09.01.2006. Abschied von einem Titan: Die Figur Ariel Scharons beschäftigt Tom Segev in der Welt, Natan Sznaider in der NZZ und Moshe Zimmermann in der SZ. In der FR rät Peter Fuchs von der Folter in der Demokratie ab. Die FAZ hört unter Schmerzen das Kulturradio in Berlin. Die taz sieht die Pornografisierung gelassen.
NZZ, 09.01.2006
Der israelische Soziologe
Natan Sznaider erklärt die moralische Dialektik, die
Ariel Sharon zum meistgehassten Politiker Israels gemacht hat: "Er war das Alter Ego dieses Landes, eine Projektionsfigur, an der sich die
Moralisten der Welt abarbeiten konnten.
Er war ihr Gegenteil. Während die israelischen Friedenstauben ihre Hände in Unschuld wuschen, machte der 'Fanatiker' Sharon seit 1948 für sie die Dreckarbeit. Es gibt wenige Staaten, die ihre Existenz so sehr der internationalen Moralität verdanken wie Israel. Die Verurteilung des Holocaust und des ihn begründenden Antisemitismus verdankt ihre Kraft einer Revolution der
globalen Moralität. Jenseits der zionistischen Bemühungen der Juden, sich selbst als Nation zu definieren, hat die jüdische Nation ihre internationale Legitimation durch diese weltweite Verurteilung erhalten. Die Verankerung von Israels staatlicher Legitimität in der globalen Moralität des Anti-Antisemitismus impliziert, dass dieser Staat mit höheren moralischen Maßstäben gemessen wird als andere Staaten. Das ist die Existenzgrundlage des
Anti-Sharonismus."
Peking-Korrespondent Urs Schottli
begutachtet, was der Modernisierungsprozess
China bisher gebracht hat und konstatiert, dass trotz Abwesenheit einer rechtsstaatlichen Ordnung "für die große Masse der Bevölkerung eine
erhebliche Verbesserung der Rechtslage eingetreten ist. Das China des Jahres 2005 lässt sich, was die Rechtssicherheit der Menschen betrifft, auf keine Weise mehr mit dem China des Jahres 1976 vergleichen. Wie bei der europäischen Emanzipation aus dem Feudalismus, so gilt auch für die Volksrepublik China, dass mit der Institutionalisierung des Rechtsschutzes für das Privateigentum die zentrale Voraussetzung für den Wandel vom Untertan zum Bürger geschaffen worden ist.
Unter Mao waren die Chinesen
de facto und de iure Sklaven, hilf- und rechtlos der Willkür des Staates ausgeliefert"
Weiteres: Felix Philipp Ingold
beschreibt, wie
James Joyce nach Jahrzehnten sowjetischer Verfemung nun wieder in Russland publiziert wird. Besprochen wird
Sam Mendes' "abgründig-lakonischer"
Kriegsfilm "Jarhead".
FR, 09.01.2006
Peter Fuchs
spielt en detail durch, was passieren würde, wenn die
Folter hierzulande erlaubt und damit öffentlich wäre, und kommt zu dem Schluss, dass das in einer Demokratie nie und nimmer funktioniert. "Wie kann man den
allfälligen Rummel vermeiden oder wenigstens kanalisieren? Darf es um das Foltergebäude herum Imbissbuden geben? Darf
Merchandising betrieben werden? Dürfen Kirchenglocken während der Folterphasen geläutet werden? Ist am Ort des Geschehens selbst Product-Placement erlaubt? Oder passende Werbe-Einlagen? Für Erfrischungsgetränke,
Schmerztabletten, Knoblauchpillen, Hygieneprodukte? Während der Werbepausen dürfte, nehmen wir an, nicht weitergefoltert werden. Vielleicht kann man auch, wie es üblich geworden ist,
Preisfragen an die Zuschauer da draußen im Lande richten."
Weiteres: In Times mager
kritisiert Peter Iden den Rückzug der Universität aus dem Frankfurter
Institut für Sexualwissenschaft (
mehr) als Verrat am Grundgedanken der Lehre. Auf der Medienseite
stellt Harald Keller
Unterrichtsmaterial von RTL vor, mit dem der Sender Schüler über den Unterschied von Fiktion und Wirklichkeit aufklären will.
Eine
Doppelbesprechung widmet sich
Igor Bauersimas Stück "Oh die See" am Deutschen Schauspielhaus sowie
Tom Kühnels und
Jürgen Kuttners "Jasagen und Neinsagen" am Thalia Theater in Hamburg.
Rezensiert wird auch
Andrea Breths Wiener Inszenierung von
Albert Ostermaiers Theatermonolog "Nach den Klippen" am Schauspiel Frankfurt.
Welt, 09.01.2006
Der israelische
Historiker Tom Segev nimmt Abschied vom "letzten Titan"
Ariel Scharon. Über die Räumung des Gaza-Streifens schreibt er: "Als Militär musste Scharon mehr als einmal
unhaltbare Stellungen räumen, um so eine andere Front zu festigen. Die Räumung Gazas erfolgte einseitig, eigenmächtig, ohne Rücksichtsnahme auf die Palästinenser, als würde es sie gar nicht geben. Sie zielte auf die Beibehaltung des Westjordanlandes ab. Niemand wusste, wohin Scharon den Konflikt nach den Wahlen noch geführt hätte. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass er wusste, wie eine Kompromisslösung mit den Palästinensern zu erreichen wäre. Doch was auch immer seine Motive waren. Scharon zeigte den Israelis, dass Siedlungen räumbar sind - ohne dass der
Himmel niederstürzt."
Weitere Artikel: Rainer Haubrich
feiert David Chipperfields Literaturmuseum der Moderne als einen Glücksfall für das
Deutsche Literaturarchiv in Marbach. Berthold Seewald
liest Neuerscheinungen zur Figur des Religionsstifters
Zarathustra ("Schon der ältere
Plinius behauptete, Zarathustra sei der erste Mensch gewesen, der bei seiner Geburt gelacht habe - was sowohl als Ausweis für
Klarsichtigkeit als auch für
diabolischen Charakter gedeutet werden kann.") Matthias Heine
schreibt über den kommenden Abriss der beiden Boulevardtheater Theater und Komödie am Kurfürstendamm. Dankwart Guratzsch
nutzt die Katastrophe von
Bad Reichenhall zu einem Plädoyer für das
Steildach ("Verlieh das Steildach dem Be-Hausen den Charakter der
Beständigkeit, Dauer und Solidität und schenkte es dem Wohnen Geborgenheit wie unter einem beschirmenden Rücken, so sagt der Verlust dieses Zeichens viel über die Unbehaustheit des modernen Menschen aus.")
Besprochen wird
Igor Bauersimas "Odyssee"-
Adaption am Hamburger Schauspielhaus.
Im Forum
analysiert Niall Ferguson (
"Das verleugnete Imperium") die zwiespältige Lage im Irak: "Die USA gewinnen insoweit, als der Irak bislang zwei Wahlen und ein Referendum abgehalten hat. Doch verlieren sie auch, weil die Demokratie die Gräben zwischen Schiiten, Kurden und Sunniten offenlegt. Es endet nicht mit einem
demokratischen Frieden, sondern einem
demokratischen Krieg, weil die Kurden für Unabhängigkeit zu den Waffen greifen und die Sunniten dasselbe tun, um ihre Vorherrschaft über die bevölkerungsstärkeren, ölreichen schiitischen Provinzen zu sichern."
FAZ, 09.01.2006
Trotz brachialer
Popularisierung des Programmschemas, ist die Quote beim
Kulturradio in Berlin von
1,4 auf 1 Prozent gesunken, die Sendezeit für die
Neue Musik wurde um sechzig Prozent gekürzt, und der zuständige Redakteur nach einem idiotischen Streit gefeuert,
berichtet Eleonore Büning. Und so hört sich ein Morgen auf dem Kulturradio heute an: "Der erste Satz aus Beethovens erster Symphonie wird
falsch geblendet. Der Gastkritiker spricht die Frühkritik mit einem
S-Fehler. Er teilt über eine Uraufführung des Vorabends mit, das Stück sei mal 'ein bisschen schneller, mal ein bisschen langsamer' gelaufen, was die wahnsinnig forsche, unheimlich frische und völlig ahnungslose Moderatorin locker nimmt, denn es kann vorkommen, dass sie auch ein Orchesterstück von Bach mit einer Violinsonate von Mozart verwechselt, und, hoppla,
niemand merkt's. Ansagen fallen offenbar aus Prinzip weg, Absagen sind kurz, meist unvollständig, manchmal falsch und immer
irgendwie egal..."
Der Strafrechtler und Rechtsphilosoph
Walter Grassnick freut sich, dass der Prozess gegen
Ackermann und Co. zur Revision zugelassen wurde und kritisiert den hessischen Ministerpräsidenten
Roland Koch, der Ackermann in Schutz nahm: "Roland Koch hätte besser daran getan, vollen vaterländischen und landesväterlichen Herzens zu flehen: 'Erbarmen mit der
Deutschen Bank!' Die mit einem Chef geschlagen ist, der
Gelder veruntreut. Und dann auch noch mit einem Aufsichtsratsvorsitzenden, der dem ungetreuen Ackermann das
uneingeschränkte Vertrauen ausspricht."
Weitere Artikel: Christian Geyer
beschwert sich in der Leitglosse über den inflationären Gebrauch des Wörtchens "
okay". Paul Ingendaay beschwert sich, dass die Wagen des
Dreikönigsumzugs selbst in der spanischen Provinz inzwischen von
Traktoren, statt von Eseln gezogen werden. Ingeborg Harms liest
deutsche Zeitschriften.
Für die
Medienseite besucht Josef Oehrlein die Redaktion der kubanischen Staatszeitung
Granma, die angesichts immer
älterer Redakteure ihrem Namen immer gerechter wird. Und Michael Hanfeld konstatiert: "
Springers Fusion hat vor dem Kartellamt keine Chance", denn "wenn nach dem 20. Januar nicht umgehend ein Antrag auf eine Ministererlaubnis folgt, kann sich
Haim Saban nach neuen Käufern für
Pro Sieben Sat.1 umsehen."
Auf der
letzten Seite berichtet die sudetendeutsche Autorin
Barbara von Wulffen beglückt von einer neuen Offenheit der Tschechen für ihre ehemaligen Mitbürger. Lorenz Jäger berichtet, dass die
britische Polizei sehr viel mehr "genetische Fingerabdrücke" von
schwarzen Briten als von Briten anderer Rassen gesammelt hat (
hier der Artikel aus dem Guardian, der Jäger inspirierte). Und Dieter Bartetzko staunt über die kroatische Skiläuferin
Janica Kostelic, die bei einem Slalom
Stock und Handschuh verlor, ihr Rennen aber nicht unterbrach und auf den
dritten Platz kam.
Besprochen werden eine umfassende
James-Ensor-Retrospektive in der
Schirn, das
Videospiel "Rome - Total War" (mehr
hier) und Neuerscheinungen aus der akademischen Welt (siehe unsere
Bücherschau ab 14 Uhr).
TAZ, 09.01.2006
In der zweiten
taz besucht Jan Feddersen den Sexualforscher
Gunter Schmidt, der sich natürlich gegen eine Schließung des Frankfurter
Instituts für Sexualwissenschaft (
mehr) ausspricht. Die derzeitig allseits beklagte Pornografisierung der Gesellschaft sieht er dagegen gelassen. Sie habe eher zu einer "
Zivilisierung des Sexuellen" geführt. "Der Blick - stumpfer, der Reiz - nicht mehr auf das körperliche Signal allein verlegt, der Umgang mit den Signalen gelassen. Was zähle, sei mehr und mehr die Liebe selbst. Ein
romantisches Konzept dominiere den Sex, viel stärker als die Kulturkritik glauben möchte: "Weniger pathetisch: Die feste Beziehung hat die Sexualität fest im Griff, bei Jungen wie bei Alten, bei Männern wie bei Frauen".
Im Feuilleton
sekundiert Klaus Walter mit Betrachtungen zum
Pornogeschäft, angeregt durch die Autobiografie der einschlägigen Darstellerin und selbsternannten Feministin
Jenna Jameson. Sie "liefert präzise Details über die sexuellen Qualitäten von Marylin Manson (gut ausgestattet, einfühlsam, analfixiert) und Mötley Crues
Tommy Lee (rabiat, unermüdlich, schwanzgesteuert). Mit der Gewinnergeste einer Selfmade-Frau, die sich hoch gestrippt und hoch gefickt hat, bezeichnet sich Jameson als
Feministin. Inzwischen hat sie die Kontrolle über ihre Produktionen und kann es sich gegen jede Branchenlogik leisten, vor der Kamera nur noch mit einem einzigen Mann Sex zu haben - ihrem eigenen."
Außerdem
würdigt Harald Fricke den Sänger
Lou Rawls, der Jazz, Gospel, Soul und Pop verband und nun im Alter von 70 Jahren verstorben ist. Im Medienteil
annonciert Bettina Schuller "
Queer as Folk" auf ProSieben, die erste aufwändig produzierte Fernsehserie mit Homosexuellen als Protagonisten.
Besprochen werden
Igor Bauersimas "wenig durchdachtes"
Odysse-Musical "Oh die See" am Deutschen Schauspielhaus Hamburg,
Stefan Chwins "merkwürdig aufgeladener"
Roman "Der goldene Pelikan", der
Bildband über zeitgenössische Kunst "
art now vol. 2" aus dem Taschen Verlag sowie die
Gedanken zu "Form und Formen der Kommunikation" des Systemtheoretikers
Dirk Baecker (mehr in unserer
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).
Und
Tom.
SZ, 09.01.2006
Ariel Sharon ist in den vergangenen Jahren nicht vom Saulus zum Paulus geworden, schreibt der
Historiker Moshe Zimmermann. Sharon zog sich aus pragmatischen Gründen zurück und wurde unbeabsichtigt zum Reformer. "Wenn ausgerechnet der Vertreter der sturen israelischen Rechte per se die Idee von '
ganz Israel' aufgibt, gleich aus welchen taktischen Überlegungen, ist das ein Signal für die gesamte Gesellschaft: Land (auch von
Eretz Israel) für Frieden ist legitim. Mental und politisch ist das der eigentliche Durchbruch, die Verwandlung. Als Nebengewinn dieses Verwandlungsprozesses wäre auch die Bloßstellung der
Schwächen der israelischen Demokratie zu verzeichnen. Das autoritäre Verhalten Scharons legte die Mängel des israelischen Parteiensystems bloß und führte paradoxerweise zu Reformen. Die Direktwahl des Ministerpräsidenten, die Scharon 2001 an die Macht brachte, wurde bereits abgeschafft. Das dubiose 'Primaries'-System wird jetzt mit dem Austritt Scharons aus der eigenen,
suizidsüchtigen Likud-Partei eingeläutet."
Klaus Englert stellt das 147-Millionen-Euro Projekt "
Paseo del Arte" vor, mit dem Madrid seine Museen vernetzen und so etwas wie die Berliner Museumsinsel schaffen will.
Herzog & de Meuron geben dem "CaixaForum", das in einem
Elektrizitätswerk von 1900 residiert, eine neues Gesicht. "Sie belassen lediglich die Klinkerfassaden der Einfriedung und türmen die neue Kunsthalle, das Caixa-Forum, wie ein
Gebirgsmassiv auf, das sich beim Aufstieg vom Paseo del Prado in die Altstadt drohend über den angrenzenden Häuserzeilen erhebt. Herzog & de Meuron stellen das Gebäude auf Stelzen und lassen darunter einen öffentlichen Platz frei. Bewusst setzen sich die Schweizer von Nouvels leichter und transparenter Architektur ab; sie verstehen ihre Kunsthalle als Anordnung
tektonischer Massen, die in ihrer körperlichen Präsenz spürbar bleiben sollen."
Weiteres: Der Fall der italienischen Journalistin
Giuliana Sgrena, deren Befreier im Irak von amerikanischen Soldaten erschossen wurde und deren Buch "
Friendly Fire" heute in Deutschland erscheint, könnte noch zu amerikanisch-italienischen Komplikationen führen, schätzt Stefan Ulrich. Volker Breidecker ruft zum Protest gegen die finanzielle Austrocknung des Frankfurter
Instituts für Sexualwissenschaft (
mehr) auf, das nicht mehr zeitgemäß sei. "Es steht einer biologisierten und ökonomisierten Medizin im Wege, für die sich Sexualität im banalen
Tun oder Lassen der Geschlechtsorgane erschöpft." Fritz Göttler sieht
Ang Lees Western
"Brokeback Mountain" immer noch auf Oscarkurs, auch wenn die "National Society of Film Critics"
Bennett Millers Literatenporträt
"Capote" den Vorzug gegeben hat (
hier die Nominierungen der vergangenen Jahre). Klaus Dermutz erinnert an den polnischen Regisseur, Maler und Theoretiker
Tadeusz Kantor (1915-1990) und sein berühmtes "Theater des Todes". Kantor sind derzeit Veranstaltungen in Krakau, Leipzig und Erlangen gewidmet. Günter Kowa feiert die Restaurierung der Orgel von
Zacharias Hildebrandt in Sotterhausen.
Im Medienteil geht Klaus Ott davon aus, dass sowohl das Bundeskartellamt als auch die KEK Springers Kaufabsichten von
ProSiebenSat1 ablehnen. "Es könnte also zu einer
Woche des Nein für Springer werden."
Besprochen werden die Ausstellung "Female" mit Bildern von Marlene Dumas in der
Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden,
Igor Bauersimas Rockoperversion der "Odyssee" am Hamburger Schauspielhaus ("Das hat sogar Udo Lindenberg schon besser gemacht", schimpft Christine Dössel.),
Richard Claus' "nie eindringlicher" Film "Herr der Diebe" nach einer Romanvorlage von Cornelia Funke,
David Böschs "dümmlich-affektive" Inszenierung von Marivaux' "Der Streit" im Züricher Schauspielhaus, und Bücher, darunter die abschließenden Bände zweier Religionslexika, der 36. Band der "
Theologischen Realenzyklopädie" und der achte Band des Handwörterbuchs für "Religion in Geschichte und Gegenwart",
Thomas Otts in Schabkartontechnik gefertigter Comic "Cinema Panopticum" sowie
Fjodor Dostojewskis Roman "Der Spieler" als Hörspiel (mehr in der
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).