Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.01.2006. Die Zeit bringt einen Schwerpunkt über den Kind-Gott-Engel-Mensch und Witz-Ernst-Sonnen-Nacht-Künstler Mozart. Die FAZ macht sich Sorgen um Europa nach dem Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine. Die Welt hofft, dass Angela Merkel uns aus der von Gerhard Schröder verursachten Schopenhauerschen Willenlosigkeit herausholt. Und in der SZ spricht Daniel Barenboim über sein israelisch-palästinensisches Orchester.

Zeit, 05.01.2006

Das gesamte Feuilleton verehrt, feiert und umjubelt Mozart, dessen 250. Geburtstag am 27. Januar unaufhaltsam näherrückt.

Ein "Mann wie Schießpulver": Claus Spahn beschreibt die explosive Mischung, die Mozart in sich vereinigt hat: "Mozart ist ein Einfach-Schwieriger. Ist ein Kind-Gott-Engel-Mensch. Ist ein Witz-Ernst-Sonnen-Nacht-Künstler. Ist ein Bewahrer-Vollender-Erneuerer. Ist ein Salzburger-Wiener-Deutscher-Europäer." Aber: "Mozart war kein dialektisch in sich verknoteter Eierkopf. Seine künstlerischen Absichten hat er mit großer Geradlinigkeit verfolgt, und seine Musik ist von bestechender Klarheit. Wie man es auch dreht und wendet, das Dilemma bleibt bei allen Zuschreibungen gleich: 'Gemeint und geschissen ist zweyerlei' (Mozart)."

"Für mich ist dieses verniedlichende Mozart-Bild, dass er schöne Musik für schöne Anlässe geschrieben hat, ein Albtraum", bekennt in einem Interview der Regisseur Peter Sellars, der im Herbst das Mozart-Festival "New Crowned Hope" mit Künstlern aus aller Welt in Wien ausrichten wird. "Mozart war einer der klügsten und gebildetsten Köpfe seiner Zeit. Ein Intellektueller an der Spitze seiner Generation, die ein Europa ohne Könige vor Augen hatte. Diese Generation hat die Vision von einem neuen Europa ohne autokratische Herrschaft zum Leben erweckt, bewusst und wagemutig."

Der Pianist Maurizio Pollini erklärt in einem Interview, warum er bisher so wenig Mozart gespielt hat: "Sie erinnern sich vielleicht an den Satz von Wilhelm Kempff: Die Sonaten von Mozart sind zu leicht für Amateure und zu schwer für professionelle Musiker. Vielleicht ist das der Grund... Ich glaube man kommt Mozart eher mit zunehmenden Alter näher. Vielleicht weil man die Subtilität von Mozarts Musik erst richtig zu schätzen weiß, wenn man ein erwachsener Musiker ist."

Weiteres: Der niederländische Schriftsteller Maarten 't Hart erzählt, wie er "Mozartianer" wurde ("Wenn es auf Erden überhaupt etwas gibt, das vollkommen ist, dann KV 488"). Volker Hagedorn besucht den umtriebigen Sammler von Mozart-Kostbarkeiten, der tatsächlich Jürgen Köchel heißt. Christof Siemens besichtigt Mozarts Geburtsstadt Salzburg, die versucht, mit den Feiern in Wien Schritt zu halten. Der Musikwissenschaftler Ulrich Konrad erklärt, warum die "Kleine Nachtmusik" so berühmt geworden ist. Jens Jessen will in Mozarts Musik überhaupt nichts vollendet Klassisches entdecken, sondern vor allem "höchst eigenartige Experimente". Thomas Assheuer feiert die Oper "La Clemenza di Tito" als Lehrstück über "die Macht der Ohnmacht".

Im Literaturteil feiert Hubert Winkels Martin Amis' Familienchronik "Hauptsachen". Im Dossier befasst sich Roland Kirbach mit dem Verkauf von Millionen Sozialwohnungen an internationale Investmentfonds, mit dem die deutschen Städte den "Traum vom humanen Wohnen" verraten haben. Und im Leben unterhält sich Georg Diez mit dem amerikanischen Schriftsteller Bret Easton Ellis über schnellen Sex, schnellen Ruhm und dessen neues Buch "Lunar Park".

NZZ, 05.01.2006

Peter Kraut freut sich über die Reunion der berüchtigten Industrial Band Throbbing Gristle, die aber ihren bösen Humor abgelegt zu haben scheint. Dickes Lob vergibt Annalis Leibundgut an die Macher der Ausstellung "Ägypten, Griechenland, Rom" im Frankfurter Städel, die auf "höchstem Niveau" das Beziehungsgeflecht zwischen den antiken Kulturen zu entwirren versucht.

Besprochen werden außerdem die Schau frühitalienischer Bildwerke "Reunion" in der Londoner National Gallery, die Jessye-Norman-Collection (auf der die Dive Kurt Malisch vor allem als Liedinterpretin überraschte), eine Gesamteinspielung der Bamberger Symphoniker und Bücher, darunter Edgardo Cozarinskys Erzählungen "Die Braut aus Odessa", Alex Capus' Roman "Reisen im Licht der Sterne" sowie ein Hörbuch mit Texten von Hanns Dieter Hüsch (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 05.01.2006

Sehr politisch heute, das FAZ-Feuilleton: Im Aufmacher schreibt Kerstin Holm über Russland nach dem Gasstreit mit der Ukraine: "Als Präsident Putin jetzt .. zum Jahreswechsel den russischen G-8-Vorsitz antrat, empfahl er sein Land als Garant einer zuverlässigen Energieversorgung für Europa. Parallel dazu brach des Kremls Ehepartner Gasprom jenen Preispoker vom Zaun, welcher im Winter und im Vorfeld des ukrainischen Parlamentswahlkampfes einem 'kalten Krieg' mit energiewirtschaftlichen Mitteln ähnelte. Für die zuverlässige Energiepartnerschaft, wie sie nicht zuletzt die Ostseepipeline unter des deutschen Exkanzlers Oberaufsicht bekräftigen soll, sind das rote Alarmlämpchen. Nach der europäischen Philosophie soll die Energiepartnerschaft Russland nach Westen einbinden. Doch warum soll nicht Russland ein Europa einzubinden versuchen, das sich von russischen Ressourcen abhängig macht?"

Weitere Artikel: Paul Ingendaay beschreibt die sich verschärfende Auseinandersetzung zwischen katalanischen Regionalisten und dem spanischen Zentralstaat. Ludger Fittkau hat einer Veranstaltung über Sterbehilfe am Rande eines Kongresses zum Thema "Anti-Aging" beigewohnt und dort erfahren, dass Frauen häufiger als Männer von aktiver Sterbehilfe Gebrauch machen wollen, was ihn dazu veranlasst, Sterbehilfe als "beklemmende Form eines Anti-Aging-Präventivschlags" zu beschreiben. Der Wirtschaftsforscher Gert G. Wagner greift in die Debatte um die Notwendigkeit einer neuen Volkszählung ein, die er aber abstreitet, weil zuverlässiges Datenmaterial auch in anderer Weise zu bekommen sei. Und in der Leitglosse amüsiert sich Heinrich Wefing über den Fall eines Berliner Denkmalschützers, der wegen Korruption bei der Restaurierung der Reiterstatue des Alten Fritz Unter den Linden angeklagt wurde.

Auf der Filmseite interviewt Peter Körte den Filmregisseur Sam Mendes, dessen Kriegsfilm "Jarhead" auf Seite 1 des Feuilletons von Verena Lueken recht kühl besprochen wird. Patrick Bahners gratuliert Diane Keaton zum Sechzigsten. Und Michael Althen erklärt uns, warum wir auch dieses Jahr kaum noch ins Kino gehen müssen: Hollywood liefert sowieso nur Remakes.

Auf der Medienseite schreibt Werner Linster in der Reihe "Stimmen" eine Hommage auf die legendäre ägyptische Sängerin Oum Kalsoum.

Auf der letzten Seite berichtet Thomas Seibert von der Hilfsorganisation medico international über Sri Lanka ein Jahr nach dem Tsunami. Andreas Platthaus mokiert sich über eine Internetabstimmung, welche die heutigen sieben Weltwunder definieren soll. Und Gerhard Rohde porträtiert den Cellisten Lucas Fels, der beim Arditti Quartett die Position Rohan de Sarams übernimmt.

Besprochen werden eine Ausstellung über Rock in der DDR in Bonn und die Ergebnisse eines deutsch-israelischen Comicprojektes.

Welt, 05.01.2006

Auf den Forumsseiten konstatiert Reinhard Mohr, dass sich mit dem Pragmatismus der Angela Merkel der lange Abschied vom "alten deutschen Glauben" vollende, dass Politik etwas Grundlegendes ändern könne: "Schröder hat für sie ungewollt die (Drecks-)Arbeit der radikalen Desillusionierung erledigt. Nun glaubt fast niemand mehr an irgend etwas, was die Politik verspricht. Die rot-grüne Achterbahnfahrt hat eine tiefsitzende politische Erschöpfung, eine fast Schopenhauersche Willenlosigkeit hervorgebracht, die nun zum Fundament eines erneuerten Pragmatismus werden kann, der aus dem Keller kommt. Oder durch die Hintertür. Dass in diesen Wochen neue Hoffnung aufkeimt in Deutschland, ist nicht nur eine Ironie der Geschichte, sondern auch logisch konsequent. Frei nach Hölderlin: Wo der Pessimismus ist, wächst der Optimismus auch."

Im Feuilleton verkündet Hans-Arthur Marsiske hoffnungsfroh den Beginn des solaren Zeitalters: "Vielleicht haben mit dem Beginn des Weltraumzeitalters nicht nur das Feuer und die Schriftkultur ihre Daseinszyklen vollendet, sondern auch unsere bisherigen Formen des Wirtschaftens. Die historische Leistung des Kapitalismus bestand darin, immer größere kollektive Kräfte zu bündeln und die kulturelle Beschleunigung auf die Spitze zu treiben - bis zum Sprung ins All. Damit könnte die kapitalistische Mission aber auch erfüllt sein."

Peter Dittmar berichtet, dass der norwegische Millionär Fred Olson bei Sotheby's Munch-Gemälde versteigern lässt, die sein Vater einst von Nazis zum Schnäppchenpreis ergatterte. Michael Pilz kündigt das neue Album "Akustik Sessions" der Hamburger Band Kante an, das nicht auf Tonträger, sondern nur als MP3 auf Download-Plattformen erscheint: "Damit darf Kante sich als erste deutsche, an die Plattenindustrie gebundene Popband feiern, die CD-Märkte auf diese Weise ignoriert."

Besprochen werden Sam Mendes' Golfkriegsfilm "Jarhead", Dean Parisots Bankräuber-Komödie "Dick und Jane" und Richard Claus' "enttäuschende" Verfilmung von Cornelia Funkes "Herr der Diebe".

FR, 05.01.2006

Inspiriert vom koreanischen Klonfälscher Hwang meditiert Harry Nutt über Fälschungen, Desinformation und Unübersichtlichkeit. Stefan Schickhaus gratuliert dem Pianisten Alfred Brendel zum 75. Geburtstag. In der Kolumne Times Mager gelingt es Daniel Kothenschulte, in einem akrobatischen Gedankenlooping Orson Welles und das Berliner Stadtschloss zusammenzudenken.

Besprochen werden die Ausstellung "Schrumpfende Städte 2" in Leipzig, Sam Mendes' Film "Jarhead", Sally Potters Film "Yes", (den Sascha Westphal als "avantgardistisches Experiment und großes filmisches Welttheater" feiert) und Nicolas Vaniers Dokumentarfilm "Der letzte Trapper".

TAZ, 05.01.2006

Das Unglück von Bad Reichenhall deutet Clemens Niedenthal in der zweiten taz als Symbol für den Niedergang des Vertrauens in Staat und Politik. "Letztlich egal, was die Archäologen dieser Katastrophe nun als eigentliche Unfallursache ermitteln werden, das Krisenthermometer zeigt es bereits an: Es ist die schützende Hand der Gemeinschaft, der man nicht mehr so recht trauen mag... Und so mag man auch in der Bewegung der Katastrophe selbst eine letzte Metapher sehen: Die Halle knarzte oben im Gebälk. Das schützende Dach wurde zur tödlichen Last."

Im Feuilleton: Dirk Knipphals hat den Fragekatalog für die Einbürgerung muslimischer Antragsteller gelesen und findet ihn entwürdigend. Ansonsten dreht sich alles um Film: Anke Leweke schreibt über Andreas Dresens Berlin-Film "Sommer vorm Balkon" und seinen der Realität verpflichteten Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase ("Berlin-Ecke Schönhauser", "Solo Sunny"). Nicole Hess hat Sally Potter (mehr hier) zu ihrem neuen Film "Yes" befragt - ein Film in Versen, eine Putzfrau gibt den Chor. Besprochen werden Southan Morris' Dokumentarfilm "George Michael - A Different Story" und Zhang Yangs Film "Badehaus".

Schließlich Tom.

SZ, 05.01.2006

Joachim Kaiser ist nach Berlin gefahren, um mit Daniel Barenboim über dessen israelisch-palästinensisches Orchester, das "West-Eastern Divan Orchestra" (mehr) zu sprechen. "Als wisse er nicht, wie provokant seine Analogie wirken könnte, erklärt Barenboim die Sache so: Mit der Mischung aus Beständigkeit und gewählten Neuzugängen in seinem Orchester verhalte es sich etwa so 'wie beim Orchester in Bayreuth'. Doch müssen junge Palästinenser oder Ägypter nicht viel Courage aufbringen, wenn sie es wagen, sich mit einem prominenten Israeli zusammenzutun? Von irgendwelchen familiären Zwängen wisse er nichts, sagt Barenboim, gesellschaftlichen Druck aber gebe es schon. Dem seien auch die Israelis ausgesetzt, wenn sie sich dafür entscheiden, mit Arabern zu musizieren. Ein gravierendes Problem scheint das für Barenboim nicht zu sein. Stolz sagt er: 'Mit dem Feind zusammenzuleben (bei Konzertreisen) und zusammen zu musizieren, das ist eine existentielle Erfahrung.' Jeder, der sie mache - und das gelte auch für ihn selber - erfahre dabei eine beträchtliche Veränderung."

Im Pop gibt es wieder Freaks, freut sich Karl Bruckmaier. "Überall erscheinen wieder Platten von politisierten Kollektiven: Freak-Reste wie Godspeed You Black Emperor oder Silver Mount Zion, die sich im kanadischen Abseits in Abbruchhäusern herumgedrückt hatten, erhalten Verstärkung, die sich gar als Hitparaden-kompatibel erweist: Ein Konzert von Arcade Fire aus Toronto ist ein euphorisierendes Erlebnis, ein kollektiv abgebranntes Feuerwerk, abgebrannt von quasi anonymen Teilnehmern am Gesamtvergnügen, die in ständig wechselnden Besetzungen die Bühne entern, die Bühne verlassen, dass nach zwei Stücken jedermann den Überblick verloren hat und der notorisch namensversessene New Musical Express 'den Typen mit dem Motorradhelm' in seine Jahresliste der coolsten Menschen auf diesem Planeten mit aufnehmen muss."

Weiteres: Christiane Schlötzer berichtet, dass der künstlerische Leiter der diesjährigen Kulturhauptstadt Europas, Patras, der Komponist und Ex-Kulturminister Thanos Mikroutsikos, seinen Posten fluchtartig verlassen hat, weil die Regierung die versprochenen Gelder nicht bereit gestellt hat. Für Stefan Koldehoff wirft die als "Scoop" angekündigte Auktion von einigen Edvard-Munch-Gemälden Fragen auf. Die Bilder waren von den Nazis als "entartete Kunst" an den norwegischen Sammler und Reeder-Erben Fred Olsen verkauft worden (mehr hier). "Wer beherrscht den Menschen?" ist die offizielle Frage des Jahres, wie Andrian Kreye aus dem amerikanischen Online-Forum edge erfährt. Fritz Göttler präsentiert die neueste Kritik an Steven Spielbergs Olympia-1972-Film "Munich". Christina Maria Berr gratuliert dem Leipziger Aktfotografen Günter Rössler zum achtzigsten Geburtstag.

Auf der Filmseite unterhält sich Anke Sterneborg mit Nadja Uhl und Inka Friedrich, den Hauptdarstellerinnen von Andreas Dresens neuem Film "Sommer vorm Balkon", dem Marina Knoben eine "angenehme Leichtigkeit" bescheinigt.

Besprochen werden weiter Dean Parisots Komödie "Dick und Jane", Sally Potters neuer Film "Yes" ("All die Kunstgriffe, die in ihren Filmen bisweilen künstlich und prätenziös wirkten ... schaffen hier eine wunderbare Poesie", schwärmt Anke Sterneborg.) und Bücher, darunter Peter Müllers Band über die Ostberliner Zentrumsplanung "Symbolsuche", von dem Jens Bisky meint: "Wer über den Berliner Schlossplatz redet, muss dieses Buch kennen!" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages)