kampfansage auf staatspolitischer Ebene lesen - und in diesem Fall wäre die Europäische Union, wären die Vereinten Nationen gehalten, solche Schmähreden zu sanktionieren. Anderenfalls wären alle Gedenktage und Denkmäler nichts als wertlose Münzen in der Währung der Selbstgerechtigkeit. Folgenreicher als das Vergessen nämlich wäre der politische Beweis dafür, dass die Erinnerung an Menschheitsverbrechen politisch universal nicht einzulösen ist."

Weitere Artikel: Heinrich Wefing erscheint die Berliner Akademie der Künste nach dem Rücktritt ihres Präsidenten Adolf Muschg als "uninspiriertes, tief gespaltenes Haus, von dem für die Stadt, geschweige denn für die Republik, seit langem keine Reize mehr ausgehen". Lorenz Jäger fragt in der Leitglosse, ob nur Weiße rassistisch sein können. Paul Ingendaay schreibt zum Tod des spanischen Philosophen Julian Marias. Heinrich Wefing berichtet über die ersten Projekte des neuen Kulturstaatsministers Bernd Neumann, zu denen die Fusion der Kulturstiftungen des Bundes und der Länder gehört. Wiebke Huester schreibt zum Tod des Ballettdirektors und Tänzers Gert Reinholm.

Die Medienseite trägt in einer Meldung den beherzten Protest des Bundesverbands der Zeitungsverleger gegen einen Gesetzesentwurf der Bundesregierung vor, die plant, die obligatorischen Handelsregisteranzeigen (die auch der FAZ so wohl anstehen) abzuschaffen und die Anzeigen statt dessen ins Internet zu stellen. Der Enwurf " ignoriere die 'herausragende Bedeutung der Zeitungen als Bekanntmachungsorgan'". Matthias Rüb berichtet über Propagandaaktivitäten des Pentagon im Irak-Krieg. Und Hans-Christian Rössler stellt den Journalisten Khalid al Mosawi vor, der im Irak ein unabhängiges Radio macht.

Für die letzte Seite besucht Manfred Lindinger eine deutsche Forschungsstätte in der argentinischen Hochebene. Sie manifestiert sich in bizarren, mit Antennen versehenen Wassertanks und erkunden die Frage: "Woher kommen die energiereichsten Teilchen der kosmischen Höhenstrahlung, und wie werden sie erzeugt?" Kerstin Holm zitiert den russischen Korruptionsbekämpfer Kyrill Kabanow, der in Gerhard Schröders neuem Job eine Ausdehnung des russischen Systems auf Westeuropa sieht: "Es spreche doch Bände, wenn Schröder Presseberichte über seine Gasprom-Bezüge als überhöht anprangert, die korrekte Summe aber verschweigt." Und Andreas Kilb porträtiert den amerikanischen Autor Russell Banks, der in Berlin vorm Einstein Forum las.

Besprochen werden Andre Hellers Revue "Afrika Afrika" in Frankfurt, die Ausstellung "Imperium Romanum - Roms Provinzen an Neckar, Rhein und Donau" in Stuttgart und Karlsruhe und die Oscar-Wilde-Verfilmung "A Good Woman" mit Helen Hunt und Scarlet Johanson.

Auch die FAZ hat jetzt Orhan Pamuks historischen Artikel zu seinem heute beginnenden Prozess online freigeschaltet.

Welt, 16.12.2005

Eckard Fuhr besuchte den greisen DDR-Maler Bernhard Heisig, der ihm folgende Einsicht mit auf den Rückweg gab: "Der Künstler ist nicht frei, er darf gar nicht frei sein. Wenn ihm die Reibungsfläche fehlt, kann er nichts machen. Ich muss jemanden haben, der das Bild haben will oder auch nicht haben will."

Weitere Artikel: Wolf Lepenies greift die französische Debatte über die Kolonialvergangenheit auf. Stefan Kirschner berichtet vom ersten Treffen des Kulturstaatsministers Bernd Neumann mit dem Kulturausschuss des Bundestags. Ulrich Weinzierl stellt die österreichischen Pläne für das heraufziehende Mozartjahr vor. Der Rücktritt Adolf Muschgs von seinem Präsidentenamt an der Akademie der Künste wird gemeldet. Rainer Haubrich kommentiert ihn als eine der größten Krisen der Institution.

Im Forum kommentiert Mariam Lau die jüngsten Äußerungen des iranischen Präsidenten: "Die Welt fragt sich, ob der iranische Präsident einen Krieg gegen Israel plant und, wenn ja, ob er auf eigene Rechnung handelt oder im Namen des Regimes? Ob er sich, nach Arafats Tod und Saddam Husseins Demontage, zum neuen Saladin der islamischen Welt aufschwingen will? Ob er sie noch alle stramm hat?"

Im Magazin porträtiert Thomas Kielinger den Londoner Bürgermeister Ken Livingstone.

SZ, 16.12.2005

Lothar Müller begrüßt den Rücktritt von Adolf Muschg als Leiter der Berliner Akademie der Künste, der die längst fällige Neuorientierung der Institution ermöglichen könnte: "Denn es geht in der Berliner Akademie ein wenig so zu wie in Föderalismuskommissionen, die über Kultur debattieren: Irgendwann reden alle nur noch über die Gefahren des Zentralismus und die Gefahren des Partikularismus, und die Kultur kommt der Debatte abhanden. Es wird Zeit, dass die Berliner Akademie das Tal der Querelen durchschreitet und wieder als Kulturinstitution von sich Reden macht. Der Rücktritt von Adolf Muschg birgt die Chance dazu, gerade weil er das letzte Porzellan zerschlägt."

"Der neue Staatsminister für Kultur und Medien, Bernd Neumann, ist ein großer, etwas ungeschlachter Herr, dessen konservative Art sich zu kleiden an einen Kaffeehändler oder den Syndikus einer Privatbank denken lässt." Gerade weil er ein Parlamentarier und kein Kulturschaffender ist, könnte Neumann jedoch seine "anspruchsvolle" 100-Tage-Liste erfolgreich abarbeiten und vollenden, was Christina Weiss nicht mehr schaffte, meint Gustav Seibt: die Reform der Filmfinanzierung, die Fusion von Bundeskulturstiftung und Kulturstiftung der Länder sowie Deutschlands Beitritt zum Unesco-Abkommen gegen die rechtswidrige Einfuhr von Kulturgütern.

Weitere Artikel: Das umstrittene Buch des Italieners Luciano Canfora wird jetzt vom Kölner PapyRossa-Verlag veröffentlicht. Canfora sei nicht stalinistisch, sondern liege mit seiner Betrachtung von Sowjetunion und Faschismus nur "quer zum momentanen historischen Mainstream", meint der Verleger Jürgen Harrer im Gespräch mit Klaus Birnstiel. Die Debatte über das Recht auf Selbstverstümmelung ist in Deutschland angekommen und die "Body Integrity Identity Disorder" BIID ein Intellektuellenphänomen, informiert Alexander Kissler, der uns auch ein neues Wort beibringt: Apotemnophilie - die Lust am Abschneiden. Die Achtundsechziger waren gar nicht antikapitalistisch, meint Stephan Malinowski, sondern im Gegenteil die Avantgarde der Konsumgesellschaft. Das BBC-Klassik-Radio 3 sendet ab heute bis Weihnachten in 214 Sendestunden (mehr) alles von Johann Sebastian Bach, meldet Alexander Menden.

Reinhard Schulz hat auf den "Internationalen Weingartener Tagen für Neue Musik" in diesem Jahr die schüchterne britisch-deutsche Komponistin Rebecca Saunders erlebt. Dirk Peitz kommentiert einige Bilder aus der indonesischen Provinz Aceh, ein Jahr nach dem Tsunami. Nach der Hinrichtung von Ganggründer Stanley "Tookie" Williams ist die Debatte um die Todesstrafe unter schwarzen Amerikanern wieder aufgeflammt, weiß Jonathan Fischer. Eva-Elisabeth Fischer schreibt zum Tod des Berliner Tänzers und langjährigen Leiters des Balletts der Deutschen Oper Gert Reinholm.

Besprochen werden die "ebenso opulente wie gelehrte" Ausstellung "Barock im Vatikan. Kunst und Kultur am Hof der Päpste" in der Bonner Bundeskunsthalle, Mike Barkers romantisch-moralischer Kostümfilm "Good Woman - Ein Sommer in Amalfi", ein Auftritt der Mezzosopranistin Vesselina Kasarova im Münchner Herkulessaal sowie auf der Literaturseite eine Auswahl an Bildkalendern fürs neue Jahr.