Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.01.2006. In der Welt empfiehlt Daniel Goldhagen den Türken, sich die Deutschen zum Vorbild zu nehmen. In der FAZ kommentieren Amos Oz und David Grossman die Lage in Israel. In der NZZ erklärt Laszlo Földenyi, wie sich die Ungarn erinnern, indem sie vergessen. Die SZ bringt einen Schwerpunkt zum Thema Überwachen und Strafen.

Welt, 07.01.2006

Der Fall Orhan Pamuks, gegen den ein Prozess geführt wird, weil er den Völkermord an den Armeniern beim Namen nannte, bewegt Daniel Goldhagen zu einem offenen Brief an die türkische Regierung. Darin schreibt er sich zehn Jahre nach "Hitlers willigen Vollstreckern" das Verdienst an der deutschen Vergangenheitsbewältigung zu, die er nun aber vorbildlich genug findet, um sie den Türken zur Nachahmung zu empfehlen: "Sich der Diskussion zu stellen, wahrhaftig mit den historischen Verbrechen der eigenen Landsleute umzugehen und Reparationspflichten zu leisten, ist schwer, verschafft den Menschen und ihrer Nation aber ausschließlich Ansehen. Ließe sich ernsthaft behaupten, daß Deutschland, die führende europäische Nation, wohl gelittenes Mitglied der europäischen und der internationalen Gemeinschaft und von vielen als Vorbild erachtet, aufgrund seiner Wahrhaftigkeit Schaden genommen hätte? Haben Deutschlands Beziehungen zu anderen Ländern je darunter gelitten, daß Deutschland seine historischen Verbrechen bereitwillig anerkannt hat? Hat es die deutsche Wirtschaft geschwächt? Blüht die deutsche Kultur nicht mehr?"

Weitere Artikel in der Literarischen Welt: Cora Stephan schreibt über den Briefwechsel ihrer Eltern aus der Kriegszeit, über den sie demnächst einen Roman veröffentlicht. Norbert Kron fragt: "Was hinterlassen uns Dichter, wenn sie ihre Manuskripte nur noch auf dem Computer schreiben?" Christoph von Wolzogen erinnert an Emmanuel Levinas, der am 12. Januar hundert Jahre alt würde. Roger Köppel bespricht Joachim Radkaus Biografie über Max Weber. Tilman Krause spricht Klartext.

Im Feuilleton schreibt Marianne Hoffmann zur Malerei von Frank Bauer (Bilder). Matthias Heine kommentiert die Rückkehr Fritzi Haberlandts nach Berlin. Und mehrere Artikel sind dem Kunstmarkt in der Österreich und der Schweiz gewidmet.

TAZ, 07.01.2006

Markus Metz und Georg Seeßlen erzählen eine Geschichte der Migrationsgeschichten im deutschen Kino - von Fassbinders "Katzelmacher" bis zum Endpunkt, der derzeit erreicht scheint: "Vielleicht sind alle Migrationsgeschichten erzählt, vielleicht aber hat der Blick eine Genauigkeit auf das Subjekt angenommen, die bereits die Möglichkeiten der Kinofabel überfordert. Überdies ist in der polymigrantischen Gesellschaft des Neoliberalismus die Geschichte der Migration nicht mehr in einer linearen Dramaturgie zu erzählen, so wenig es einen Blick der Entdeckung aus dem Fremden heraus noch geben könnte: Wir und sie, Mainstream und Migration, dieser Code und jener Code, das funktioniert nur noch in einem unlösbaren Geknäuel. Was immer man ansieht, befragt, möglicherweise sogar anklagt, es antwortet auf die immer gleiche Weise: Tut mir Leid, ich bin hier selber fremd."

Weitere Artikel: Gerrit Bartels beschreibt den Siegeszug der zum Douglas-Konzern gehörenden Buchhandlungs-Kette Thalia, die soeben den Konkurrenten Gondrom aufgekauft hat. Auf der Themen-des-Tages-Seite findet sich ein kurzes Porträt des diesjährigen Jury-Präsidenten in Cannes, des Hongkong-Regisseurs Wong Kar-Wei.

Besprochen werden Bouli Lanners Film "Ultranova" und Bücher, darunter Hanns-Josef Ortheils neuem Roman "Die geheimen Stunden der Nacht". (Mehr in der Bücherschau des Tages.)

In der zweiten taz kommentiert die Schauspielerin Renan Demirkan im Interview mit Gegenfragen den Muslim-Test der baden-württembergischen Einwanderungsbehörde: "Wie kann das sein - dass eine derart genuin faschistoide Herrendenke in diesem Land wieder Fuß fassen konnte?!" In der Welt wird der Test dokumentiert.

Fürs taz mag unternimmt David Denk einen Streifzug durch Berliner Eckkneipen. Aus Buenos Aires berichtet Oliver Wegner von der Geschichte des deutschsprachigen "Argentinischen Tageblatts", das eine 116-jährige Geschichte (in Familienbesitz), aber keine Zukunft hat. Im Interview plädiert der aus dem Sudan stammende, in den USA lehrende Jurist Ahmed An-Na'im dafür, die Scharia für das Recht nicht zu ignorieren. Christina Kretschmer nimmt den derzeit in deutschen Kinos laufenden Dokumentarfilm über Townes van Zandt zum Anlass für ein Porträt des Musikers.

Und schließlich Tom.

FAZ, 07.01.2006

Wer war Ariel Scharon? Das fragen sich zwei israelische Autoren. Für Amos Oz war Scharon immer "ein Mann der Muskeln", der alles symbolisierte, "was ich an meinem Land nicht ertragen kann: die gewalttätige Selbstgerechtigkeit, eine Mischung aus Brutalität und Selbstmitleid, den unersättlichen Hunger nach Land und eine mystisch-religiöse Phraseologie, die mir immer heuchlerisch erschien". Die Verwandlung, die vor zwei Jahren dazu führte, dass Scharon die Siedlungen, die er selbst aufbauen half, niederreißen zu lassen, stimmt Oz kaum milder. Denn eines habe Scharon "nie vermocht, nicht einmal, als er den Gazastreifen bis auf den letzten Zoll räumte. Er setzte sich nie wirklich mit den Palästinensern zusammen, um mit ihnen zu sprechen, wie Nachbarn miteinander sprechen oder auch nur wie ein Pate sich nach langer Fehde mit dem anderen zusammensetzt."

Für David Grossman ist er der Mann, der die Israelis verhexte. "Schließlich hatte sich Scharon in den Augen eines Großteils der israelischen Bürger in erstaunlich kurzer Zeit von einem der meistgehassten und gefürchtetsten Männer zum angesehenen, hochgeschätzten und sogar beliebten Staatsmann gewandelt, gewissermaßen zu einem großen, autoritativen Vater, dem sie blind zu folgen bereit waren, wohin immer er sie führen würde ... Wer dieses Rätsel löst, gewinnt tiefen Einblick in die israelische Seele, ihre Stärken und Schwächen, in die verborgenen jüdischen Ängste, die Scharon so geschickt anzufachen wusste, um dann ihre Linderung und Lösung zu versprechen, und er verstand die israelische Begeisterung für Stärke, die dem Wunsch entspringt, der ständigen Demütigung des armseligen, machtlosen Diasporajuden zu entkommen, der stets auf den guten Willen anderer angewiesen war."

Weitere Artikel: Heinrich Wefing freut sich, dass Schloss Bellevue nach aufwändiger Renovierung wieder vom Bundespräsidenten bezogen werden kann. Heinrich Detering stellt sein Lieblingsmärchen vor: Den "Butt" von Günter Grass. In der Reihe "Klassiker der Comic-Literatur" porträtiert Andreas Platthaus den Comiczeichner Robert Crumb. Jürg Altwegg berichtet, dass Francois Mitterand zehn Jahre nach seinem Tod endlich sein Lebensziel erreicht hat: "Er hat in der Gunst der Franzosen de Gaulle überholt." Jürgen Dollase grübelt in Matthias Buchholz' Berliner Restaurant "First Floor" über den Unterschied zwischen weltläufiger und beliebiger Küche. Jürgen Kesting schreibt zum Achtzigsten der Sopranistin Evelyn Lear und L.J. zum Sechzigsten von Hadayatullah Hübsch.

In der ehemaligen Tiefdruckbeilage zeichnet Susanne Klingenstein die Lebenswege des ehemaligen Kaufhaus-Magnaten Salman Schocken und seines Auktionators Ernst Hauswedell nach, und Arnold Esch erzählt - von Humboldt zu Wilhelm II. - eine Geschichte der deutsch-italienischen Nähe und Entfremdungen.

Auf der Medienseite berichtet Tilmann Lahme von einem Aufstand der Sportjournalisten gegen ihren Verband: "Die Abtrünnigen, angeführt von Jens Weinreich, Sportchef der Berliner Zeitung, werfen dem VDS und insbesondere dem Verbandsblatt Sportjournalist einen unreflektierten Umgang mit dem Berufsbild des Sportjournalisten und Unterdrückung kritischer Töne vor. Statt dessen sei der Verband ein 'Veranstalter von Sommerfahrten und Skatturnieren', der über 'das Ergebnis eines Wettbewerbs im Smarties-Weitspucken' berichte, nicht aber über relevante sportpolitische Themen" wie Doping oder Schmiergeldaffären. Die Unzufriedenen haben bereits ein Internetforum eingerichtet.

Besprochen werden Sally Potters Film "Yes" ("Ein Film wie ein Gedicht", findet Michael Althen), die Ausstellung "Schrumpfende Städte - Interventionen" in Halle und Leipzig sowie Bücher, darunter die Gedichte von William Butler Yeats, Anthony Doerrs Debütroman "Winklers Traum von Wasser", Magdalena Kösters Buch "Brillante Bilanzen", in dem fünf Unternehmerinnen porträtiert werden, und Jochen Schimmangs Erzählband "Auf Wiedersehen, Dr. Winter" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Schallplatten- und Phono-Seite stellt Eleonore Büning kurz "die neuesten Recyclingpäckchen zum Mozartjubiläum 2006" vor. Edo Reents fragt sich, ob Ryan Adams vielleicht zu viele Platten macht. Besprochen werden eine Einspielung von Johann Georg Conradis Bürgeroper "Die schöne und getreue Ariadne" und Beethovens Streichquartette Es-Dur op. 127 und a-Moll op. 132, aufgenommen vom Hagen Quartett.

In der Frankfurter Anthologie stellt Wolf Wondratschek ein Gedicht von Ernst Jandl vor: "liegen, bei dir".

FR, 07.01.2006

Den Auftakt zu einer Begleitserie der Veranstaltungsreihe "Frankfurter Positionen" (Website) macht ein Text von Linda M.G. Zerilli über die Aktualität des "repräsentativen" Denkens von Hannah Arendt: "Arendt zufolge können reflektierende, kritische Urteile nur gefällt werden, nachdem man die diversen Perspektiven anderer Menschen einbezogen hat. Diesen Versuch, anderen Perspektiven Rechnung zu tragen, nannte sie 'repräsentatives Denken'. Dabei geht es weder um eine umfassende 'Einfühlung', also den Versuch, jemand anderes zu sein, noch darum, irgendeine Mehrheit zu ermitteln und sich dieser anzuschließen. Während in diesen beiden Fällen lediglich unsere eigenen Vorurteile durch die der anderen ersetzt würden, meint Arendt ein repräsentatives Denken, bei dem es gelingt, 'ohne die eigene Identität aufzugeben, einen Standort in der Welt einzunehmen, der nicht der meinige ist'."

Weitere Artikel: Matthias Dell kommentiert eine Studie, die zu dem Ergebnis kommt, dass im Osten die Rechte als Jugendkultur nicht mehr attraktiv ist. Er warnt jedoch: "Nicht jeder, der rechtsextreme Einstellungen teilt, bekennt sich auch zu diesen, wenn er befragt wird." Martina Meister berichtet vom Pariser Buchhandlungssterben. Über Vera Knolles Lecture-Performance "I didn't mean to hurt you", die sich als eine Hommage an den Tanzkünstler Xavier Le Roy entpuppte, schreibt Jutta Baier. In ihrer Bonanza-Kolumne meditiert Karin Ceballos Betancur über Rauchen und Nichtrauchen in Spanien.

Besprochen werden die Installation "Wunderbar sagte Wladimir" der Künstlerin Antje Schiffers und eine Ausstellung mit griechisch-katholischen Ikonen aus den polnischen Karpaten im Frankfurter Ikonenmuseum.
Stichwörter: Arendt, Hannah, Hurts

NZZ, 07.01.2006

In Literatur und Kunst eröffnet Laszlo Földenyi mit einem sehr schönen Essay das Jahr des Gedenkens an den Ungarn-Aufstand. Die Ungarn hätten eine seltsame Art sich zu erinnern, indem sie vergessen, schreibt er: "Amnesie als Heilmittel des Überlebens. Das Nicht-Erinnern als eigentümliche, ungarische Variante der Erinnerung. Ein Ausländer gewinnt in Ungarn schnell den Eindruck, dass, obwohl sich einerseits alle mit der Vergangenheit, den Wunden der Vergangenheit beschäftigen, sie andererseits davor zurückzuscheuen scheinen, der Vergangenheit ins Auge zu blicken - als bedrückte sie das, worin sie sich Tag für Tag verfingen."

Weitere Artikel: Daniel Jütte unternimmt eine Spurensuche nach dem Vorbild von Lodovico Settembrini aus Thomas Manns "Zauberberg" und begibt sich dazu in das Zürcher Sanatorium Bircher-Benner und in das Jahr 1909 sowie zu einem italienischen Heine-Kenner. Angela Schader untersucht die literarischen Annäherungen von Colm Toibin und David Lodge an Henry James.

Besprochen werden Bücher, darunter eine "wenig überzeugende" Textdokumentation zum tschechischen Kubismus, Heinrich Deterings Studie zum jungen Thomas Mann "Juden, Frauen und Litteraten" und Drago Jancars Erzählband "Luzias Augen".

Im Feuilleton erklärt der Wiener Essayist Franz Schuh, wie Wien ihn umtreibt: "Das Wichtigste in meinem Leben ist Wien, ein kurzes und leichtes Erdbeben hat Wien erschüttert, man kann nicht sagen, ob weitere Erdstöße zu erwarten sind, es war am Tag nach dem Tag der Arbeit, als ich den Satz 'Das Wichtigste in meinem Leben ist Wien' hinschreiben gehen wollte, um dann weiter fortzusetzen mit dem Satz: Wenn ich mir dabei zusehe, wie ich 'Das Wichtigste in meinem Leben ist Wien' hinschreibe, dann, ja was dann."

Besprochen werden eine Ausstellung zu David Teniers in der Kunsthalle Karlsruhe und Bücher, darunter ein Band von Hanna Krall, "Eine ausnehmend lange Linie", Patrick Symmes' Buch "Reiseziel Che Guevara" und zwei Bücher über Europa von Adolf Muschg und Silvio Vietta (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 07.01.2006

Ein zweiseitiger Schwerpunkt ist dem Thema "Überwachen und Speichern" gewidmet. Der Althistoriker Valentin Groebner stellt dabei fest: "Die Erzählungen von drohender allgegenwärtiger Überwachung sind vielleicht deshalb so populär, weil sie ziemlich alt sind. Die Kristallkugel oder der magische Spiegel, in dem der König alles sehen kann, was in seinem Reich geschieht, erschien im 11. Jahrhundert in der mirabilia-Literatur."

Bernd Graff sieht in der Gegenwart die Phantasie des Rasters vorherrschen: "Für dieses rasternde Denken ist Realität eine komplexe Fülle von Daten, die es zu sammeln und zu differenzieren gilt, damit das Individuum als markante Spur darin aufscheint." Gerhard Matzig weist darauf hin, dass der öffentliche Raum "ohne Kontroll- und Machtstrukturen noch nie vorstellbar gewesen" ist. Über Datenschutz-Diskussionen in anderen europäischen Ländern informiert Johan Schloeman, mit Überwachungsphantasien im Kino befasst sich Fritz Göttler. Alex Rühle denkt über das Problem der Auswertung all der Daten nach und die Künstlerin Rena Tangens ("Art d'Ameublement") spricht im Interview über "Datenkraken, Widerstand und Schilys Lebenswerk".

Weitere Artikel: Andrian Kreye stellt das ungeheuer erfolgreiche Faszinosum "Cirque du Soleil" (Website) vor, dessen jüngste 185-Millionen-Dollar Produktion "Ka" derzeit in Las Vegas zu sehen ist. Dem Karikaturisten Luis Murschetz gratuliert Johannes Willms zum Siebzigsten.

Besprochen werden Franz Reichles Film "Monte Grande" über das Leben des Neurobiologen Francisco Varela. und Bücher, darunter Robert Gernhardts "Gesammelte Gedichte". (Mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr.)

In der SZ am Wochenende schreibt der Schriftsteller Andrzej Stasiuk über die westliche Welt, die in den Osten kommt: "Und so zog die Welt hier ein, Atome unbekannter, unvorstellbarer Körper kreisten und ließen ferne Existenzen ahnen. Paris - London - New York. Hausfrauengestalten vom Kurfürstendamm, Räume, die vor kurzem noch von den straffen Bewegungen schokoladenfarbiger Mädchen aus Nizza erfüllt waren, Wolle und Tweed, in alle Ewigkeit durchdrungen vom Geruch der feuchten Luft über der Themse; in den Taschen Krümel von Gott weiß was - jemand hatte in Belgien oder Holland etwas hineingesteckt und es nicht wieder herausgenommen, und so waren sie hierher gelangt, wo der Himmel fast an die Karpaten stößt und aufhört."

Weitere Artikel: Kai Strittmatter findet, dass wir türkisch lernen sollten, die "am wenigsten übersetzte ernstzunehmende Literatursprache". Ijoma Mangold porträtiert Heidelberg als Stadt Stefan Georges.