07.02.2006. In der SZ beschreibt Gustav Seibt den Kulturkampf im Zeitalter der mobilen Kommunikation. In der taz ruft der gefürchtete Anwalt Jony Eisenberg: Schluss mit der frechen Vereinnahmung des öffentlichen Raums durch die Religiösen. Die NZZ berichtet, dass sich Nagib Machfus der religiösen Zensur unterwirft.
NZZ, 07.02.2006
Der ägyptische 94-jährige
Romancier und Literaturnobelpreisträger
Nagib Machfus will beim Nachdruck seines seit 1959 in Ägypten verbotenen Werks "
Die Kinder unseres Viertels" auf das Placet der religiösen Autoritäten warten. Fakhri Saleh
weiß außerdem von Machfus' Wunsch, "dass ein führender Vertreter der
Muslim-Bruderschaft eine Einleitung zur ägyptischen Ausgabe des Romans verfassen solle. Schon 2001 hatte Machfus der Hoffnung Ausdruck gegeben, dass ein geachteter ägyptischer Kleriker das Buch rehabilitieren möge; im selben Jahr meinte er in einem Interview mit dem
Wochenmagazin von
Al-Ahram, das Buch habe 'in der Vergangenheit so viele Umtriebe verursacht, dass nun keine Notwendigkeit besteht, es zu veröffentlichen'."
In einem offensichtlich schon vor einiger Zeit geführtem Gespräch mit Irene Binal
betont der Autor
Salman Rushdie, dass die arabischen Gesellschaften nicht nur aus Radikalen bestehen. "Letztlich muss man erkennen, dass der Westen und die muslimische Welt
keine Monolithen sind, die einander bekämpfen. In beiden Welten gibt es interne Auseinandersetzungen."
Besprechungen widmen sich der
Uraufführung von
Aulis Sallinens "
Kullervo" unter Dieter Kaegi im Stadttheater Bern und Büchern wie
Steve Tesichs "wunderbarem"
Adoleszenzroman "Ein letzter Sommer" (mehr in unserer
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).
Welt, 07.02.2006
Die Kanadierin
Irshad Manji, Visiting Fellow an der Yale University,
fragt im Forum, warum man über Muslime
keine Witze machen können soll? "Wir Muslime sind nicht integer genug, Respekt für unseren Glauben einzufordern, wenn wir dies nicht auch anderen gegenüber tun. Wann haben wir jemals dafür demonstriert, dass es Christen und Juden erlaubt sein sollte,
Mekka zu betreten? Wenn es um Geschäfte geht, dürfen sie kommen, aber nicht mehr. Solange
Rom jeden Nicht-Christen willkommen heißt, wie
Jerusalem auch jeden Nicht-Juden, gilt es für uns Muslime, gegen mehr zu protestieren als gegen Karikaturen."
Außerdem auf den Forumsseiten: Dietrich Alexander
porträtiert den islamischen Fernsehprediger Scheich
Yussuf Mustafa al-Kardawi. Ulf Poschardt
trägt angesichts der wütenden Proteste im Nahen Osten die Nase hoch: "Die Überlegenheit des Westens speist sich aus der Kraft, weitgehend
affektfrei zu agieren."
Im Feuilleton
erzählt Hanns-Georg Rodek die Geschichte vom Ende der
X-Filme - jedenfalls mit
Tom Tykwer,
Wolfgang Becker und
Dani Levy. Die Firma, die die drei zusammen mit dem Produzenten Stefan Arndt gegründet hatten, ist in den Strudel des Untergangs von
Senator-Film geraten. Jetzt habe sie eine neue Firma gegründet:
Y-Filme. Hans-Peter Raddatz
schreibt über das
Bilderverbot im Islam und informiert, dass es auch in der islamischen Welt zahlreiche Darstellungen von Mohammed gibt. Vom Westen ganz zu schweigen: "Das bekannteste dieser Bilder ist
Dantes Fresko 'Mahomet in der Hölle' am Dom von Bologna, das aber erst in unserer Zeit zum Stein des Anstoßes und sogar Ziel eines geplanten Bombenanschlags wurde." Peter Dittmar
berichtet, dass dem in einem Straflager sitzenden
Michail Chodorkowski gerade "fünf Tage
Karzer aufgebrummt" wurden. Er hatte sich eine Sammlung von Gesetzestexten über die Rechte von Strafgefangenen schicken lassen, die der Gefängniszensor als
verbotene Literatur einstufte. Michael Pilz
singt ein Loblied auf die Band
Tomte.
Besprochen werden
Claus Guths Inszenierung von Verdis "Simon Boccanegra" an der Hamburgischen Staatsoper,
Peter Steins Inszenierung von Tschaikowskys "Mazeppa" an der Oper Lyon, eine
Ausstellung über
unterdrückte Literatur in der DDR im Literaturhaus Berlin, George Taboris
Inszenierung von
Becketts "Warten auf Godot" am Berliner Ensemble.
TAZ, 07.02.2006
Einige Artikel widmen sich wieder den
Karikaturen. Der gefürchtete Rechtsanwalt
Jony Eisenberg ruft in
tazzwei: "Die Karikaturen sind eine Reaktion auf den
brutalen Einfluss des Religiösen außerhalb seines Sprengels. Wer die Bilder kritisiert, muss zuvor die öffentlichen Räume von den Insignien und
frechen Vereinnahmungen der Religiösen befreien.
Überall!"
Auf der
Tagesthemenseite bringt der Islamwissenschaftler Gernot Rotter allen, die es nicht gewusst haben sollten, in Erinnerung: "Vor Jahren habe ich bereits gewarnt, dass sich
Samuel Huntingtons These vom 'clash of civilizations' zur einer
self-fullfilling prophecy entwickeln könne und habe auch darauf hingewiesen, dass Huntington, ohne sich dessen offenbar bewusst zu sein, im Grunde nur das vorhersagte, was islamistische Apologeten schon lange forderten: den Kampf der Muslime gegen den gottlosen, materialistischen, sexistischen (weniger den christlichen) Westen."
Auf der
Meinungsseite bestreitet Jan Feddersen, dass die Karikaturen anti-islamisch seien: "Die Karikaturen zeugen von
Achtung, von Aufmerksamkeit und dem Willen zur Auseinandersetzung." Und im Feuilleton
erklärt Dirk Knipphals nochmal, wie
Meinungsfreiheit funktioniert: "Dieses Grundrecht macht nur dann Sinn, wenn gerade auch die
Übertretungen, die Ausrutscher und Fauxpas mitverteidigt sind."
Im
Kulturteil werden die
Ausstellung "Frankfurter Positionen" mit Werken
Wolfgang Tillmans' und seiner Klasse,
George Taboris Inszenierung von "Warten auf Godot" im Berliner Ensemble und
Thomas Thiemes Inszenierung von "Dantons Tod" in Bochum besprochen. Isolde Charim
stellt sich in der Debatte über die neue Bürgerlichkeit die schwerwiegende Frage: "Können Leute mit
bürgerlichen Lebensformen noch
Linke sein?"
In der
tazzwei porträtiert Jan Feddersen den Schauspieler
Gustav Peter Wöhler. Auf der Meinungsseite
wundert sich Claus Leggewie: "In den USA wird die Wahl eines neuen Richters für das
Oberste Gericht öffentlich diskutiert. Hier dagegen mauscheln das CDU und SPD aus, eine breite Debatte fehlt."
Schließlich
Tom.
FR, 07.02.2006
Marcia Pally liest den baden-württembergischen
Fragebogen für Einwanderungswillige aus amerikanischer Perspektive und kommentiert: "Wozu die ganze Aufregung? Liest man sich den Fragebogen durch, sieht man doch gleich, dass er den Prinzipien unserer christlichen US-Regierung treu ist, die
mildtätigem Regierungshandeln in aller Welt Vorbild und Maßstab bietet."
Theaterkritiker Peter Michalzik
fühlt sich durch die jüngsten Ereignisse an
Shakespeare erinnert: "Ein winziger, marginaler Anlass, wie die Frage nach der Liebe in 'König Lear', das Taschentuch in 'Othello' oder die Karikaturen in einer dänischen Zeitung, erzeugt einen
gigantischen, welterschütternden Aufruhr."
Besprochen werden weiter die
Aufführung von
Verdis "Simon Boccanegra" unter Simone Young an der Hamburger Staatsoper,
Thomas Thiemes Inszenierung von "Dantons Tod" in Bochum und die
Ausstellung zum Berliner Medienkunst-Festival
"Transmediale".
SZ, 07.02.2006
Auf der
Meinungsseite beschreibt Gustav Seibt den
Kampf der Kulturen in den letzten Tagen als "Zusammenprall von emotionalisierten Öffentlichkeiten auf einer globalen Bühne", und dieser Zusammenprall wird durch die moderne Kommunikationstechnik nur noch explosiver: "Der Nährboden von Gerüchten, Wahnvorstellungen und Verschwörungstheorien, wie sie den Nahen Osten beherrschen, ist die Verbindung von Unfreiheit mit
millionenfacher privater Kommunikation, die globalisierte Flüsterpropaganda unter den Bedingungen jüngster Technik. Die unfreie öffentliche Meinung ist eine halbierte öffentliche Meinung, die sich so wenig steuern lässt wie die freie Öffentlichkeit, nur dass sie unendlich viel
irrationaler ist."
Der palästinensische Autor
Hassan Khader begreift im Feuilleton die angeblich spontanen Demonstrationen als reine Manipulationen: "Es geht im wesentlichen darum, wie die
arabischen Herrscher - in ihrem Versuch, ihre Regime zu retten - die Identität ihrer Untertanen auf die
Religion reduzieren, als ob diese keine Identität jenseits der Religion hätten, als ob die reichen Traditionen arabischer Kultur nichts zählten. Deshalb erscheint die derzeitige Kampagne allem religiösem Eifer zum Trotz so banal und so diesseitig."
Weitere Artikel: Der Filmproduzent
Günter Rohrbach macht zum Auftakt einer Serie über die Lage des
deutschen Kinos die zu geringe
Gebührenerhöhung bei den Öffentlich-rechtlichen Sendern, die verhinderte Fusion von
Springer und
Pro7 Sat 1 sowie die Sparpolitik in den Ländern für die Krise des deutschen Kinos verantwortlich - dennoch sieht er Hoffnung: "Sie ruht in den
Filmen selbst, ihrer Qualität, ihrer wachsenden Reputation, auch und gerade jenseits der Grenzen. " Hermann Unterstöger stellt die
Initiative Lebendiges Deutsch vor, die gegen die "größten Albernheiten der deutschen
Anglomanie" die Erfindung deutscher Wörter setzen will. Als erstes sucht man deutsche Pendants zu "Homepage, Shareholder value und Countdown". Joachim Kaiser erinnert an den Rundfunkredakteur
Peter Lämmle. Kia Vahland verfolgte die Tagung "Topos Atelier" in Hamburg. Und Gottfried Knapp freut sich über die Restauration des Schaezler-Palais in Augsburg.
Auf der
Literaturseite meldet Jens-Christian Rabe, dass der Autor
Alban Nikolai Herbst eine Romanfigur versteigert hat. Werner Bloch besucht den Autor
Carlo Fruttero in Turin, wo demnächst die Winterolympiade stattfindet. Und Henning Klüver schildert den ungewöhnlichen Erfolg der Aktion "Eine Stadt liest ein Buch" in Mantua, wo sich Tausende auf die Spuren der Helden von
Emilio Salgari (1862-1911) begaben.
Besprochen werden
Giuseppe Verdis "Simon Boccanegra" unter
Simone Young in Hamburg,
Thomas Thiemes Inszenierung von "Dantons Tod" in Bochum, der Stummfilm "Kindergesichter" von
Jacques Feyder auf DVD und ein Klavierabend
Jewgenij Kissins mit Beethoven und Chopin in München.
FAZ, 07.02.2006
Antisemitismus gibt es im
Iran kaum, behauptet Christiane Hoffmann, langjährige Iran-Korrespondentin der
FAZ, zum israelisch-iranischen Verhältnis. "Mit der schärfsten
antiisraelischen Polemik - Chomeini sprach von Israel als einem 'Krebsgeschwür' - ging stets die Versicherung von Freundschaft und Hochachtung für die '
nicht-zionistischen' Juden einher: 'Der Islam behandelt die Juden genauso wie andere Gruppen der Nation. Sie sollten
nicht unter Druck gesetzt werden. Es sind die Zionisten, die gegen die Lehren von Moses verstoßen', so Chomeini. Trotz eines bedeutenden Exodus unter der Islamischen Republik hat Iran heute mit etwa 30.000 Juden noch immer die größte jüdische Gemeinde im Mittleren Osten. Ein Sitz im nationalen Parlament ist für einen
jüdischen Abgeordneten reserviert."
Aufgemacht wird mit einer
Karikatur von
Ralf König zum Karikaturenstreit. Dazu referiert Kerstin Holm Debattenbeiträge aus dem russischen Fernsehen. Edo Reents war bei der Sitzung des
Zentralrats der Muslime (
mehr), auf der der neue Vorsitzende Ayyub Axel Köhler bestätigt wurde.
Jürgen Kaube
sagt dem Sonderberichterstatter der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen
Vernon Munoz, der sich demnächst die sozial zu undurchlässigen deutschen Schulen ansieht, schon mal, woran es mangelt - Standards und Strenge. Felicitas von Lovenberg setzt sich in
Wilhelm Genazinos Frankfurter Poetikvorlesung. Heinrich Wefing skizziert den Rückbau des Berliner
Palastes der Republik. Der Verdrängungskampf, dem die Geisteswissenschaften ausgesetzt sind, wird durch die
Exzellenzinitiative noch verstärkt, fürchtet Axel Michaels. In der Leitglosse belauscht Christian Geyer Sabine Christiansen und Friedbert Pflüger beim freundlichen Vorgespräch.
Auf der letzten Seite bestimmt Dietmar Dath mit Hilfe der Mayas den Tag, an dem die Welt untergehen wird: am 21. oder
22. Dezember 2012. Gina Thomas stellt den umweltfreundlichen Millionär
Zac Goldsmith vor, der jetzt Umweltberater des konservativen britischen Parteiführers David Cameron ist. E. A. Richter hat die Romanfigur des
Kollegen Alban Nikolai Herbst ersteigert, meldet Hannes Hintermeier.
Im Medienteil
beschreibt Robert von Lucius die angespannte Situation bei der dänischen Zeitung
Jyllands-Posten. Die DVD-Seite hält unter anderem Rezensionen von
Michael Andersons "Sword of Gideon", eine zwanzig Jahre alten Verfilmung des Attentats auf den Olympischen Spielen von München und
Ingmar Bergmans "Schrei und Flüstern" bereit.
Besprochen werden Verdis späte Oper "
Simon Boccanegra" unter Simone Young und Claus Guth am Hamburger Opernhaus,
Christian Stückls Version des "Woyzeck" von Georg Büchner im Münchner Volkstheater sowie
Franz Fühmanns "Ruppiner Tagebuch" (mehr in unserer
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).