Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.01.2006. Die FR stellt ein virtuelles Museum über den sowjetischen Gulag vor. In der Welt beschreibt Hans Josef Ortheil das "Wunder" von Mozarts Musik. Die SZ bringt einen Abgesang auf den Palast der Republik. Und wir wünschen ein Frohes Neues Jahr!

FR, 02.01.2006

Karl Grobe stellt ein virtuelles Museum über die sowjetischen Gulags vor, das aus Mangel an realen Erinnerungsstätten gegründet wurde. Die Politik nutzt die Geschichte eher als Steinbruch für staatliche Symbole. "Einerseits beschwört die Machtelite die Kontinuität der Historie. Sie greift zurück auf Symbole und Traditionen des Staates vor der Revolution von 1917. (...) Andererseits bleibt die Nationalhymne der Sowjetunion (mp3), mit zum dritten Mal vom selben Autor umgeschriebenen Text (mehr), erhalten - nun als Hymne Russlands. Und der 9. Mai, der Tag des Sieges von 1945, bleibt Feiertag, Tag der Befreiung, obwohl diese Befreiung keine von der eigenen Stalinschen Diktatur war. Sowjetgeschichte und russische Geschichte sind einerseits kongruent, andererseits aber nicht. Was Russland ist, entzieht sich so der Rationalität."

Sebastian Moll referiert die Kritik, die Steven Spielberg für die moralische Neutralität in seinem neuen Film "Munich" über das Attentat auf israelische Sportler bei den Olympischen Spielen 1972 in München erntet. Franz Anton Cramer berichtet von einem Treffen von sieben europäischen Tanzhäusern im irischen Cork, die ihre Sparte mit einem Fördernetzwerk aus der Krise führen wollen.

Die Besprechungen widmen sich Stefan Bachmanns "diffuser" Inszenierung von Kleists "Amphitryon" im Deutschen Theater Berlin und Moritz von Uslars als "Seance" betitelten Stück "100 Fragen an Heiner Müller" im Berliner Ensemble (Weggefährten Müllers beantworteten dafür Fragen wie "Wenn es den Kommunismus nie gegeben hat, wofür war der Sozialismus dann die Vorstufe?").

FAZ, 02.01.2006

Im Aufmacher stimmt Patrick Bahners eine Hymne auf eine Kolumne - die "Notizen" - des Kollegen Johann Michael Möller aus der Welt an. Andreas Platthaus wirft schon mal einen Blick auf die Fußballweltmeisterschaft und die Bedeutung, die sie für unser Land haben wird. Andreas Kilb versucht in der Leitglosse, undialektisch über Tom Cruise zu denken, der von einer britischen Filmzeitschrift sowohl zum größten als auch zum ärgerlichsten Filmstar aller Zeiten gewählt wurde. Vorabgedruckt wird ein Essay des bald achtzigjährigen Wolf Jobst Siedler über das Altern. Gina Thomas erzählt, wer in Großbritannien in diesem Jahr alles zum Sir und zur Dame geschlagen wird (darunter Vivienne Westwood). Jennifer Wilton schreibt über den boomenden Hörbuchmarkt, der nun durch neue MP3-Portale im Internet bereichert wird. Werner Jacob besucht das Schloss Molsheim im Elsass, das von VW als Fertigungsstätte für den neuen Bugatti wiederaufgebaut wurde.

Auf der Medienseite empfiehlt Karen Krüger Dieter Wedels Scheidungsdrama "Papa und Mama", dessen erster Teil heute im ZDF läuft.

Caspar Hirschi, Autor eine vielbeachteten Dissertation über Deutschland in der Renaissance, erkundet auf der letzten Seite die Geschichte der Humanismusforschung. Martin Otto glossiert eine Äußerung des ehemaligen Greenpeace-Aktivisten Thilo Bode über den übertriebenen Schutz für die Robben. Und Alexandra Kemmerer porträtiert den Strafrechtshistoriker Dietmar Willoweit, der zum Präsidenten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gekürt wurde.

Besprochen werden die Inszenierung der "100 Fragen an Heiner Müller" von Moritz von Uslar am Berliner Ensemble und Karin Beiers Inszenierung von Gorkis "Kleinbürgern" in Wien.

Welt, 02.01.2006

Hans Josef Ortheil feiert das "Wunder" von Mozarts Musik: "Ihr stärkster Gestus ist die Verführung, das An-die-Hand-Nehmen des Hörers, sein Umschmeicheln, seine Begleitung und Betörung: 'Komm mit! ...', flüstert diese Musik, 'begleite mich in ein Reich, das Du noch nicht kennst und in dem Du noch nie warst und in dem Du Dir doch auf geheimnisvolle Weise begegnen wirst ...'" D.W. stellt die Höhepunkte des Mozart-Jahres vor. Eine kurze Meldung informiert uns, dass die Wiener Philharmoniker zum Auftakt des Mozartjahres ein Neujahrskonzert eingespielt haben, das man als Handy-Klingelton herunterladen kann.

In einem kurzen Interview skizziert Bernd Scherer, neuer Leiter des Hauses der Kulturen, die neue Linie des Hauses: "Auf jeden Fall müssen wir künftig stärker die Schnittstellen zwischen Hochkultur und populärer Kultur betonen. Schon von der Architektur her bietet sich das Haus als Begegnungsstätte an. Deutschland wird künftig von einer Kanzlerin regiert, die die multikulturelle Gesellschaft als gescheitert bezeichnete."

Weitere Artikel: Hanns-Georg Rodek schreibt eine kleine Hommage auf Errol Flynn, dessen Filme jetzt auf DVD neu herausgekommen sind. Hellmuth Karasek freut sich über die "Fritz Lang Indien-Edition" auf DVD. Herbert Kremp überlegt, was er mit der Sekunde Zeit anfangen soll, die ihm Silvester geschenkt wurde. J.e. schreibt zum Tod des britischen Gitarristen Derek Bailey.

Besprochen werden die Uraufführung "100 Fragen an Heiner Müller" im Berliner Ensemble und die Ausstellung "The Iraqi Equation" in den Kunstwerken in Berlin.

TAZ, 02.01.2006

Die taz fängt an, sich an Angela Merkel zu gewöhnen. Wolfgang Ullrich lobt die Kanzlerin als "gar nicht schmallippig oder humorlos" und ihre erste Neujahrsansprache als "provozierend unpathetisch und bis zur Schmerzgrenze ernüchternd".

Weiteres: Kurt Tucholsky ist nun seit siebzig Jahren tot, weshalb seine mit Ignaz Wrobel signierte Pressekritik urheberrechtsfrei abgedruckt wird. "Das Korrektiv mehrerer Zeitungen leisten sich außer den Fachleuten nur wenig Menschen - und so entsteht ein Weltbild, wie es entstehen soll, nicht, wie es ist." 1921 gab es auch noch keinen Perlentaucher. In der zweiten taz porträtiert Natalie Tenberg eine junge indische Callcenter-Angestellte als Prototyp der neuen Mittelschicht.

Und Tom.

SZ, 02.01.2006

Mit dem Palast der Republik wird ab dem 18. Januar vor allem ein politisches Zeichen entfernt, meint der Kabarettautor Peter Ensikat. "Es geht absolut nicht um Schönheit oder Hässlichkeit eines Gebäudes. Ginge es darum, müsste man den benachbarten Berliner Dom (mehr), dessen Schönheit sich in den Geschmacksgrenzen des letzten deutschen Kaisers hält, auf der Stelle mit abreißen. Es ging bei der Stadtschloss-Ruine und geht nun bei dem zur Ruine gemachten Palast wieder um eine Ideologie, die die Spuren der anderen beseitigen möchte. Was mit dem Kaiserschloss als Tragödie begann, setzt sich nun beim Palast als Farce fort."

Willi Winkler zitiert in seiner Reportage von der baldigen Ruine aus dem Bauprogramm von einst. "'Die Architektur des Zentrums von Berlin soll alle Werktätigen mit Zuversicht, Mut und Begeisterung erfüllen', lautete die sonst wenig konkrete Vorgabe für das Bauloch mitten im Nachkriegs-Berlin, 'soll die Wankelmütigen aufrichten und den Feinden des Fortschritts ein Dorn im Auge sein.' - Das mit dem Dorn immerhin ist gelungen."

Weitere Artikel: Henning Klüver besichtigt die mit Augenmaß geplanten Bauten fürt die Olympischen Winterspiele im Zentrum von Turin und favorisiert dem Palasport Olimpico (mehr) von Arata Isozaki. Der Soziologe Peter Weingart sorgt sich um die Seriosität der Wissenschaft, wenn die Leistungen der Wissenschaftler zunehmend und ausschließlich an der Zahl ihrer Veröffentlichungen gemessen wird. Im Gespräch mit Anke Sterneborg spricht der Schauspieler Peter Sarsgaard über seinen neuen Film "Jarhead" und das Vergnügen, mit Frauen in einem Ballettsaal zu sein.

Auf der Medienseite begrüßt David Böcking das gestern in Kraft getretene neue Bundesinformationsfreiheitsgesetz (Text), nach dem Behörden die Nichtveröffentlichung von Dokumenten begründen müssen. Christian Langrock-Kögel stellt Dieter Wedels Fernseh-Zweiteiler "Papa und Mama" vor, in dem sich Wedel den Themen Ehe und Scheidung widmet.

Besprochen werden Calixto Bieitos "fast zu dezente" Version von Alban Bergs Repertoireoper "Wozzeck" im Opernhaus Barcelona, Moritz von Uslars als "Seance" betiteltes Stück "100 Fragen an Heiner Müller" im Berliner Ensemble, die Schau "Pixar: 20 Years of Animation" im Museum of Modern Art in New York, die von Mariss Jansons dirigierte "fulminante" Aufführung von Lanners Walzer "Die Mozartisten" beim Wiener Neujahrskonzert, und Bücher, darunter William Trevors Erzählband "Seitensprung", "Vom Mann, der die Luft anhielt und andere Geschichten", eine von Hans Magnus Enzensberger zusammengestellte Auswahl von Cartoons und Texten von James Thurber sowie der von Wolfgang Neumann herausgegebene Vergleich der Sozialstaatsreformen in Deutschland und Frankreich "Welche Zukunft für den Sozialstaat?" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).