Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.12.2005. In der taz unterhält sich Gabriele Goettle mit der Kulturhistorikerin Anna Bergmann, die erklärt , warum sie Organentnahmen aus Hirntoten ablehnt. Die FR feiert die Ausstellung "36 * 27 * 10" im Berliner Palast der Republik. In der Welt erklärt Ralf Dahrendorf, warum er die Leugnung des Holocaust nicht unter Strafe stellen wollte. Die FAZ nimmt Steven Spielbergs Film "Munich" gegen Kritik in Schutz. In der SZ beschreibt der irakische Schriftsteller Najem Wali, wie der Iran im geschwächten Irak seine Vorherrschaft durchsetzen will.

TAZ, 27.12.2005

Gabriele Goettle schildert ihren Besuch bei der Kulturhistorikerin Anna Bergmann, die Organentnahmen aus Hirntoten ablehnt. "Das Gesetz schreibt zwei Hirntoddiagnostiker vor, die unabhängig voneinander zu diagnostizieren haben, ob ein irreversibler Gehirnausfall vorliegt oder nur eine vorübergehende Bewusstlosigkeit. Und was ich ethisch auch sehr problematisch finde, ist die diagnostische Methode. Der Körper des Komapatienten wird sehr aggressiv herausgefordert bei der Suche nach Reaktionen - also nach 'Todeszeichen' -, es wird eine sehr lange Nadel in die Nasenwand gestochen, in den Trigeminusnerv (mehr), es wird Eiswasser in die Ohren gespült, es wird mit einem Tubus im Rachen hin und her geschoben... der Komapatient wird zweimal dieser Untersuchung unterworfen. Insgesamt acht Unterschriften sind im Hirntodprotokoll notwendig. Mit der letzten Unterschrift 'tritt der Tod ein', als bürokratischer Akt."

In der zweiten taz nutzt Thomas Lindemann die Neuausgabe von Matthias Matusseks Reportagensammlung aus der Wendezeit "Palasthotel" für ein Porträt des konservativen Journalisten, mittlerweile Leiter des Kulturressorts beim Spiegel.

Und Tom.

NZZ, 27.12.2005

Ursula Pia Jauch erinnert an die Schriftstellerin Isabelle de Charriere, die vor 200 Jahren starb.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Werken des Dichtermalers Felice Filippini (1917-1988) im Museo Villa dei Cedri in Bellinzona, eine Ausstellung zum Architektur-Team-10 im Nederlands Architectuur Instituut (NAI) in Rotterdam und Bücher, darunter Ryszard Kapuscinskis Band "Meine Reisen mit Herodot", Peter Stephan Jungks Roman "Die Reise über den Hudson" und Bernd Lichtenbergs Erzählband "Eine von vielen Möglichkeiten, dem Tiger ins Auge zu sehen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).
Stichwörter: Rotterdam

FR, 27.12.2005

"Hier könnte die Kunsthalle sein, die Berlin braucht, um ihren immensen Reichtum an zeitgenössischer Kunst zu zeigen." Mit "36 * 27 * 10", der definitiv letzten Ausstellung in seinen Hallen, empfiehlt sich der zum Abriss bestimmte Palast der Republik in Berlin als spannendes Experimentierfeld für moderne Kunst, meint Elke Buhr. "Es ist, der improvisierten Natur der Sache gemäß, ein buntes Sammelsurium von Objekten geworden: Rirkrit Tiravanija hängt nostalgisch sein durchgewetztes Handtuch hinter Glas, das er in Berlin immer benutzt hat, Björn Melhus singt auf Video als Schlumpf verkleidet ein Geburtstagslied, John Bock präsentiert eine wunderbare Skulptur mit einer Gitarre als Bauch und einem Teebeutel als Magen, die 'Babyshambles' heißt, wahrscheinlich nach der Platte, die er gerade hört. Angela Bulloch hat den riesigen Comic-Schrei AAARGGH an die Wand geschrieben, Corinne Wasmuth, Anselm Reyle, Andre Butzer und Thomas Zipp demonstrierten die Qualität und Varianz zeitgenössischer Malerei, Olafur Eliasson hat eine riesige 'Umgekehrte Spiegellampe' in den Raum gehängt."

Weiteres: Petra Kohse schreibt wintermelancholisch über gezwungen flexible Akademikerfreunde und unflexible Verkäuferinnen. Ebenso wehmutsvoll erinnert Ina Hartwig an George Painters wegweisende Proust-Biografie von 1965. "Es war wie der letzte Gruß einer schon lange verlorenen Zeit." Auf der Medienseite bemängelt Jan Freitag die klischeehafte Darstellung von Schwulen im Fernsehen.

Besprechungen widmen sich Armin Petras' "flüchtig zusammengestöpselter" Version von Sophokles' "Ajax" im Schauspiel Frankfurt und Büchern, darunter Julian Nida-Rümelins Abhandlung "Über menschliche Freiheit", François Bellecs "prachtvolle" Geschichte der mittelalterlichen Handelsrouten "Unterwegs auf den Weltmeeren" sowie der Sammelband "Die Google-Gesellschaft" über den Vormarsch der Suchmaschinen (der leider ohne Index auskommen muss, wie Gustav Roßler beklagt). Mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr.

Welt, 27.12.2005

In einem Überblick werden sämtliche Höhepunkte des Kulturjahrs noch einmal in Erinnerung gerufen. Vicky Leandros erklärt im Interview, wie sie Kinder und Karriere vereinbarte. Matthias Heine gratuliert Michel Piccoli zum Achtzigsten. Tom Junkersdorf freut sich, dass deutsche Popmusiker heute wieder selbstverständlich auf Deutsch singen.

Ralf Dahrendorf plädiert im Forum für eine möglichst liberale Praxis der Meinungsfreiheit und möchte auch die Leugnung des Holocaust nicht unter Strafe stellen: "In allen Fällen sind aktive und wache Bürger gefragt, die gegen Dinge auftreten, die ihnen missfallen, und nicht der Ruf nach einem Staat, der strenger dagegen vorgeht. Die direkte Anstiftung zu Gewalt wird - zu Recht - als inakzeptabler Missbrauch der Meinungsfreiheit gesehen, aber viel von den Widerwärtigkeiten, die ein David Irving und die Hassprediger von sich geben, fällt nicht in diese Kategorie. Deren Tiraden sollte man mit Argumenten beikommen, nicht mit der Polizei."

Tagesspiegel, 27.12.2005

In einem Vorgriff auf das kommende Mozart-Jahr widmet sich Clemens Prokop den lebenslangen Geldnöten des nie fest angestellten Komponisten. "Mozart war eine Spielernatur. Auch das hat er vom Elternhaus mitbekommen. Er liebte die Karten, das Bölzlschießen (mehr), er spielte Billard - und wahrscheinlich auch Lotto. Dass er darüber hinaus ein Spieler war, der zwanghaft sein Geld verjubelte, kann man vermuten. Beweise dafür gibt es keine. Das Leben in der Kaiserstadt Wien war aber auch so teuer genug, um einen wider Willen freischaffenden Künstler in die Bredouille zu bringen."

FAZ, 27.12.2005

Jordan Mejias hat Steven Spielbergs Film "Munich" über das Olympiaattentat 1972 und die Folgen gesehen, und er nimmt den Regisseur gegen den Vorwurf der Gleichsetzung von Terror und israelischer Reaktion in Schutz: "Was einem Politiker vorzuwerfen wäre, kann sich bei einem Künstler freilich als Verdienst erweisen. Es reicht, wenn ein Regisseur die Verwüstungen, die Terror und Gewalt in der menschlichen Seele anrichten, ehrlich und eindringlich beschreibt. Das tut Spielberg in 'Munich' nicht immer, aber oft genug, und dabei ist er alles andere als naiv."

Weitere Artikel: Kerstin Holm unternimmt einen Streifzug durch modische Restaurants in Moskau. Michael Althen gratuliert Michel Piccoli zum Achtzigsten. Heinrich Wefing begutachtet den Neubau des britischen Architekten David Chipperfield für das Literaturmuseum der Moderne in Marbach. Iring Fetcher meint, dass die Amerikaner im Irak scheitern werden - wie einst Napoleon in Spanien - durch eine der Reife des Gastlandes nicht angemessene geschenkte Verfassung.

Auf der DVD-Seite werden ein Filmessay Godards zu hundert Jahren französischem Kino, Filmessays Scorseses zum italienischen und zum amerikanischen Film, ein Filmessay Edgar Reitz' zum deutschen Kino und Filmessays zur Geschichte des asiatischen und des skandinavischen Kinos besprochen.

Auf der Medienseite erzählt Martin Kämpchen, wie indische Journalisten mit versteckter Kamera den Politikern ihre Korrumpierbarkeit nachweisen. Katja Gelinsky berichtet, dass die amerikanische Regierung der New York Times nach Aufdeckung eines geheimen Abhörprogramms Ärger bereitet.

Auf der letzten Seite diskutiert Gabi Dolff-Bonekämper Pläne und Ideen zur weiteren Ausgestaltung des Berliner Kulturforums. Elmar Schenkel erinnert an den Autor George MacDonald, der im 19. Jahrhundert das Fantasy-Genre mitbegründete. Und Jürg Altwegg berichtet, dass die französische Regierung ein sehr industriefreundliches Gesetz zum Copyright im Internet durchsetzen will.

Besprochen wird eine Otto-Dix-Retrospektive in Regensburg.

SZ, 27.12.2005

Der in Köln lebende irakische Schriftsteller Najem Wali weist auf die iranische Unterwanderung des Irak hin. "Fast ist es Iran schon gelungen, den Südirak von Professoren und Intellektuellen zu säubern, sei es durch Morde oder durch Einschüchterung. Dank der Politik Großbritanniens und der Vereinigten Staaten stellte der Südirak eine leichte Beute dar. Viele Politiker der irakischen Regierung zählen zu den treusten Verbündeten Irans, Iraks Ministerpräsident Ibrahim al-Dschafari hat im iranischen Exil gelebt, ebenso wie der Vizepräsident der Nationalversammlung, Hussein al-Schahristani. Die alte iranische Utopie von der regionalen Hegemonie kehrt im islamischem Gewand zurück. Aus iranischer Sicht ist alles nur eine Frage der Zeit: Ob al-Ihsa in Saudi-Arabien, Bahrain oder der Südirak - früher oder später werden sich alle Schiiten einem Groß-Iran anschließen, dessen Thron auf Erdöl steht."

Weitere Artikel: Susan Vahabzadeh beobachtet, dass Hollywood in diesen Zeiten der Not wieder vermehrt politisch mutige Filme produziert, auf eine Blütezeit wie in den Siebzigern will sie aber noch nicht hoffen. "zri" meldet, dass der Streit um gestohlene Kunstwerke zwischen Italien und dem Metropolitan Museum of Art in New York mit Leihgaben gelöst werden könnte. Hermann Unterstöger versammelt in seiner Zwischenzeit-Kolumne sprachkritische Leserkommentare. Rainer Gansera gratuliert dem Schauspieler Michel Piccoli zum Achtzigsten.

Im Medienteil stellt Christine Brinck die Wochenzeitung The New York Observer vor, die durch Candace Bushnells "Sex and the City"-Kolumne bekannt wurde und deren 55.000 Leser immerhin durchschnittlich 1,7 Millionen Dollar schwer sind.

Besprochen werden Michael Thalheimers frostige "Rigoletto"-Inszenierung in Basel, Armin Petras' "romantisch-nüchterne" Version von Sophokles' "Ajax" im Schauspielhaus Frankfurt, eine Werkschau des Eventkünstlers George Brecht im Kölner Museum Ludwig, Mark Dornford-Mays "grandioser" Film "U-Carmen" und die "Filmgeschichte weltweit" auf 7 DVDs im Zweitausendeins Verlag.

An Büchern gibt es unter anderem zwei Neuerscheinungen zu Hannah Arendt von Kurt Sontheimer und Barbara Hahn, Merlin Hollands Auswahl von Oscar Wildes "Leben in Briefen" sowie das Hörbuch des Quantenphysikers Anton Zeilinger, in dem er die "Spukhafte Fernwirkung" erklärt (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).