Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.12.2005. Zehn Jahre nach seinem Tod wird Heiner Müller auf eventuell fortbestehende Lebendigkeit getestet. Die taz meint: Er steckt wohl noch im Fegefeuer, für die Welt überlebt allenfalls Müllers Totenkult. Die Berliner Zeitung beschreibt neue Techniken im Überlebenskampf der Musikindustrie. Die SZ bringt ein fünfseitiges Mozart-Dossier. Und der Fall der Susanne Osthoff treibt auch die Feuilletons um.

TAZ, 30.12.2005

"Was bleibt?", fragt Jörg Sundermeier zehn Jahre nach dem Tod Heiner Müllers und stellt fest, dass der Dramatiker noch nicht wieder aus dem Fegefeuer herausgekommen ist: "Als Heiner Müller vor zehn Jahren starb, trauerte das Berliner Ensemble eine ganze Woche lang, Devotionalien wurden ihm ans Ehrengrab gebracht, die Nachrufe waren unzählbar. Heute aber bleiben seine Texte stumm. Was nicht nur an der Entscheidung liegt, Müllers Texte in eine kommentierte Werkausgabe zu bannen, die der von ihm selbst verantworteten, an den Brecht'schen 'Versuchen' orientierten Materialausgabe im Rotbuch Verlag den Garaus machte. Vor allem fehlen den Texten Müllers die Leserinnen und Leser. Der Humor, der sich etwa in Müllers Forderung Bahn bricht, ein Kohl-Mausoleum solle Denkmal der Einheit werden, ist aus der Mode. Bonmots wie 'Zehn Deutsche sind natürlich dümmer als fünf Deutsche' wird heute schnell widersprochen. Das Drama des Sozialismus, das Müller wie keiner vor oder nach ihm beschreibt, schert niemanden. Die Idee 'Keiner oder alle', also jener Humanismus, der tötet, gilt als Sache von gestern."

Weitere Artikel: Jürgen Berger liest "Der Tod ist ein Irrtum", einen Text- und Fotoband der Fotografin und Heiner-Müller-Witwe Brigitte Maria Mayer. Thomas Winkler trifft Jack Endino, "den Vater des Grunge", in Seattle. Tobias Rapp bespricht Rock-CDs.

In der tazzwei plädiert Jan Feddersen ausführlich für eine Erhaltung des Instituts für Sexualwissenschaft in Frankfurt. Auf der Medienseite kommentiert Stefan Kuzmany die Entscheidung des ZDF, ein Interview mit Susanne Osthoff auszustrahlen, obwohl diese offensichtlich verwirrt war.

Schließlich Tom.

Berliner Zeitung, 30.12.2005

Jens Balzer zieht Bilanz des (angeblich gar nicht so schlechten) Popmusikjahrs 2005 und beschreibt neue Techniken im Überlebenskampf der Plattenfirmen: "Wie in den vergangenen Jahren, suchten die großen Schallplattenfirmen ihr Heil sowohl in der Kriminalisierung der Kunden - allein in Deutschland wurden mehrere tausend Prozesse gegen 'illegale' File-Sharer angestrengt - wie auch in eigenen kriminellen Praktiken. Besonders toll trieben es dabei die Kollegen von SonyBMG. Einerseits versuchten sie den Einsatz ihrer Produkte im amerikanischen Radio mit einem fein ausgeklügelten Schmiergeldsystem zu unterstützen; andererseits verblüfften sie die Welt mit einem neuartigen Kopierschutzprogramm, das sich beim Abspielen einer SonyBMG-CD auf dem Computer tief in dessen Betriebssystem verwurzelt und fortan über das Internet persönliche Daten des CD-Käufers an die Plattenfirma übermittelt."

FAZ, 30.12.2005

"Die verwirrte Susanne Osthoff ist ein Produkt des ZDF." Patrick Bahners wirft dem Sender vor, entscheidende Stellen des Gesprächs mit Marietta Slomka herausgekürzt und damit entstellt zu haben. Aus dem vollständigen Text, der auf der Senderseite nachzulesen ist, gehe hervor, dass etwa Osthoffs Medienkritik oder der Dank für Schröders effektive Intervention restlos gestrichen wurden. "Ein Thema dominiert, von dem das ZDF jede Spur getilgt hat: Frau Osthoffs Kritik an ihrer Behandlung durch die deutsche Botschaft vor der Entführung."

Kollege "kum" dagegen behauptet in seiner Zusammenfassung des Gesprächs im Politikteil, dass es vor allem ums Geld ging. Schützenhilfe gibt es wiederum von Elke Heidenreich, die sich in ihrer Kolumne mit der "störrischen" Archäologin solidarisiert.

Weitere Artikel: Wolfgang Schuller hat die Strapazen auf sich genommen, eine winterliche Tagung zur Korruption in Brasilien zu besuchen, und zwar in Sao Paulo, wo "stimulierende Wissenschaftlichkeit und heitere Lebensfreude einander treffen". In einem Rückblick auf die kleinstaatliche Autonomie der deutschen Universitäten erteilt der Historiker und emeritierte Professor Notker Hammerstein dem Glauben an vom Staat geschaffene Eliteuniversitäten eine Absage. Wolfgang Sandner gratuliert dem jazznahen Pianisten und Komponisten Wolfgang Dauner zum Siebzigsten. Einen Tag früher als gewöhnlich stellt Andreas Platthaus mit Andre Franquins "Gaston" einen weiteren Band der verlagseigenen Comic-Anthologie vor.

Auf der letzten Seite begrüßt Dieter Bartetzko die Streichung der Eigenheimzulage als zeitgemäß. Joseph Hanimann kolportiert das Gerücht, Jacques Chirac habe sich persönlich dafür eingesetzt, dass eine Freundin seiner Tochter die weibliche Hauptrolle in der Verfilmung des "Da Vinci Code" bekommt. Wiebke Hüster heißt die Choreografin Amanda Miller und ihre Compagnie "Pretty Ugly" in Köln willkommen.

Im Medienteil sammelt Nina Rehfeld amerikanische Stimmen über das angeblich bevorstehende Ende der Massenmedien und den Beginn der "Technokultur". Sandra Kegel porträtiert Sandra Kegel, die seit 1998 mit Giovanni di Lorenzo die Talkshow "3 nach 9" bei Radio Bremen moderiert.

Besprochen werden die erste Werkschau des spätmittelalterlichen Malers Fra Angelico in den USA im Metropolitan Museum New York, eine Schau über das Paar Max Beckmann und Minna Beckmann-Tube in der Alten Nationalgalerie in Berlin (die Hans-Joachim Müller als einen der "verschwiegenen Höhepunkte des Ausstellungsjahres" preist) und Bücher, darunter eine Anthologie mit Lyrik aus dem maurischen Spanien und Iris Därmanns ethnologisch-wissenschaftsgeschichtliche Studie "Fremde Monde der Vernunft" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 30.12.2005

Thomas Medicus war im Berliner Museum für Verkehr und Technik, wo zur Zeit eine vom Militärhistorischen Institut Prag konzipierte Ausstellung über das Attentat auf Reinhard Heydrich gezeigt wird. "Beeindruckend ist die Vielzahl der originalen Dokumente wie persönlichen Gegenstände der Attentäter. Die Ermittlungsakten des nationalsozialistischen Sicherheitsdienstes sind ebenso erhalten geblieben wie die Kleidungsstücke oder Handfeuerwaffen der Attentäter. Die Inszenierung dieser Objekte zeigt, dass es sich um mehr als die bloße Dokumentation eines wichtigen historischen Ereignisses handelt. Die erinnerungspolitische Absicht der Ausstellung zielt auf ein neues, das tschechische Nationalgefühl stärkendes Geschichtsbewusstsein. Aufklärung über Fakten und historische Ereignisse ist deshalb nur die eine Intention, Erzeugung von Emotionen die andere."

Weiteres: Der Pianist Pierre-Laurent Aimard spricht im Interview über Auftritte, Lebenspläne und Ravels G-Dur-Konzert. Nicolai Fraiture und Nick Valensi von den "Strokes" sprechen im Interview über ihre neue Platte "First Impressions on Earth" und die perfekte Silvesterparty. In Times Mager kommentiert Christian Schlüter die Interviews von Susanne Osthoff: "Ihre Geschichte hat keine uns zuträgliche Moral." Besprochen wird ein Bildband von Brigitte Maria Mayer.

Tagesspiegel, 30.12.2005

Aus Anlass von Heiner Müllers zehntem Todestag bringt der Tagesspiegel einen humorvollen Theaterdialog der Autoren Moritz von Uslar und Thomas Oberender.

NZZ, 30.12.2005

Gabriele Detterer berichtet über die Tagungsreihe "Urban Age", die sich mit der Zukunft von Metropolen wie New York, Schanghai, London, Mexiko-Stadt, Johannesburg und Berlin befasst. Thomas Fischer stellt neue Thesen zu Portugals berühmtestem Gemälde, den "Paineis de Sao Vicente" vor. Thomas Grob schreibt zum 100. Geburtstag von Daniil Charms, Nick Liebmann zum Tod des Gitarristen Derek Bailey. Besprochen wird eine Ausstellung über "Sexarbeit" im Museum der Arbeit in Hamburg.

Auf der Filmseite finden sich drei Berichte zur Lage des Kinos in Frankreich, Deutschland und den USA (nur hier geht's der Filmindustrie richtig gut dank boomendem DVD-Geschäft). Besprochen wird der südafrikanische Opernfilm "U-Carmen eKhayelitsha".

Auf der Medien- und Informatikseite beschreiben Andrea Höhne und Stephan Russ-Mohl Konjunktur und Krise der Wirtschaftsmedien. Und Cristina Elia berichtet über Irrtümer der US-Medien, die der Journalist Craig Silverman in seinem Weblog aufgelistet hat.

Welt, 30.12.2005

Uwe Wittstock taucht Heiner Müller in das goldene Licht der Erinnerung. Aktuell findet er höchstens noch Müllers "exotistischen Totenkult": "Enttäuscht von den europäischen Revolutionen bastelte er in seinen späten Stücken lustvoll an der Schreckensvision eines kollektiven Amoklaufes der verelendeten Dritten Welt gegen die Erste. 'Die Heimat der Sklaven ist der Aufstand', verkündet im 'Auftrag' sein schwarzer Held, für den der eigene Tod ohne Bedeutung ist, solange er nur Weiße morden und ihre Ordnung zerstören kann. In einer Zeit täglicher Selbstmordattacken gegen einen verhaßten Westen liest man solche Sätze sehr genau. Doch Müllers Phantasien haben letztlich mit unserer Realität wenig gemein. Denn die islamistischen Attentäter in Europa oder Amerika entstammen keiner versklavten Masse, die in blindwütigem Aufruhr Rache übt. Es sind vielmehr Söhne bürgerlicher Familien, die an der westlichen Zivilisation psychisch scheitern."

In einem launigen Gespräch mit Kai Luehrs-Kaiser im Magazin spricht Daniel Barenboim, Generalmusikdirektor der Deutschen Staatsoper in Berlin, über das Menschliche an Wagner und die Lust an der Zigarre. "Rauchen habe ich von Arthur Rubinstein gelernt. Als ich 14 Jahre alt war, besuchte ich ihn einmal bei Tel Aviv in seinem Hotel. Er kannte meine Eltern, ich durfte ihm oft vorspielen. An diesem Tag war ich krank. Ich hatte 39 Grad Fieber und ging trotzdem hin. Rubinstein war aber nicht da. Als er endlich kam, sah ich, wie peinlich es ihm war, dass er unsere Verabredung vergessen hatte. Wir saßen dann bis ein Uhr morgens zusammen. Er gab mir Wodka und die erste Zigarre meines Lebens, eine dicke 'Monte Christo'. Natürlich waren meine Eltern entsetzt. Mein Vater packte mich bei den Schultern und schüttelte mich. Seitdem bin ich beim Zigarrenrauchen geblieben."

Weiteres: Eberhard Straub wettert gegen die urbane Lust an der Rekonstruktion, die im Kommerz gründet und aus Altstädten Einkaufszentren mit künstlichem Geschichtsflair macht. Mariss Jansons freut sich im Kurzgespräch über sein erstes Wiener Neujahrskonzert zeitgemäß mit einer Fußballmetapher. "Das ist wie das WM-Endspiel der Dirigenten." Marion Leske ist gespannt, ob aus der virtuellen European Kunsthalle der Kölner Kunstfreunde vom Verein "Loch e.V." einmal mehr wird als "eins, zwei, drei vollmundige Publikationen". Und Manuel Brug durchpflügt die mittlerweile hundertjährige Wirkungsgeschichte von Franz Lehars Operette "Die lustige Witwe". Außerdem kürt die Redaktion ihre Lieblingsfilme des Jahres.

Recht angetan berichtet Gabriela Walde von der ersten Einzelausstellung eines westlichen zeitgenössischen Künstlers in Istanbul, die "kleine, schöne Picasso-Schau" im privaten Sakip Sabanci Museum.

SZ, 30.12.2005

Die SZ bringt aus Anlass des kommenden Mozart-Jahrs ein fünfseitiges Dossier über den Komponisten.

Auf der ersten Seite einige Gedankensplitter von Kollege Dieter Schnebel: "Was hat er alles gewagt! Zum Beispiel richtige Atonalität (Anfang des C-Dur-Quartetts), Polyrhythmik (Don Giovanni, Scena 20 im Finale des ersten Aktes, die zugleich Raummusik ist) und Polystilistik (die ganze 'Zauberflöte': er war der erste Postmoderne). Dabei ist die Musik auch zeitgemäß, trifft eben den Nerv der Zeit. Und leichthin - wie wenn's nichts wäre. Eben elegant (mühelos) gekonnt; getreu der Devise Nestroys, Valentins: 'wenn man's kann, ist es keine Kunst nicht mehr; wenn man's aber nicht kann, ist's erst recht keine.'"

Nikolaus Harnoncourt erzählt im Interview mit Jörg Königsdorf, wie ihn Mozart vor frühzeitiger Pensionierung rettete: "Sie dürfen nicht vergessen, dass ich bis 1969 ja noch als Cellist im Orchester saß. Aber damals war es genau die g-Moll-Sinfonie, die mich dort hinaus katapultiert hat. Die wurde damals in Wien viel gespielt: immer unerträglich lieblich. So dass die Kritiken hinterher immer von 'reinstem Mozart-Glück' sprachen. Und irgendwann, von einem Tag auf den anderen, wurde mir bewusst: Das kannst Du nicht mehr ertragen. Die g-Moll-Sinfonie hat somit mein Leben verändert: Sonst wäre ich vor zwölf Jahren in Pension gegangen."

Weitere Artikel: Reinhard J. Brembeck rekonstruiert im Aufmacher das Verhältnis von Kunstmusik und "Popularem" (nach einem Ausdruck Leopold Mozarts) in Mozarts Musik. Fritz Göttler denkt über Mozart und das Kino nach: "Der Geist von Mozart ist stark präsent in der Filmgeschichte, er gibt dem Werk einiger der größten Filmemacher den Rhythmus." Joachim Kaiser wirbt für die brillante Sonate für zwei Klaviere in D-Dur, KV 448. Der Wiener Kabarettist Alfred Dorfer beschreibt Mozart als "Selbstbedienungsladen mannigfaltiger Bedürfnisse". Wolfgang Schreiber lässt Mozart-Inszenierungen der letzten Jahrzehnte Revue passieren. Gottfried Knapp denkt über Mozart und die Bilder nach. Auf zwei Seiten werden lesenswerte neue Mozart-Bücher (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr) vorgestellt. Joachim Kaiser bedauert es ausdrücklich, dass die neuen Mozart-Biografien sich "nur ganz nebenher" mit seiner Musik beschäftigen. Doch empfiehlt er in einer Besprechung Piero Melogranis Mozart-Biografie. Schließlich versucht Eckhard Henscheid, Mozart im Interview mit Reinhard J. Brembeck kritisch zu sehen.

In einer verbleibenden "normalen" Feuilletonseite stellt Hubertus Adam David Adjaye (Website und Bilder) als die schillerndste Figur unter den jungen Londoner Architekten vor. Ralf Dombrowski gratuliert Wolfgang Dauner zum Siebzigsten. Karl Lippegaus schreibt zum Tod des Freejazz-Gitarristen Derek Bailey. Besprochen wird der Film "Ein Haus in Irland" nach einem Roman von Maeve Binchy.