Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.02.2006. Die dänischen Karikaturen sind nach wie vor Thema Nummer 1. In der SZ analysiert Navid Kermani die Genese des Streits. In der taz gesteht Harald Schmidt, dass er sich Witze über den Islam nicht trauen würde. Und Bahman Nirumand berichtet über gemäßigte Stimmen im Iran. Die Welt fragt nach den Motiven des Aufrufs gegen Necla Kelek. In der FAZ jubelt Werner Spies über eine Bonnard-Retrospektive in Paris. Im Tagesspiegel spricht Klaus Theweleit über das meist erwartete Meisterwerk der Berlinale, Terence Malicks Film "The New World", den er als "kolonialistischen Soft-Porno" erlebte.

Welt, 08.02.2006

Etwas untergegangen angesichts des Karikaturenstreits ist das bizarre Pamphlet von sechzig bestallten Migrationsforschern gegen die Autorin Necla Kelek und ihr Buch "Die fremde Braut", das in der Zeit veröffentlicht wurde. Die Forscher, darunter Keleks Doktormutter Ursula Neumann, wollen mit diesem Frontalangriff eigene Versäumnisse kaschieren, meint Mariam Lau. "Auf die Frage, wo denn die wissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema Ehrenmorde seien, mit denen man belegen könne, dass Kelek übertreibt, musste Neumann allerdings passen. 'Man kann nicht zu allem forschen'. Sie selbst hat gerade jugendliche afrikanische Flüchtlinge beforscht und kommt zu dem Ergebnis, dass die Bundesrepublik sich hier große Versäumnisse zuschulden kommen lässt. Den Aufruf hat Ursula Neumann unterschrieben, 'weil es mich ärgert, wenn pseudowissenschaftliche Thesen zur Grundlage von Entscheidungen werden'."

Gerhard Charles Rump berichtet, dass Kunsthistoriker der National Portrait Gallery in London durch Freilegungen von Farbschichten das "Chandos-Porträt" William Shakespeares in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzten, so dass man heute genauer sagen kann, wie Shakespeare aussah. Uwe Schmitt porträtiert den singenden Schauspieler Jamie Foxx. Michael Pilz glossiert die Tatsache, dass Grammy-Favorit Kanye West für den Rolling Stone mit Dornenkrone als Jesus posiert. Büchersäufer Uwe Wittstock schmökert in Verlagskatalogen des kommenden Frühjahrs. Iris Alanyali schreibt über die ebay-Versteigerung einer Romanfigur durch den Autor Alban Nikolai Herbst.

Auf der Medienseite interviewt Christiane Buck den Al-Dschasira-Fernsehdirektor Wadah Khanfar, der erklärt, warum die dänischen Karikaturen für ihn nicht unter Meinungsfreiheit zu rubrizieren sind: "Wir respektieren zutiefst freie Meinungsäußerung. Es ist ein sehr wichtiges Gut, vor allem in der arabischen Welt. Aber diese Zeichnungen enthalten keine Information, offenbaren keine Meinung."

Im Forum porträtiert Hannelore Crolly die 30jährige Amerikanerin Marissa Ann Mayer, Produktchefin bei Google.

NZZ, 08.02.2006

Aldo Keel berichtet über Reaktionen dänischer Künstler auf den Karikaturenstreit. Thomas Leuchtenmüller erinnert an den Schriftsteller Henry Roth, der in diesen Tagen hundert Jahre alt geworden wäre. Besprochen wird eine Ausstellung über die traditionellen künstlerischen Beziehungen zwischen den Städten Rom und Siena im Palazzo Squarcialupi in Siena.

FR, 08.02.2006

In einem Essay interpretiert der Soziologe und Journalist Jörg Räwel den Karikaturenstreit nicht als Ausdruck eines "Kampfes der Kulturen", sondern als "Konflikt einer - nicht zuletzt durch das Internet - hochgradig integrierten Weltgesellschaft". "Der Moral lässt sich in der modernen Gesellschaft die Funktion zuweisen, in Frage gestellte Werte, Erwartungen, wie etwa nun einem Propheten Respekt zu erweisen, kurzfristig zu stabilisieren, trotz Enttäuschung durch Despektierlichkeit durchzusetzen. Dem Humor, in langfristig stabilisierender Perspektive einer konstitutiv instabilen Gesellschaftsform, sind auch religiöse Werte keineswegs sakrosankt."

Und in Times mager erinnert Hatty Nutt daran, dass "Huntingtons Wort vom 'Kampf der Kulturen' bereits ein ideologisches Theorem zu Grunde lag, das einen Zusammenstoß der Religionen weniger prophezeite als herbeisehnte."

Weitere Artikel: Oliver Herwig porträtiert das Münchner Architekturbüro Steidle, das das Olympiadorf in Turin gebaut hat. Stephan Schurr erzählt eine Geschichte über Thomas Bernhard, der in Niclassee eine mütterliche Freundin namens Carla Kluge hatte, bei der er immer unangemeldet klingelte und sich mit Kaffee und Komplimenten verwöhnen ließ. Schurr hatte Zugang zum Nachlass von Carla Kluge. Zu lesen ist außerdem ein Nachruf auf den Schauspieler Marquard Bohm.

Besprochen werden eine Ausstellung des Frankfurter Filmmuseums mit Porträts aus dem privaten Nachlass der Garbo und Bücher, darunter der Roman "Ergebenst, euer Schurik" von Ljudmila Ulitzkaja über die Prä-Perestroika-Ära, der Essayband "Der Felsen, an dem ich hänge" von Hans-Ulrich Treichel, Katrin Himmlers Demontage ihrer Familiengeschichte "Der schreckliche Heinrich", eine brillante Biografie des ersten US-Präsidenten George Washington von Joseph J. Ellis (hier eine Leseprobe), die Wiederauflage von Jaroslav Haseks Satire "Geschichte der Partei des gemäßigten Fortschritts im Rahmen des Gesetzes", und in Pars pro toto stellt Rudolph Speth zwei Publikationen über Nutzung des Erfahrungswissens und die Weiterbildung älterer Menschen vor. (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

TAZ, 08.02.2006

In der tazzwei erklärt Harald Schmidt in einem Interview, warum er keine Witze über den Islam macht: "Man muss nur ein bisschen wachsam sein. Sie brauchen die nötige Portion Feigheit. Machen Sie doch lieber Witze über Bush, das ist ungefährlich. Insofern hat die westliche Zivilisation doch einige ganz großartige Errungenschaften hervorgebracht."

Weiteres zum Karikaturenstreit: Auf den Tagesthemenseiten berichtet Bahman Nirumand, dass im Iran eine Gruppe von Kulturschaffenden, Professoren und Politikwissenschaftlern in einem gestern in der Tageszeitung Schargh veröffentlichten offenen Brief geschrieben haben, "bei dem aktuellen Konflikt gehe es nicht um religiöse Inhalte, sondern um politische Provokationen. Manche Kräfte seien dabei, die gewaltsamen Ausschreitungen zum Vorwand zu nehmen, um daraus einen Kampf der Kulturen und Religionen hervorzuzaubern." Außerdem schreibt Reinhard Wolff über die Jyllands-Posten, die seit Ende der neunziger Jahre einen Rechtsruck gemacht habe. Und die neue taz-Kolumnistin Hilal Sezgin wirft der westlichen Öffentlichkeit vor, die gemäßigten Muslime in ihren Ländern zu vergrätzen.

Im Kulturteil fragt sich die Autorin Marcia Pally genervt, ob die Imame und die dänische Volkspartei wirklich so unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wer "die Bösen sind und wer zum Schweigen zu bringen ist". Andreas Hartmann besuchte ein Berliner Konzert des 1929 geborenen Pioniers der elektronischen Musik Jean-Jacques Perrey beim Club Transmediale Festival und unterhielt sich auch mit dem Künstler, der beinahe einmal mit und für Alfred Hitchcock gearbeitet hätte. Besprochen wird Lasse Halströms Film "Casanova".

Schließlich Tom.

Tagesspiegel, 08.02.2006

"Was will Malick?", fragt Klaus Theweleit indigniert, nachdem er das lang erwartete Entdecker-Epos "The New World" rund um das Indianermädchen Pocahontas und einen englischen Siedler gesehen hat. "Was der Film mit der 14-jährigen Kilcher anstellt, kommt in meinen Augen einer Kindesmisshandlung nahe. Sie findet statt in der schamlosen Abtastung ihres Gesichts in jenen Szenen, in denen der jeweils weiße Mann, John oder John, ihre Hände auf ihre Hüften legt, im Stehen in Schilf- oder Blumenfeldern, Malick seine Mozart-Platte auflegt, und die Kamera fährt hoch von der Hand auf der Hüfte und begrabscht, nach kurzem Aufenthalt in Busennähe, minutenlang das ausgesetzte Gesicht. Das 'unverdorbene' Mischlingsmädchengesicht wird transformiert in die Züge der 'mexikanischen' Edelnutte. Malicks Film mutiert zum kolonialistischen Soft-Porno."

SZ, 08.02.2006

Der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani untersucht im Aufmacher über den Karikaturenstreit die Genese eines Skandals, bei dem beide Seiten versagt hätten. "Die Mohammed-Karikaturen sind kein zweiter Fall Salman Rushdie. Es war Rushdies unveräußerliches Recht, die eigene islamische Kultur zu diffamieren ... Rushdie steht in einer langen Tradition von Literaten der islamischen Welt, die sich mit dem Islam anlegen. Viele von ihnen haben dafür mit Verboten, Verhaftungen oder gar ihrem Leben gebüßt (auch wenn die orientalische Geschichte nicht annähernd so viele Ketzer aufweist wie die europäische). Der dänischen Redaktion ging es um etwas völlig anderes. Hier wurde eine Minderheit im eigenen Land zu einer Reaktion provoziert, die zur Rechtfertigung dienen sollte, eben diese Minderheit noch weiter zu marginalisieren."

In einem Interview meint der libanesische Dichter Abbas Beydoun, dass die Ausschreitungen in Beirut vor allem innerlibanesische Ursachen habe, aber auch die heikle Beziehung der Muslime zum Westen reflektiere. Es sei eine Art "islamische Paranoia" entstanden.

Der irakische Schriftsteller Najem Wali kritisiert, dass sich Nagib Machfus für die Veröffentlichung seines in der arabischen Urfassung seit 47 Jahren verbotenen Romans "Die Kinder unseres Viertels" in Ägypten freiwillig der Zensur unterworfen habe; bei der Neuauflage, die künftig als "einzig rechtmäßige Ausgabe" gelte, handele es sich um eine "bereinigte, überarbeitete, man könnte auch sagen: zurechtgestutzte Fassung".

Weitere Artikel: Henning Klüver informiert über das Kulturprogramm in Turin im Vorfeld der olympischen Spiele (mehr hier). Henning Mankell gibt in einem Interview Auskunft über sein neues Buch "Kennedys Hirn", und Charlize Theron spricht ebenfalls in einem Interview über gleich drei neue Filme, in denen sie mitspielt. Ralf Dombrowski porträtiert anlässlich ihrer Deutschlandtour die algerische Sängerin Souad Massi. Bernd Graff berichtet über mögliche Köder, die die Filmindustrie Raubkopierern ins Netz legt. Ein Artikel gratuliert der Schauspielerin Elisabet Orth zum 70. Geburtstag. Und Rudolf Thome würdigt in einem Nachruf Marquard Bohm. Berichtet wird schließlich über die Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse, die jetzt vorliegt und laut Jury vor allem jüngere Autoren und Debütanten berücksichtigt.

Besprochen werden eine Ausstellung über die Möglichkeiten des Dokumentarischen in der heutigen Kunst im Münchner Haus der Kunst und eine Art "Antibiografie" über Leonardo da Vinci von Martin Kemp (siehe hierzu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 08.02.2006

So gut wie alle Hauptwerke Pierre Bonnards sind in der "überwältigenden" Retrospektive im wiedereröffneten Musee d'Art Moderne de la Ville de Paris anzutreffen, jubelt Werner Spies. "Er wolle, schrieb Bonnard, mit seiner Malerei die Stimmung wiedergeben, wenn man unvorbereitet einen Raum betrete." Besonders gefällt Spies die thematische Zurückhaltung. "Bonnard beschränkt sich auf intime Räume und immer wieder auf das Spiel im Badezimmer, dem Aquarium des Voyeurs. Wie phosphoreszierende Leuchtröhren liegen die Körper im Wasser."

Wolfgang Günter Lerch stellt die Ausnahmen des islamischen Bilderverbots vor und bemerkt ein Gefälle vom strengen maghrebinischen Westen in den miniaturenreichen indischen Osten. Das Spezifische des Westens sind nicht seine Werte, lehrt Dietmar Dath, sondern die umstandslose Aneignung von Technologie. Im Aufmacher ordnet Patrick Bahners den Geschichtswissenschaftler Paul Nolte, der heute als Professor für Neuere Geschichte am Friedrich Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin antritt, historisch ein. Richard Kämmerlings gratuliert dem österreichischen Schriftsteller Gert Jonke zum sechzigsten Geburtstag. Gerhard Rohde schreibt zum Tod des Komponisten und Musikverlegers Tilo Medek. Regina Mönch fürchtet, dass das Deutsche Historische Museum die Plakatsammlung des ehemaligen Berliner Zahnarztes Hans Sachs an die Erben zurückgeben muss, während sich "kdeu" freut, dass die Niederlande die Bilder der Sammlung Goudstikker an die Berechtigten herausgibt. In der Leitglosse hofft "G. St." nach dem Vortrag von Lessings Ringparabel, dass wahrer Glaube zu Toleranz und damit auch Karikaturenfestigkeit führt.

Im Medienteil stellt Thomas Purschke den IM "Wallstein" vor. Der bis zum Jahreswechsel als Ressortleiter Wirtschaft der Mitteldeutschen Zeitung beschäftigte Redakteur und ehemalige Journalistikdozent Rainer Gummelt soll über fünfzehn Jahre lang als "Eliteagent" für die Stasi spioniert haben. Außerdem meldet Jürg Altwegg, dass der französische Medienkonzern Hachette für 537 Millionen Dollar die Buchverlage des Konkurrenten Time Warner kauft.

Auf der letzten Seite sammelt Mark Siemons Pekinger Eindrücke vom griechisch-römischen Eklektizismus der chinesischen Oberschicht. Der ägyptische Schriftsteller Nagib Machfus hat die islamischen Autoritäten der Al-Azhar-Universität um Erlaubnis für den Druck seines seit 1959 in Ägypten verbotenen Romans "Die Kinder unserers Viertels" ersucht, weiß Hussain al-Mozany. Andreas Rossmann porträtiert den Geografen Alfred Philippson.

Besprochen werden eine Schau zu Theo Wijdeveld im Rotterdamer Architekturmuseum und Bücher, darunter Marta Kijowskas Spaziergänge durch "Krakau" und Michael Heckers Studie über den "Napoleonischen Konstitutionalismus in Deutschland" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Zur Berlinale gibt es eine zwölfseitige Beilage, in der Isabella Rossellini ein Hohelied auf ihren vor knapp hundert Jahren geborenen Vater singt. "Er wusste, dass die Kamera ein Instrument ist wie ein Stift."